Der Dozent(1)
Das Négligé
Von 1970 bis 1974 absolvierte ich in Magdeburg ein Fernstudium als Ökonompädagoge des Gaststätten- und Hotelwesens. So fuhr ich alle 4 Wochen 4 Tage zu den Konsultationen. Meine Mitstudenten kamen aus Rostock, Sonneberg, Dresden, Gotha, verteilt über die gesamte ehemalige DDR. Gerade mal 23 Jahre alt und seit zwei Jahren verheiratet, konnte ich manchmal nicht nachvollziehen, warum auf der Hinfahrt von einigen schon die Eheringe
vom Finger verschwanden und manche die Abende ausgiebig nutzten. Aber ich war fast die Jüngste im Bund und hatte damals noch meine Illusionen.
Wir gingen oft in kleinen Gruppen Essen, mussten uns ja selbst verpflegen und ich genoss es auch, mich an den gedeckten Tisch zu setzen und die Köstlichkeiten der Speisekarten zu genießen. Natürlich geschah das auch aus beruflichem Interesse und noch heute schmelze ich bei nun selbstgemachtem Heringssalat mit Halberstädter Wienern dahin und im Familien- und Freundeskreis habe ich viele angesteckt. Im Interhotel „International“ Magdeburg oder dem
Gewerkschaftshaus, in denen wir, je nach freien Zimmern, untergebracht waren, fanden wir uns abends auch oft noch in einem Zimmer zu einem Plausch zusammen, oder es ging in die nahegelegene Bar „Stadt Prag“, in der auf 3 Etagen mit 2 Kapellen während des Essens und auch danach für Abwechslung gesorgt war. Aber zu der Zeit verschwand ich dann meist klammheimlich nach dem Essen, denn Magdeburg war voll von geschiedenen und alleinstehenden Männern, wie es mir schien, die sich dort tummelten. Ich war nicht daran interessiert, den ganzen Abend „Hilfsangebote“ abzulehnen und ging eher selten mit.
In dieser Zeit gehörte es dazu, im langen Kleid auszugehen und die meisten hatten es auch immer im Gepäck, vor allem, wenn es mal wieder hieß: Gewerkschaftshaus ausgebucht. Die Bar im „International“ war einfach super und da wir alle aus der Gastronomie kamen, gab es für uns nie Probleme, bei Bedarf dort Plätze zu erhaschen. Wir sorgten immer für Stimmung, den nötigen Umsatz und die Bedienung brauchte sich auch um das Trinkgeld keine Sorgen zu machen. Das Einzige, was jeder Ober sofort wusste, wenn wir kamen, er brachte die frischen Blumen von den Tischen in Sicherheit. Ein Studienkollege aus Berlin hatte die
dumme Angewohnheit, alles, was nach frischen Blumen aussah, scheinbar als hors doeuvre (Vorspeise) in den Mund zu stecken und zu verspeisen. Nur der untere Teil der Stiele blieb im Wasser stehen. Bei jeder essbaren Blüte, die ich als Dekoration noch Jahre später auf einem Teller fand oder selbst dekorierte, musste ich schmunzelnd an ihn denken und sah im Kopfkino auch manch bösen Blick des Servicepersonals.
Luise, die aus Sonneberg stammte, hatte an diesem Tag Geburtstag und lud uns ein, mit ihr den Abend zu verbringen. Ich quälte mich seit Tagen mit den Überbleibseln einer Grippe herum und aus diesem Grund schon hatte ich kein
langes Kleid heimlich in meinen Koffer gezaubert. Viel lieber wäre es mir gewesen, mich abends ins Bett zu packen und auszukurieren, waren doch die Studientage sehr anstrengend und ich schleppte mich mühsam mit meinen schmerzenden Gliedern über den Tag. Doch da hatte ich die Rechnung ohne meine Mitstreiter gemacht. „Ohne dich gehen wir nicht feiern“, meinten sie. „Es macht immer so viel Spaß mit dir.“
Ja, gut, zu dieser Zeit hatte ich immer eine Menge Witze auf Lager und ein Stichwort genügte, um die passenden Anekdoten zu präsentieren. Guter Rat war teuer. Ich etwa im Kostüm in die Bar? In Minirock und Pulli? Nee, ganz
sicher nicht. Meine Senftenberger Mitstudentin, mit der ich mir ein Zimmer teilte, lachte und flüsterte mir, als die anderen überlegten, was sie mir von ihrer Garderobe leihen konnten, ins Ohr: „Ich hab da ne Idee, los, wir brauchen nur von der Rezeption ein Bügeleisen.“ Schon zog sie mich lachend mit sich davon. Mir stockte der Atem. Sie wollte mir doch nicht etwa von sich etwas geben? Evi war schon damals das, was ich heute „mehr als vollschlank“ nennen würde und ich steckte in einer Größe 38/40. Ich wollte doch nicht zum Maskenball! An der Rezeption holte Evi ein Bügeleisen und tat geheimnisvoll. Endlich, im Fahrstuhl,
ließ sie sich ihren Plan entlocken.
„Du hast doch so ein tolles Nachthemd“, meinte sie. Ja, ich hatte es mir als Négligé teuer gekauft. Es war lang, rot, hatte weiße Punkte, schön ausgeschnitten und mit zwei seitlich angebrachten Bändern unterhalb der Brust konnte man die Weite variieren und die Brustpartie mehr betonen. „Spinnst du?“ rutschte es mir heraus. „Ich geh doch nicht im Nachtkittel in eine Bar! Wenn das einer mitbekommt!“ Schon war sie dabei, die vom Zusammenlegen gezeichneten Knicke glatt zu bügeln und forderte: „Zieh an!“ Alles diskutieren half nicht und ganz ehrlich mir gefiel der Gedanke sogar auf
einmal. Ich wollte es ausprobieren, aber unter einer Bedingung: Sobald ich jemanden bemerkte, der dieses „Kleid“ als Négligé erkannte, würde ich schnurstracks auf mein Zimmer verschwinden und mich zu Tode schämen. Evis „einverstanden“ versöhnte mich. Jetzt aber schnell ins Bad, etwas aufhübschen, um die Grippespuren zu verdecken und los ging es, denn die anderen warteten schon. Innerlich zählte ich bis 10, dann schlich ich mit Evi auf den Flur hinaus zum Fahrstuhl. Plumps, die Gäste im Fahrstuhl schauten bewundernd. Nichts, was ahnen ließ, dass sie mein Négligé als solches erkannten. Meine
Absatzschuhe gaben mir Sicherheit, die trug ich ja täglich. Mit festem Schritt durchquerte ich mit Evi die große Hotelhalle, gespannt nach allen Seiten Blicke erhaschend. Nix. Wir näherten uns dem Eingang der Bar…….und ich stand in der weit geöffneten Tür, für fast alle Gäste gut sichtbar, zur Säule erstarrt. Keinen Schritt würde ich weitergehen, bevor mich nicht jeder gesehen hatte. Evi erschien es ewig. Dann erst überschritt ich die Schwelle und am Tisch angekommen, freuten sich die anderen, dass ich doch noch gekommen war. Bewundernd straften sie meine vorherige Aussage, ich hätte nichts Passendes zum Anziehen mit,
lügen. Evi und ich schmunzelten nur. Nun waren wir komplett. Ehe das Essen kam, lachten und scherzten wir, doch so richtig in Stimmung kam ich nicht. Alle, die mich zum Tanzen aufforderten, erhielten ein müdes Lächeln und eine dankende Absage. Nur einer, den ich vorher noch nie hier gesehen hatte, kam jedes Mal bei einer neuen Runde wieder und frug nach einem Tanz. Ich tanzte für mein Leben gern, aber seine bewundernden Blicke, die er auch zwischendurch immer wieder von seinem Platz an der Bar zu mir warf, waren mir nicht geheuer. Begriff er nicht, dass ich nicht gut drauf war? Genervt sah ich ihn an, als er mich wiederrum um einen Tanz
bat und ich fragte ihn, ob er mich nicht einfach nur in Ruhe lassen könne. Meine Mitstudenten beobachteten belustigt, wie ich mit ihm umging. Das kannten sie so gar nicht von mir. „Ich werde immer wieder kommen, bis Sie wenigstens einmal mit mir getanzt haben“, meinte er sehr selbstsicher. „Soll ich Ihnen meine Grippe vermachen?“, entgegnete ich. „Schenken Sie mir einen Tanz und ich lasse Sie in Ruhe“, erwiderte er gelassen. „Versprochen?“, vergewisserte ich mich und stand auf, um den Rest der nun schon weit fortgeschrittenen Runde mit ihm zu tanzen. Er war ein guter Tänzer und er hielt einfach meine Hand nach dem letzten Tanz fest und bat
darum, mit ihm an der Bar noch ein paar Minuten ein Glas zu trinken, dann hätte ich meine Ruhe vor ihm. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Stoßseufzer, der ihm meinen Unmut zeigen sollte, ging ich mit ihm zur Bar und hoffte, danach mich einfach in mein Zimmer absetzen zu können. „Was machen Sie hier in Magdeburg?“, wollte er wissen. Für solche Fälle hatte ich immer meine Standardantworten parat. „Strippenzieher bin ich, verheiratet und 2 Kinder warten zu Hause auf mich.“ So merkten sie schnell, dass ich kein Interesse an ihnen hatte. Aber in diesem Falle weit gefehlt. Meine Menschenkenntnis hatte mich wohl heute
ein wenig verlassen. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Das sieht doch eher nach einer Studiengruppe aus! Und wenn ich so richtig überlege, können nur Pädagogen so frech und abweisend sein!“ Flupps, der hat Ahnung, Vorsicht geboten, dachte ich. Außerdem hatte ich einfach keine Lust, Scherze zu machen welch ein Glück für mich. „Stimmt schon“, gab ich ihm Recht. „ Wir haben Konsultation hier, aber der Rest stimmt.“ Ich wollte mich gerade bedanken und verabschieden, als er frug: „In der Schlachthofstraße?“ Nun schrillten bei mir die Alarmglocken. „In welchem Studienjahr befinden Sie sich?“ Ich antwortete wahrheitsgemäß
und wollte dem Gespräch einen ernsten Verlauf geben. Dann kam der Hammer. „Da werden wir uns nach den Semesterferien mit Sicherheit wiedersehen.“ „Das halte ich für ein Gerücht, denn ich suche keinen Anhang, meine Familie ist komplett“, entgegnete ich.
Er daraufhin, einfach zum DU übergehend: „Ich möchte dich wiedersehen, dich näher kennenlernen und was ich mir vornehme, gelingt auch fast immer. In unserem Fall ganz sicher, denn ich werde ab September dein Dozent für SBWL sein.“ Ich rutschte vor Schreck in meinem Négligé vom Barhocker und bekam mit kräftiger
Stimme hervor, die meine Verwirrtheit verdecken sollte: „ Unter diesen Umständen darf ich mich wohl sofort verabschieden.“ Er hielt mich einfach fest. Ich im Nachthemd in der Bar, ihn vollgelabert in einer Art, die ich selbst nicht von mir kannte und er bald mein Dozent! Ich war von den Socken. Ich sah meinen Titel „Beststudentin“ schon schwinden. „Ich weiß, was du jetzt denkst“, meinte er, „schau morgen in euer Studienbuch, dort liegt der neue Stundenplan für das nächste Studienjahr schon drin und du wirst bei SBWL den Namen Jürgen W. finden.“ Jetzt reichte es endgültig. Ich schüttelte mich kurz, um seinem Griff zu entgehen und mit
wohl schwankenden Beinen steuerte ich unseren Tisch an. Einige meiner Kollegen hatten das Ganze wohl schon beobachtet und wollten mir gerade zu Hilfe kommen, als ich mich wohl leichenblass zu ihnen setzte und kein Wort rausbekam. Ich rang um Fassung. Nach einigen Augenblicken des Sammelns und der Sicherheit, dass dieser Jürgen gerade nicht an seinem Platz saß, raunte ich den anderen zu, dass mein Tänzer unser neuer SBWL-Dozent sein würde. Na, da hatte ich aber was losgetreten. „Mensch, da ist dieses blöde Fach doch gerettet.“ „Du weißt doch dann schon immer vorher, was für Klausuren geschrieben
werden!“ Meine entrüsteten Worte gefielen den anderen gar nicht, sondern sie forderten mich auf, mich für „die Sache“ doch einfach mal zu opfern. Unglaublich! Ich zahlte und verschwand. Für heute hatte ich genug.