Bastian Böhme und Björn Kiworra
Erinnerungstäuschung
„I Love you always forever“ von Donna Lewis dröhnt aus dem Radio. Ich stelle den Motor ab und greife nach dem Strauss Rosen, der auf den Beifahrersitz liegt. Ich nehme all meinen Mut zusammen und steige aus meinem Peugeot 206 aus, schließe mit meiner Fernbedienung ab und mache mich auf in Richtung der Wohnung meiner Freundin. Der Weg dahin ist gepflastert mit unterschiedlich, zueinander geordneten, bunten Pflastersteinen, die ich, auf dem Weg meistens versuche zu zählen, was mir aber bis dato noch nie gelungen ist. Ich klopfe leise, dennoch durchaus hörbar an das Fenster ihrer Wohnung und warte sehnsüchtig darauf, dass sie mir die Tür öffnet. Doch stattdessen höre ich leises Gepolter. Ich klopfe erneut ehrfürchtig an ihr Fenster und mein Blick schweift langsam durch ihre Wohnung. Es ist so wie immer, an der Wand hängt das Poster dieser Rockband, das ich immer gehasst, mich aber noch nie beschwert habe. Dieser dumpfe Anblick wird durch kurz darauf folgende Irritation noch verstärkt. Die offene, zur Hälfte geleerte Sektflasche, mit den zwei, auf dem Wohnzimmertisch stehenden, halbleeren, Leonardo-Gläsern (die ich ihr zu irgendeinem mehr oder -minderwertigen Anlass geschenkt habe), stören mich irgendwie. Ich beschließe das Schlimmste anzunehmen. Spontan steuere ich zum nächsten Fenster, ihrer „2-Zimmer, Küche, Bad“ Erdgeschosswohnung, welches mir einen Blick in ihr überschaubares Schlafzimmer bietet. Ich hatte sie schon öfter darum gebeten sich Rollos oder Vorhänge zuzulegen, da ich mir beim Sex mit ihr immer wie in einer öffentlichen Erotik-Show vorkam. Sie störte das aber anscheinend nicht im Geringsten, sondern es törnte sie sogar noch an. Wie es das Schicksal will wird ihr genau dies zum Verhängnis. Was ich durch das Fenster zu Gesicht bekomme übertrifft selbst meine kühnsten, schlimmsten Phantasien. Ich sehe sie nackt, stöhnend, reitend auf jemandem den ich nicht kenne. „…und sie sieht wirklich bedauernswert glücklich aus...“ Traurig, wütend zugleich schmeiße ich den Rosenstrauß zu Boden, will nur noch wegrennen, doch bin unfähig mich zu bewegen und starre nur bewegungslos auf die rhythmischen Bewegungen meines Kontrahenten. „Ich breche, ich breche, ich breche zusammen. Ich sterbe. Ich werd verrückt. Nein!“ Brüllen meine Gedanken. Mein gefühlter Schmerz ist unerträglich. Er schlägt mit so unerbitterter, apokalyptischer Gewalt zu, dass ich merke wie mein Herz langsam und qualvoll in zwei Hälften zerbricht. Eine Angst steigt in mir auf, die Angst vor dem, was jetzt alles auf mich zukommen würde. „Wie kann sie mir das nur antun? Was habe ich falsch gemacht?“ Der Schatten der Realität legt sich über mich und ich verfluche die Welt und die Traurigkeit die mich heimsucht. Ich beschließe das Weite zu suchen und mir einen Plan zu überlegen der jedem gerecht würde. Meine Welt bricht zusammen und ich fühle eine Aggression in mir aufsteigen, die mir vollkommen unbekannt ist. Ich weiß nicht was ich tun soll und stehe da wie der letzte Idiot. Der Strauß Rosen liegt zerflettert auf dem Boden, meine Gefühle daneben. Ich hebe die eben weggeworfenen Rosen auf und bin verblüfft, schon beinahe versteinert, über die Tatsache dass ich ihr die Dinger immer noch schenken will. Also stehe ich da, mit diesem völlig herunter gekommen Strauß „Etwas“ in der Hand, unwissend was ich tun soll. Ich gehe den Weg zum Wagen zurück, entriegele die Tür und steige ein. Ich muss diesen grausamen Ort so schnell wie möglich verlassen.
Als ich nach Hause komme verspüre ich neben dem Hass und der Trauer auch ein langsam aufkommendes Hungergefühl. Ich stelle den Backofen an und lege eine Salamipizza auf das Blech. Um die Zeit zu überbrücken und mich irgendwie abzulenken schnappe ich mir die Tageszeitung und überfliege sie. Im Irak wurden wieder einmal mehrere amerikanische Soldaten bei einem Selbstmordanschlag mit in den Tot gerissen. Auf einem weiteren Weltklimagipfel wurde wieder einmal festgelegt, dass der Treibstoffausstoß weiter gesenkt werden müsse und die USA hatten wieder einmal dagegen gestimmt. Im lokalen Teil wird nach einem Serienmörder gesucht, der bevorzugt junge Frauen vergewaltigt und danach erdrosselt hatte. Ein Phantombild des Mannes ist neben dem Artikel abgebildet und zu meiner Verwunderung kommt mir das Gesicht erschreckend bekannt vor. Es ist der Typ, der es eben mit meiner Freundin, in ihrer Wohnung, in meiner Lieblingsstellung getrieben hatte. Sein Gesicht hat sich so tief in mein Gedächtnis gebrannt, dass ich ihn unmöglich verwechseln kann. Träume ich oder bin ich bei Sinnen? Ein klarer Gedanke ist bei meiner momentanen Gefühlslage nicht zu fassen. Ein von der Polizei gesuchter Vergewaltiger hat es grade mit meiner Freundin getrieben und tut es womöglich immer noch. Langsam begreife ich. Aber zu meinem Erstaunen lässt mich diese Tatsache erschreckend kalt. Ich fühle sogar eine skurrile Sympathie für diesen Gesuchten und überlege mir, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen, weil sich so meine Probleme einfach in Luft auflösen würden. Er würde sie umbringen und ich bräuchte mich nicht mehr mit den bevorstehenden Problemen auseinander zu setzen. Ich könnte einfach den trauernden Freund spielen wenn ihre Leiche gefunden würde und die Menschen würden mich bedauern. Aber eine Stimme sagt mir, dass ich ohne diese Frau, der ich gerade einen Strauß Rosen, der Qualitätsgüteklasse A schenken wollte, verloren wäre. „Diese Frau ist mein Leben“, denke ich verwirrt. Ich befinde mich in einer scheinbar ausweglosen Situation, in der ich nicht mal ansatzweise weiß, was ich nur ansatzweise tun soll.
Plötzlich reißt mich der grausame Ton des Backofen-Timers aus meinen Gedanken. Ich schalte ihn aus, doch zu meiner Verwunderung hört das penetrante Piepsen nicht auf, sondern rückt immer stärker in den Vordergrund. Langsam verschwimmt meine Sicht bis alles um mich herum verschwindet und ich drehe meinen Kopf in Richtung des blinkenden Weckers, der mir mitzuteilen versucht, dass es Zeit ist aufzustehen. Allmählich werden auch meine Gedanken wieder klarer und ich begreife, dass ich in meinem Bett liege und alles nur geträumt habe. „Alles nur ein Traum?!“ sage ich leise, schmunzelnd vor mich hin. Ein Stein fällt mir vom Herzen und voller Erleichterung beschließe ich nach dem Frühstück meiner Freundin einen Überraschungsbesuch abzustatten und ihr einen Strauss Rosen zu kaufen um ihr eine Freude zu bereiten.
Der Blumenladen ist voller Menschen, es scheint als hätte jeder irgendetwas gut zu machen. Es ist anscheinend ein richtig schlechter Tag. Irgendwann, als ich endlich an der Reihe bin, bestelle ich zwölf, ca. 70 cm. lange, ganz frisch geschnittene rote Rosen. Der Traum hat mich auf diese glorreiche Idee gebracht. Ich lasse mir die Blumen von der jungen, hübschen Verkäuferin zusammenbinden und mache mich voller Vorfreude mit meinem Peugeot 206 auf in Richtung der Wohnung meiner Freundin.
Im Radio läuft ein Song der mir bekannt vorkommt, also drehe ich etwas lauter. Ich erreiche mein Ziel, stelle den Motor aus und greife nach dem Strauss Rosen. Ich schreite langsam über die Pflastersteine zu ihrer Wohnung und gehe wie immer an ihr Fenster und klopfe. Drinnen regt sich nichts und mein Blick schweift langsam durch ihre Wohnung während ich schmunzelnd an den Traum von letzter Nacht denke. Komischerweise steigt ein leichtes Unbehagen in mir auf, welches sich beim Anblick der geöffneten Flasche Sekt und der daneben stehenden halbleeren Gläser, in blankes Entsetzen steigert. Das Schmunzeln ist wie weggeblasen und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Träume ich oder bin ich bei Sinnen?