Es war 1959, ich war gerade mal 10 Jahre alt. Bei uns zu Hause gab es Bonbons oder Schokolade nur zu bestimmten Feiertagen, es war und blieb die Ausnahme.
Anfänglich wunderte ich mich in der Schule, wenn in meinem dünnen Mantel, in dem ich immer fror, ein in Papier eingewickeltes Stück Schokolade steckte und war der Meinung, dass sich da jemand vertan hatte und die falsche Tasche erwischt hatte, denn die Sachen hingen ja vor dem Klassenzimmer an Haken. Ich ließ sie unangerührt, doch plötzlich waren es 2, dann 3 Stückchen. Aus Angst davor, dass meine Eltern es entdecken und mir wegnehmen oder
fragen konnten, von wem das sei, aß ich sie auf dem Weg nach Hause auf und dankte insgeheim dem edlen Spender, den ich nicht kannte.
Später kamen winzig kleine Zettelchen dazu mit einem gemalten Herzchen, manchmal ein klebriges Bonbon oder ein Waffelstäbchen. Jeden Jungen meiner Klasse nahm ich unter die Lupe. Nein, von denen war es keiner und von den Mädchen? Wollten die einen Scherz mit mir machen und sich in der Pausenhofecke über mich kaputtkichern?
Dann achtete ich stärker auf alles, was um mich herum passierte. Ganz unbewusst zuerst, später mit offenen Augen, denn ich wollte mich doch
wenigstens bedanken. Klaus (Name geändert) fiel mir auf, ein gleichaltriger Junge aus der Parallelklasse, weil er in den Pausen immer versuchte, in meiner Nähe zu sein, mich mit so einem lustigen Blick anlächelte und er hatte so einen richtigen Kussmund. Klaus hatte für mich das besondere Etwas, schwer zu beschreiben. Blondes Haar, immer einen Scherz parat, er war höflich zu anderen, half gern, war nicht so laut. Seine lustigen Bemerkungen steckten zum Lachen an und jedes Mal schaute er dann zu mir. Das musste er sein.
Bei dieser Erkenntnis hatte ich das Gefühl, rot zu werden. Mir war es peinlich, dass sich ein Junge für mich
interessierte. Meine Art war schüchtern, zurückhaltend, eine von denen mit den leisen Tönen. So haben mich meine Eltern erzogen. Und plötzlich war da so ein schönes Gefühl. Ich freute mich, wenn ich ihn sah, traute mir jedoch nicht, ihn anzusprechen und mich zu bedanken. Einmal hatten wir zur gleichen Zeit Schulschluss, da versuchte er, mir zu folgen. Ich ging zu dieser Zeit noch in den Schulhort, er nicht. "Warte mal, Gisela", rief er. "Ich muss auch da lang." Schön, dachte ich, vielleicht traust du dich jetzt, dich bei ihm zu bedanken, redete ich mir zu. Zur gleichen Zeit fingen wir an zu sprechen und mussten lachen. Die Spannung war
gewichen. Dann frug ich ihn nach der Schokolade, nach den Bonbons. "Ja," sagte er, "die sind von mir. Wir haben genug davon, aber du hast nie welche mit. und, und .....die Zettel sind auch von mir." Mir schoss Röte ins Gesicht und alle Welt sah das wohl jetzt. Gut, dass ich beim Laufen zu Boden sehen konnte. Dann berührten sich wie beiläufig unsere Hände beim Gehen. Upps, ich steckte meine schnell in die Tasche. "Du bist so anders, als die anderen Mädchen", meinte er. "Nicht so albern und kicherst nicht so." "Ich bin nun mal so", habe ich ihm wohl damals geantwortet, wie er später sagte. Dann folgten mit der Hand geschriebene
Zettel. "Wollen wir zusammen gehen?" " Ich liebe dich". "Kommst du heute mit zum Fahrrad fahren?" Immer wieder was Neues.
Ich wartete schon immer auf die erste große Pause und las heimlich auf der Toilette die nächste Nachricht. Es tat gut, dass es jemanden gab, der merkte, dass man da ist. Ich genoss es und spülte am Ende des Schultages aus Angst vor Entdeckung die Zettel in der Toilette runter. Manchmal, wenn es nicht dazu kam, stellte ich mich auf dem Heimweg auf die Brücke, die über die Unstrut führte, riss sie in kleine Schnipsel und ließ sie vom Wasser wegtragen. Nie gab ich ihm eine
Antwort. Dann kam der letzte Schultag vor den Sommerferien. Die Zeugnisse wurden übergeben und wir wurden in die Ferien entlassen. Mein Zeugnis war sehr gut und ich durfte das erste Mal 14 Tage in ein Ferienlager nach Zinnowitz auf der Insel Usedom fahren, das Meer sehen. Ich war so glücklich und voller Vorfreude, doch gleichzeitig war ich traurig. Ich könnte Klaus nicht sehen, würde seine Zettel vermissen, die viel wichtiger für mich geworden waren, als die gut schmeckende Schokolade. Da stand er auf einmal am Seitentor der Schule, aus dem ich meist den Schulhof verließ und sagte, als die anderen gegangen waren: "Wann sehen wir uns?
Warum sagst du es mir nicht, gehen wir nun zusammen?" Ich erzählte ihm vom Ferienlager und dass ich nicht wüsste, ob ich danach meine Großeltern besuche. Ich konnte ihm keinen Termin nennen. Was hätte ich auch sagen sollen. Durch Umzug in unser neues Haus lag mein Zuhause jetzt etwa 5 km von der Schule entfernt, unsere Wege kreuzten sich nicht mehr. Er muss mir die Traurigkeit angesehen haben und meinte:" Immer, wenn schönes Wetter ist, komme ich mit dem Fahrrad in deine Straße, da können wir uns sehen und nach den Ferien sehen wir uns ja wieder jeden Tag." Dann gab er mir einen schnellen, verstohlenen Kuss auf die
Wange und lief einfach davon. Jeden Tag, an dem ich die Ferien zu Hause verbrachte, habe ich verstohlen hinter der Gardine nachgesehen, ob Klaus mit dem Fahrrad da ist. Er kam nicht, aber der 1. Tag des neuen Schuljahres. Ich fieberte ihm entgegen. Ich konnte ihn endlich wiedersehen.
Beim Appell suchten meine Augen ihn vergebens und in der ersten großen Pause hieß es dann, die Familie ist in den Westen gegangen. Ich lief auf die Toilette und weinte bitterlich. Das war es also. Warum hat er mich belogen? Warum hat er mir solche Hoffnungen gemacht? Warum? Warum? Nur dieses eine Wort tanzte vor meinen Augen. Ich
fühlte mich plötzlich wieder so allein........und irgendwie verraten.
Die ganzen Jahre hat mich dieses Kindheitserlebnis nie losgelassen. Immer mal wieder wanderten die Gedanken zu Klaus und ich habe mich so oft gefragt, was wohl aus ihm geworden ist. Mit der Wende kam die Möglichkeit, im Westen des Landes Ausschau zu halten. Durch meine nebenberufliche Tätigkeit als Nachlasspfleger war ich nun ständig auf der Suche nach Erben und konnte manche Familie zusammenführen. Warum eigentlich nicht mal nach Klaus suchen? Alle mit gleichem Nachnamen hatte ich schon am Telefon. Keine Spur
führte zu ihm, wie ich hoffte. In vielen Netzwerken hatte ich immer mal wieder gesucht, wenn ich an ihn dachte. Vielleicht war er im Ausland? Alles verlief im Sand.
Und eines Tages, im Frühjahr 2012, ich traute meinen Augen nicht........... Sein Name. Er tauchte bei einem Netzwerk auf, das ich schon zig Mal durchsucht hatte und war selbst auf der Suche nach ehemaligen Schulkameraden. Den Tag werde ich nicht vergessen. Nach fast 53 Jahren. Ich schrieb sofort eine Mitteilung und am nächsten Tag klingelte das Telefon. Stundenlang haben wir telefoniert. 53 Jahre Geschichten aus beiden Leben erzählt. Es
war, als wäre gestern der letzte Schultag gewesen. Seine Eltern hatten damals nur diesen letzten Schultag abgewartet, um die geplante Flucht zu vollenden. Ihn, als 10 jährigen Jungen, hatten sie natürlich nicht eingeweiht, um sich keiner zusätzlichen Gefahr auszusetzen.
Tränen der Freude, der Trauer, der Erleichterung flossen. Auch er hat oft daran gedacht, was wohl aus mir geworden ist. Es ging ihm nach vielen Umzügen mit der Familie, ehe sie eine neue Heimat gefunden hatten, gut und es ging mir gut. Beide haben wir unseren Weg im Leben gefunden. Bilder wurden ausgetauscht und immer wieder telefoniert. Bei passender Gelegenheit
wollten wir uns schnellstens mal treffen. Zu seinem Geburtstag im August haben wir uns das fest ausgemacht. Nur 8 Tage später verstarb er plötzlich und unerwartet........ohne dass es noch zu diesem Treffen kam.
Aber alle meine Fragen, die ich über Jahrzehnte unbeantwortet m Kopf hatte, konnten wir noch klären, und dafür bin ich dankbar, denn nichts ist im Leben schlimmer als Ungewissheit.
Eine Kinderliebe, die mich in späteren Jahren zu der Erkenntnis gebracht hat, nie einen Menschen zu verurteilen, ohne die Gründe für sein Handeln entdeckt zu haben. Danke, Klaus, dass es dich gab, vergessen werde ich dich nie.