Es war halb acht Uhr morgens und äusserst still. Das einzige Geräusch, das im Schlafzimmer von Doktor Brändli zu hören war, war sein eigenes Schnarchen.
Manchmal glaubte Doktor Brändli im Halbschlaf tatsächlich sein eigenes Schnarchen zu hören. Doch kaum wollte er sich selbst beim Schnarchen zuhören, war er wach. Und weil er wach war, schnarchte er nicht mehr.
Es war zum Grauwerden.
Seit Monaten versuchte er sich selbst zu überlisten, aber leider ohne Erfolg.
Während Doktor Brändli noch weiter über eine Lösung nachdachte, klopfte es an seiner Schlafzimmertüre. Es war Tiger, der durch den Türspalt guckte.
Doktor Brändli holte seine tiefste Stimme aus dem Brustkorb: „Du weisst doch, Tiger, vor acht Uhr ...“
„Ich weiss, ich weiss, Doktor Brändli, ... vor acht Uhr keine Störung. Aber du wirst unten an der Türe verlangt.“
„Um diese Zeit?“ Doktor Brändli ärgerte sich.
Er konnte sich doch nicht mit weissem
Nachthemd, weisser Zipfelmütze und zerzaustem Bart an der Türe zeigen. Aber sein Ärger war grösser als seine Hemmungen.
Er setzte sein 'Ich-bin-verärgert'-Gesicht auf.
Der Latz musste immer Grinsen, wenn er das sah. Denn auch wenn Doktor Brändli verärgert war, sah er nach wie vor noch niedlich aus.
Doktor Brändli stampfte die Treppen hinab, öffnete die Haustüre mit Nachdruck und brummte: „Ja? Was ist?“
Aber zu seiner Verblüffung stand niemand vor der Tür.
Er streckte seinen Kopf aus dem
Türrahmen, sah nach links niemand sah nach rechts niemand sah nach unten niemand.
Der Vollständigkeit halber sah er auch noch nach oben niemand.
„Tiger!“, rief Doktor Brändli sehr bestimmt. „Du sagtest doch ich werde unten an der Türe verlangt! Da ist niemand!“
„Äh, ich meinte auch nicht die Haustüre, Doktor Brändli. Du wirst an der Kühlschranktüre verlangt.“, rechtfertigte sich Tiger.
„An der ... Kühlschr .... Was?“ Doktor Brändli kniff ungläubig die Augen zusammen.
Sein Ärger verpuffte und machte seiner
Neugier Platz, obwohl er nicht wusste, ob er gerade verschaukelt wurde.
Der Latz stand lässig an den Türrahmen der Küche gelehnt und genoss die Situation. Er zeigte mit dem rechten Daumen in die Küche. „Die Herren Zitronenjoghurt wünschen den Doktor dringend zu sprechen. Sie scheinen mir etwas übellaunig.“
Doktor Brändli sah den Latz etwas ratlos an. Verunsichert näherte er sich der Küche, schritt am Latz vorbei und steuerte auf den Kühlschrank zu.
Vor dem Kühlschrank hielt er noch kurz inne, holte tief Luft und öffnete dann die Türe.
„Guten morgen allerseits“, grüsste er.
„Da ist er ja endlich“, tönte es aus dem obersten Kühlschrankregal.
Die Zitronenjoghurts hatten sich in exakten Fünferreihen aufgestellt. Doktor Brändli zählte vier Reihen. Also zwanzig Joghurts. Aus der vordersten Reihe trat ein Joghurt einen Schritt nach vorne. Es war ihr Anführer.
„Doktor Brändli. Wir haben die Nase gestrichen voll Definitiv.“
„Das ist ja mal was Neues. Zitronenjoghurts mit Nasen. Mit gestrichen vollen Nasen. Voll Zitronenjoghurt, hm?“, neckte der Latz.
Entrüstet tuschelten die anderen neunzehn Joghurts.
„Ja, ... äh, was ist denn passiert? Kann ich euch helfen?“, fragte Doktor Brändli.
„Um es kurz und direkt zu sagen: Das Kühlschrankleben langweilt uns mächtig. Und ausserdem ist es immer saukalt hier drin“, platzte es aus Zitronenjoghurt Nummer 1.
„Hm, ist denn das nicht ein ... äh ... Kühlschrank?“, meldete sich Tiger zu Wort.
„Eben. Und ausserdem ist die Luft hier stickig, das Licht geht immer aus, wenn die Türe geschlossen wird und …“. Zitronenjoghurt Nummer 1 zögerte kurz. „Und der Fisch stinkt.“
Der Fisch wollte vor Schreck seine Augen aufreissen. Aber wieder einmal
musste er feststellen, dass sich Glubschaugen nicht aufreissen lassen.
„Oh. Die Zitronenjoghurts haben nicht nur Nasen, sondern empfindliche, zarte Näschen“, feixte der Latz. „Mir scheint, die Stimmung hier drin ist etwas unterkühlt.“
„Du bist mir nicht gerade eine grosse Hilfe“, mahnte Doktor Brändli den Latz und wandte sich wieder den Joghurts zu: „Was soll ich denn eurer Meinung nach tun?“
Zitronenjoghurt Nummer 1 drehte sich um und tuschelte mit den anderen neunzehn Joghurts.
„Tz. Diese fröstelnden Hitzköpfe!“, bemerkte der Latz ganz leise und starrte
verächtlich an die Decke, um Doktor Brändlis Blicken auszuweichen.
Zitronenjoghurt Nummer 1 wandte sich wieder Doktor Brändli zu. „Ok. Wir haben zwei Forderungen: Erstens - wir ziehen aus dem Kühlschank aus. Und zweitens - wir wollen Duftkerzen.“
„Duftkerzen? Warum Duftkerzen?“, fragte Tiger.
„Ganz einfach.“, erklärte Zitronenjoghurt Nummer 1. „Duftkerzen lösen alle unsere Sorgen. Erstens haben wir Licht. Zweitens wärmen sie uns. Und drittens ist die Luft nicht mehr stickig.“
„Und wenn wir euren Forderungen nicht nachkommen?“, warf der Latz frech ein.
„Dann werden wir richtig sauer“, drohte Zitronenjoghurt Nummer 1 und alle anderen neunzehn senkten grimmig ihren Blick und nickten.
Doktor Brändli runzelte kurz die Stirn „Hm. Ok. Akzeptiert. Ihr dürft ausziehen und kriegt Duftkerzen. Aber und jetzt hört mir gut zu ich sage euch etwas voraus: Richtig sauer, meine Lieben ... tja, das werdet ihr erst noch. Glaubt es mir.“
Die zwanzig Zitronenjoghurts interessierte das natürlich nicht. Sie jubelten und freuten sich über die siegreiche Schlacht. Noch am selben Morgen zogen sie triumphierend aus dem
Kühlschrank aus, wünschten den anderen Lebensmitteln einen langen Winter und genossen ihre neugewonnene Freiheit.
Sie tobten sich aus. Sie hüpften wie neugeborene Zicklein im Garten umher. Sie schnorchelten im Gartenteich und kitzelten die Goldfische und wunderten sich darüber, dass diese nicht stanken. Sie kletterten leise auf die Bäume und schubsten schlafende Krähen vo den Ästen. Sie fingen Glühwürmchen und steckten diese in selbst gebastelte Stirnlampen, um Doktor Brändlis Keller zu erforschen. Sie spielten Fussball ohne Füsse.
Und abends versammelten sie sich um
ihre brennenden Duftkerzen und erzählten sich die verrücktesten Geschichten aus alten Zeiten, ... als sie noch Milch waren. Der Himmel war blau, das Gras war grün und jeder Moment war kunterbunt.
Am dritten Tag verblassten die Farben.
Es begann eigentlich ganz harmlos. Zitronenjoghurt Nummer 8 wünschte Zitronenjoghurt Nummer 13 einen guten Morgen, worauf Zitronenjoghurt Nummer 13 meinte, Zitronenjoghurt Nummer 8 habe bestimmt vergessen, sich die Zähne zu putzen. Zitronenjoghurt Nummer 8 versicherte Zitronenjoghurt Nummer 13 ziemlich
deutlich, dass er sich sehr wohl die Zähne geputzt habe und bemerkte, dass ihm schien, dass der säuerliche Geruch eher von Zitronenjoghrt Nummer 13 ausgehe. Nach intensiver Diskussion beschlossen die beiden, dass das in der Nähe stehende Zitronenjoghurt Nummer 5 schuld an dem üblen Geruch sei, was Zitronenjoghurt Nummer 5 jedoch nicht sehr erfreute. Zitronenjoghurt Nummer 5 klagte sein Leid Zitronenjoghurt Nummer 18, der ihn jedoch unterbrach und unverblümt meinte: „Putz dir die Zähne! Du stinkst!“ Zitronenjoghurt Nummer 5 putzte seine Zähne nicht. Dafür schlug er Zitronenjoghurt Nummer 18 einen Zahn raus.
Zitronenjoghurt Nummer 18 stürzte sich auf Zitronenjoghurt Nummer 5. Zitronenjoghurt Nummer 14 kam Zitronenjoghurt Nummer 18 zu Hilfe und rief laut: „Es sind die Ungeraden, die stinken! Die Ungeraden stinken!“ Im Nu bildete sich ein wildgewordener Knäuel keifender, säuerlich stinkender Zitronenjoghurts. Nur Zitronenjoghurt Nummer 1 stand daneben, kratzte sich am Aludeckel und ahnte Übles.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Tiger den Knäuel Joghurt entwirrt hatte und die Geraden von den Ungeraden getrennt hatte.
„Da scheint jemand sauer geworden zu
sein.“ Der Latz konnte sich das Keifen nicht verkneifen.
Keiner der Joghurts wehrte sich. Sie standen alle gesenkten Hauptes da und wussten, dass sie durch ihren Auszug aus dem Kühlschrank auch etwas an Frische eingebüsst hatten.
Doktor Brändli winkte sie verständnisvoll zu sich hinüber und deutete ihnen, ihm zu folgen. Er betrat die Küche, öffnete wortlos die Kühlschranktüre und Zitronenjoghurt Nummer 2 bis 20 kletterten ins oberste Regal zurück.
Als alle ihren Platz wieder eingenommen hatten, folgte auch Zitronenjoghurt Nummer 1. Er nickte
kurz und Doktor Brändli schloss die Türe.
Niemand sprach ein Wort. Nur aus dem Kühlschrank war das hämische Gekicher der anderen Lebensmittel zu hören.
Tiger hatte Tränen in den Augen.
Der Latz gab sich lässig. Aber wortlos war der Latz nur, wenn er traurig war.
Doktor Brändli sah Tiger an. Doktor Brändli sah den Latz an.
Auf einmal blitzen seine Augen. Er schritt zum Kühlschrank und öffnete schwungvoll die Türe.
„Ich habe eine Idee, liebe Zitronenjoghurts. Warum nicht von nun an jeden Tag einmal den Kühlschrank
verlassen. Für eine Stunde. Am Abend, wenn es draussen ein bisschen kühler ist. Dann könntet ihr weiter den Garten unsicher machen. Das würde euch doch nicht sauer machen, oder?“ Die Zitronenjoghurts hellten auf und begannen heftig zu nicken.
„Dürfen wir auch mitmachen?“, fragte der Fisch.
„Natürlich dürft ihr. Jeden Abend soll von nur an eine Stunde Tag der offenen Kühlschranktüre sein!“ Der Jubel war anhaltend. Tomate und Fleischkäse lagen sich in den Armen. Der Salat kräuselte sich vor Freude. Sogar die Butter und die Margarine umarmten sich.
„Das feiern wir!“, rief Doktor Brändli
und liess die Küche von Tiger und dem Latz dekorieren.
Es wurde gelacht und getanzt. Die Zitronenjoguhrts tanzten sich die Säure aus dem Leib.
Und ihr begehrtester Tanzpartner? Das war der Fisch. Denn seit sich die Joghurts selbst gerochen hatten, war der Geruch des Fisches nichts weniger als eine Wohltat.
Die runden Glubschaugen des Fisches begannen zu leuchten und zu strahlen und hörten seither nie mehr auf damit.
„Danke, Doktor Brändli, .... danke“, wisperte Zitronenjoguhrt Nummer 1 nach einiger Zeit sichtlich gerührt. Wer
genau hinsah, konnte sogar einen kleinen Tropfen Kondenswasser an seiner Wange erkennen.
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