Kapitel 1
Radebeul, am15. Februar 1945
Schon während Obersturmführer Volkardt Schmitz die Treppe des Bahnhofs Radebeul-West mit hastigen Schritten hinunter stürzte, erfasste ihn eine nicht beherrschbare Ergriffenheit, und er begann hemmungslos zu weinen. Der SS-Offizier in seiner grauen, verschmutzten Uniform mit einem penetranten Geruch nach verbranntem
Fleisch, lehnte sich an die Mauer des Bahnhofeinganges. Der Mauer zugewandt versuchte er, sein Gesicht hinter seinen prankenartigen Händen zu verbergen. Sein massiger Körper bebte, und Tränen rannen durch die Finger auf den Mantel seiner Uniform, an die er mit seinen Armen eine unbekleidete Porzellanpuppe an die Brust gepresst hielt. Das mit Tränen benetzte Köpfchen der Puppe hing mit ihren strähnigen blonden Haaren über dem Ärmel von Schmitz Uniformjacke mit halb zugeklappten Augen, die sich im Takt des schluchzenden blonden Hünen zur Hälfte öffneten.
An diesem Tag, dem 15. Februar 1945
hatte der 21-jährige Schmitz nach mehr als zehn Jahren das erste Mal in seinen Leben wieder geweint und er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass ihm in den letzten zehn Jahren zum Weinen zumute gewesen wäre.
Gestern, als er in Dresden am Elbufer das Aufschichten und Identifizieren der verbrannten und bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Tausenden von Leichen befehligen musste, hatte ihn nur eine unbändige Wut über die Engländer und Amerikaner erfasst, aber auch zum ersten Mal eine Spur von Zweifel verspürt, ob das große Ziel, dem er sich als Jugendlicher verschrieben hatte, in Erfüllung gehen würde.
Während hinter ihm verzweifelte, schreiende Frauen an ihren Händen weinende Kinder hinter sich herziehend scheinbar orientierungslos aus und in den Bahnhof strömten, dachte er an seine eigene Mutter, die ihm im Alter von 17 Jahren mit Tränen in den Augen eine schallende Ohrfeige versetzte, als er ihr mit versteinerte Miene eröffnete, dass er sich ab sofort freiwillig bei der SS verpflichtet hätte, um von nun an seinem Führer und dem Vaterland zu dienen. Er hatte sich wortlos umgedreht, seine Sachen gepackt und das Haus verlassen. Seitdem hatte er seine Mutter nie wieder gesehen.
Schmitz verbarg die Puppe jetzt unter
seinem weiten Mantel und stieg mit schleppenden Schritten die Bahnhoftreppe zum Bahnsteig wieder hinauf, wo in wenigen Minuten sein Zug abfahren sollte, der ihn ohnehin schon einen Tag zu spät nach Prag bringen sollte.
Schmitz hatte eine schwere Zeit hinter sich. Während seines letzten Fronteinsatzes in Charkov als Sturmführer der Leibstandarte Adolf Hitlers wurde er im März 1943 durch einen Bauchschuss so schwer verletzt, dass keiner mehr einen Heller für ihn gegeben hätte. Bei einem erfolgreichen heroischen Ausbruchversuch, aus der bereits von den Sowjets wieder
eingeschlossenen Stadt wurde der besinnungslose Schmitz von seinen Kameraden der Leibstandarte auf einen Panzer gebunden und ins nächste Lazarett gebracht. Nach einer stundenlangen Notoperation hat Schmitz überlebt. Es folgte ein monatelanger Aufenthalt in einem Lazarett in der Nähe von Berlin und einem Sanatorium-Aufenthalt in Schleswig-Holstein. Danach hatte die SS-Führung ihn zunächst vom Frontdienst freigestellt und ihm ein Jurastudium in Prag ermöglicht. In der Uniform eines Offiziers der Leibstandarte Adolf Hitlers im Hörsaal der juristischen Fakultät in Prag. Schmitz gefiel das und
seiner Freundin Johanna in Berlin auch.
Drei Wochen hatte Schmitz bei seiner Freundin Johanna in Berlin verbracht, die einer Tätigkeit im Sekretariat Reichssicherheitshauptamt nachging. Auch sie hatte drei Wochen Urlaub, sogar mit ausdrücklicher Genehmigung ihres Chefs Ohlendorf nehmen dürfen. Sie hatten diese Zeit genossen und in Zukunftsplänen für die „Zeit danach“ geschwelgt. Die Zeit nach diesem verdammten Krieg, der kein Ende nehmen wollte. Eine Familie gründen mit vielen Kindern inmitten von Menschen, die mit erhobenem Haupt mitten in Europa einer blühenden Zukunft entgegen sehen dürfen.
Inmitten einer dicht gedrängten Menge verängstigter Frauen, Kinder , ältere Männer und einigen Soldaten stand auch Sturmführer Schmitz, die meisten Mitreisenden um mindestens Haupteslänge überragend, und wartete auf den Zug nach Prag.
Anders als vorhin auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig herrschte hier in den Menschtrauben eine beklemmende Stille. Der kalte Wind fegte durch die vermummten Menschen, und Schmitz vernahm nur ein leises Wimmern von Kindern. Es schien, als ob die Menschen meist mit zum Boden gesenkten Köpfen inne hielten, um über das in den letzten zwei Tagen
geschehene nachzudenken. Auch Schmitz, der immer noch die Puppe fest an seinen Leib drückte, verspürte jetzt nach Abklingen des für ihn unbegreiflichen emotionalen Ausbruchs, eine aufsteigende Müdigkeit und Ruhe, und er begann über das nachzudenken, was sich hier auf diesem Bahnhof in Radebeul-Ost abgespielt hatte. Eigentlich hätte er schon gestern in Prag bei seiner Einheit zurück sein müssen, aber die Ereignisse der letzten zwei Tage in Dresden dürften sich bis nach Prag herumgesprochen haben, und ein Disziplinarverfahren wegen Überschreitung seiner Urlaubszeit nicht eingeleitet werden. Schmitz war vom
Wege aus Berlin nach Prag über Dresden in einem unvorstellbaren Inferno geraten, das bei weitem das übertraf, was er an der Front in der Ukraine erlebt hatte. Eine noch brennende, glühende Stadt mit einer Unzahl in den Straßen liegender verkohlter Leichen, verzweifelte herum irrende schreiende Menschen auf der Suche nach ihren Angehörigen. Der Tod war dem 21-jährigen Soldat nicht fremd, neben ihm gefallene Kameraden, in Massen tote Soldaten des bolschewistischen Todfeindes , aus Rache für durch Partisanen getötete Kameraden, willkürlich erhängte Dorfbewohner und erschossene
Politoffziere des Feindes , und auch jüdische Männer, Frauen und Kinder , die in den Dörfern zusammengetrieben und außerhalb der Ortschaft erschossen wurden, weil es sein oberster Vorgesetzter Heinrich Himmler, dessen Rede er in der Universität von Charkov als junger Offizier miterleben durfte, so befohlen hatte. Und auch die gnadenlosen Erschießungen von schwerer verwundeten Kriegsgefangenen, an denen auch er beteiligt war, all das war Krieg, Krieg gegen den Bolschewismus und das Judentum, die gemeinsam die germanische Kultur vernichten wollten. Und deswegen war dieser Krieg gerecht
und notwendig. Davon waren Schmitz und seine Kameraden von der Leibstandarte zutiefst überzeugt.
Die glühende Stadt Dresden hatte den jungen SS-Offizier neben seiner Wut auf Engländer und Amerikaner erstmals auch nachdenklich gemacht. Ein 21-jähriger SS-Offizier, sein begonnenes Jurastudium in Prag, seine geliebte Freundin in Berlin, sein Traum über eine zukünftige Familie, in ihm keimte die Befürchtung auf, dass all das , so wie diese Stadt in Schutt und Asche versinken könnte. Sein improvisiertes Kommando über die Bergung der Leichen, der versuchten Identifikation und das Aufstapeln der Leichen am
Elbufer zum Verbrennen nahm ihn aber in seinem Pflichtgefühl so gefangen, dass er diesen Gedanken nicht mehr weiter nachhing, sondern seine Wut über das Geschehene eher in den Gefühlen „ jetzt erst recht“ mündete.
Das war gestern. Er hatte seitdem keine Sekunde geschlafen, aber das, was heute hier auf diesem Bahnhof passiert war, ließ ihn nicht mehr los. Immer noch hielt er die Puppe unter seinem Uniformmantel fest an seinen Körper gedrückt. Obwohl auf diesem Bahnsteig kein Mensch auch nur einen einzigen Gedanken dafür verschwendet hätte, ihn zu beobachten, wäre es ihm peinlich gewesen, wenn jemand bei einem
Offizier der Leibstandarte Adolf Hitlers eine Puppe unter seiner Uniformjacke entdeckt hätte. Die Puppe hatte ihm ein fünfjähriges Mädchen mit einem Gesichtsausdruck tiefer Dankbarkeit überreicht, als er einen Säugling, der offenbar ihr Bruder war durch das geöffnete Fenster des Eisenbahnwaggons gereicht hatte.
Er hatte die völlig verzweifelte Mutter mit zwei kleinen Mädchen und einem Säugling im Kinderwagen und zwei neben dem Kinderwagen stehenden Koffern im Geschreie und Gedränge auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig entdeckt, der nur durch einen Tunnel zu erreichen war. Durch das rücksichtslose
Gedränge und Geschiebe der verzweifelten Menschenmassen auf dem Bahnsteig drohte diese kleine deutsche Familie in dem Chaos unterzugehen.
So schien es Schmitz und er drängte sich mit seinem hünenhaften in einer SS-Uniform steckenden Körper durch die Menschenmassen, die ängstlich zur Seite wichen als sie ihn sahen und baute sich vor der kleinen Familie auf. Er blickte der verzweifelten Mutter in die Augen und sagte: „ Vertrauen sie mir, ich heiße Volkardt Schmitz, bin Offizier, gehen sie mit ihren beiden Töchtern zu ihrem Bahnsteig, steigen sie in ihren Zug, ich bringe ihnen den Säugling im Kinderwagen nach und reiche ihnen den
Säugling durch das Abteilfenster in das Abteil. Die Koffer geben sie in die Gepäckaufbewahrung, die funktioniert noch “ Die Frau erstarrte förmlich, nickte mit gesenktem Kopf und sagte leise: “ Ja, danke, Herr Offizier“. Schmitz packte den Kinderwagen, schwang ihn über seinen Kopf und verschwand zwischen den Menschenmassen, über deren Köpfen der Kinderwagen sich langsam von der Frau, deren Töchter sich ängstlich an sie gepresst hatten, weg bewegte. " Mutti, wer ist dieser Mann“ fragte die ältere der beiden, die in der einen Hand eine Milchkanne, die mit Marmelade gefüllt war und in der anderen eine
Puppe mit Porzellanköpfchen. „Das ist ein Engel, den uns der Herrgott geschickt hat“ entgegnete die Mutter packte die beiden Koffer und schob die beiden Mädchen durch die Menschentrauben vor sich her Richtung Bahnsteigtreppe.
Nachdem es der Mutter gelungen war, die Koffer in der Gepäckaufbewahrung abzugeben, drängte sie sich mit ihren beiden Töchtern die Treppe zum Bahnsteig hoch, wo bereits der Zug Richtung Dresden-Neustadt stand und das Gekreische und Jammern der Menschen wurde nur vom Zischen und Schnaufen der Lokomotive übertönt.
Trotz all der Not und der Erregung der Menschen um sie herum, gab es einige , die versuchten, ihr den Weg zum Waggon zu bahnen, wo sie schließlich in einem Abteil einen Platz fand, den man bereitwillig für sie frei gemacht hatte. Erschöpft lehnte sie sich aus dem Abteilfenster und sah, wie sich der Kinderwagen mit ihrem Säugling über die Köpfe hinweg langsam auf ihr Abteil zu bewegte. „ Hier, Herr Offizier, bitte hierher“ rief sie winkend aus dem Abteilfenster und tatsächlich bewegte sich jetzt der Kinderwagen direkt auf sie zu. Der Offizier, dem sie jetzt, wo er vor dem Abteil stand und vom Bahnsteig aus zu ihr hochblickte, in die Augen
schauen konnte, hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit weichen Zügen, blauen Augen und blonden verrußten Haaren. "Sie sind mein Engel, meine Kinder und ich werden es ihnen ewig danken und sie nie vergessen.“ Der Offizier stellte den Kinderwagen vor sich ab nahm den Säugling, der trotz des Getöses und Stimmenwirrwarr fest schlief, hoch und aus dem Kinderwagen schob ihn durch das Fenster in das Zugabteil in die Arme der jungen Frau. „Den Kinderwagen stelle ich in den Eingangsbereich des Waggons.“ sagte der Offizier. Die große Tochter der Frau hatte sich auf den Sitzplatz gestellt stand jetzt auch am Fenster. „ Bitte,
mein Herr, ich möchte dir meine Puppe schenken, weil du unser Engel bist , danke für alles.“ Der Offizier machte noch nicht einmal Anstalten, dieses Geschenk zurückzuweisen, er nahm die Puppe wortlos an sich, klemmte sie unter seinen Uniformmantel , drehte seinen Kopf mit Tränen in den Augen zur Seite, schob den Kinderwagen zum Eingang des Waggon, bugsierte ihn durch die Tür in den Waggon und verschwand mit raschen Schritten zwischen den Menschen, die sich auf dem Bahnsteig drängten. „ Hast du das auch genau überlegt“ fragte die Mutter ihre Tochter und ihr Stolz über ihre Tochter, die sich gerade von ihrem liebsten und einzigen
Spielzeug, das ihr geblieben war, getrennt hatte, war unübersehbar. „ Wer war dieser Mann? , fragte die Tochter, „ du hast gesagt, das ist unser Engel“ „Schmitz heißt der Engel, und wenn Gott es so will, werden wir diesen Engel eines Tages wiedersehen.“
In diesem Moment gab die Lokomotive ein Ohren betäubendes Pfeifen von sich, eine mit Ruß durchmischte Dampffontäne schoss in den Himmel und der Zug ruckte langsam an und der Wind blies eine schwarze Rauchwolke am Zugabteilfenster vorbei. Die Mutter schob das Abteilfenster hoch und sank erschöpft auf ihren Platz. Die Mitfahrer im Abteil hatten bereitwillig für die
Kinder Platz gemacht. Mit dem jetzt schreienden Säugling auf dem Arm sah sie aus dem Fenster und sah in der Ferne riesige Rauchwolken über der Stadt, die einmal Dresden gewesen war. Ihre beiden Töchter, vier und zwei alt, hatten es sich auf ihrem Schoß und ihren Beinen bequem gemacht und waren schlagartig eingeschlafen.
Kapitel 2
Dresden, am 8. Oktober 1944
Schon in den frühen Morgenstunden des 8. Oktober 1943 wehte ein lauer Spätsommerwind durch die Hutbergstrasse in Dresden- Rochwitz. In der Stille dieses sonnigen Herbstmorgen hört man das leise Kratzen und Rascheln einiger auf dem Gehsteig liegenden verdorrten Blätter der Kirschbäume, die hier zur Freude der Kinder die Straßen säumen. In der Ferne krähte ein Hahn, ein Hund kläffte und die Vögel zwitscherten wie an einem Frühlingstag. „Was für ein wunderschöner Herbsttag“ dachte die junge hochschwangere Frau aus der Hutbergstraße 22, als sie aus dem Fenster des 1. Stockes auf die Straße
blickt. Hier in dieser fast ländlichen Idylle vor den Toren Dresdens auf einer Anhöhe, die einen weiten Blick Richtung Elbtal erlaubte, hatte sich die junge Familie nach ihrer Hochzeit in Berlin im Februar 1940 in einer Zweizimmer-Wohnung im ersten Stock günstig eingemietet. Abseits vom Großstadttrubel in Dresden und vor allem abseits der großen Städte im Westen und Norden des Reiches, wo, wie sie von Nachbarn gehört hat , Tausende von Menschen bei Bombenangriffen durch die Engländer um Leben gekommen sind. Hier, so sagt man, sei man bombensicher vor den Angriffen der Alliierten, weil die Entfernung von
England nach Dresden viel zu groß sei und es sowieso keiner wagen würde, das Elbflorenz zu bombardieren.
Aus dem Kinderzimmer hörte sie das Plappern ihrer beiden Mädchen, die jetzt Gott sei Dank mit zwei und vier Jahren aus dem Gröbsten raus waren und noch schlaftrunken zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer schlurfen. Die Große schleifte ihre Puppe mit einem Porzellanköpfchen hinter sich her, die ihr Vater ihr zum 3. Geburtstag geschenkt hat und seit dem ihre unzertrennliche Begleiterin war.
Es war an diesem sonnigen Morgen noch nicht einmal 7.00 Uhr , das Zimmer der kleinen Wohnung in der Hutbergstrasse
war durch die hellen Sonnenstrahlen, die das Zimmer durchfluteten hell erleuchtet und die beiden Mädchen blinzelten jetzt in die helle Sonne, die durch das Fenster ihre Gesichter aufwärmte. Sie schmiegten sich beide an die Schürze ihrer Mutter. „ Frühstück, Mutti?“ fragt die Große und die junge Mutter beugt sich hinunter, um ihre beiden Mädchen liebevoll in den Arm zu nehmen und zu herzen. Wie jeden Tag gab es das Lieblingsfrühstück der Kinder. Während die große Katharina auf ihren Stuhl rutschte, durfte die kleine Schwester Barbara auf dem Schoß ihrer Mutter sitzen und wurde mit einem Teelöffel gefüttert. Es gab Mempe, ein Brei aus
Haferflocken, Milch und Zucker und beide Kinder konnten sich nichts Schöneres vorstellen.
Unter der Schürze der Mutter wölbte sich bereits ein beträchtliches Bäuchlein, das auch der großen Tochter mit den langen geflochtenen Zöpfen nicht verborgen geblieben war, und Anlass zu mehrfach täglich Fragen nach einen Brüderchen gab. Die zierliche Frau mit den langen dunklen, nach oben und hinten gesteckten gewellten Haaren, beantworte diese Fragen mit einen feinsinnigen schmunzelnden Lächeln, das allerdings unübersehbar auch von einem Zug trauriger und sorgenvoller Miene begleitet war. „ Ja, meine geliebte
Katharina, ein Brüderchen, so Gott es will“ und strich ihrer Tochter dabei liebevoll über den Kopf und die blonden langen Zöpfe. Dann schmiegte sich die Tochter gedankenversunken minutenlang an den Bauch der Mutter und freute sich schon, das Brüderchen in das Abendgebet einschließen zu dürfen.
Die junge Mutter Margarethe Schneeberg hatte bisher kein leichtes Leben hinter sich gebracht. Als jüngstes von vier Kindern eines despotischen aus kleinen ostpreußischen Verhältnissen stammenden Latein- und Französischlehrers, der als besonders intelligent aufgefallenes Kind auf
Empfehlung seiner Lehrer über ein Stipendium gefördert worden war, musste sie nach dem frühen Tode ihrer Mutter mit Kinderfrauen und Geliebten ihres Vaters zurechtkommen, die die Jüngste in dem Chaos einer mutterlosen Familie hin- und herumschubsten. Geboren 1918 in einem Internierungslager in Bern, in dem die Familie nach Gefangennahme des Vaters untergebracht war, wuchs sie in Berlin auf und musste nach der mittleren Reife Kinderkrankenschwester werden, während ihr großer Bruder zum Marinearzt ausgebildet wurde. Im Alter von 21 Jahren hatte sie den fünf Jahre älteren Gartenbauinspektor Siegfried
Schneeberg, den sie schon als 13-jähriges Mädchen bei einer Familienfeier kennengelernt hatte, an einem bitterkalten Wintertag 1940 in Berlin geheiratet. Die Hochzeit war trotz der Kälte euphorisch überlagert von Zuversicht über die Zukunft, und ihr großer Bruder in Offiziersuniform und ihr Vater posierten mit Parteiabzeichen der NSDAP und Hakenkreuzbinde in Siegerpose auf den Hochzeitsfotos. Margarethe Schneebergs Leben war von ihrer Kindheit an trotz aller schrecklichen Erlebnisse in einem mutterlosen Haushalt von Gleichmut, Toleranz und Hilfsbereitschaft geprägt, wahrscheinlich Charaktereigenschaften
ihrer Mutter, die sie nie richtig kennengelernt hatte und sehr früh an einer nicht rechtzeitig erkannten Diphterie gestorben war. Die politischen Ereignisse um sie herum nahm sie mit schicksalsergebenem Gleichmut hin, weil sie nahezu ausschließlich auf das Durchkommen ihrer kleinen, wachsenden Familie gerichtet war. Ihr Ehemann Siegfried Schneeberg war im Auftrage einer Landschafts- und Straßenbaufirma in den besetzten Gebieten in Frankreich unterwegs und sie wusste nicht einmal genau, wo und was er dort machte. Gelegentlich tauchte er an Wochenenden zu Hause auf und die Stimmung war trotz finanzieller Zwänge
und bedrohlichen Nachrichten aus dem Volksempfänger erfüllt von Zuversicht und Glücksgefühl über die wachsende Familie.
Welch ein wunderschöner lauer und sonniger Herbstmorgen, dachte die junge Mutter! Nach kleiner Morgenwäsche, Zähneputzen und frischem Flechten der blonden Zöpfe für die beiden kleinen Mädchen, nahm die Große ihre Puppe in die rechte und die kleine Schwester an die linke Hand, half ihr die Holztreppe hinunter und raus ging es in den Garten, der an eine menschenleere Straße grenzte, die sich Richtung Elbe hin sanft in einem weiten Bogen nach unten senkte und an diesem
Morgen in der frischen klaren Luft die abgeernteten Felder in der Morgensonne in ein sanftes Gold tauchte.
Margarete Schneeberg öffnete die Fenster des kleinen Wohnzimmers zur Straße hin, schaute auf ihre beiden Mädchen im Vorgarten und sog mit einem Gefühl der Glücks über ihre kleine Familie die herrliche frische nach abgeernteten duftenden Luft an diesem sonnigen Sonntagmorgen ein.
An diesem frühen Sonntagmorgen hörte sie in der Ferne aus dem Osten kommend ein leises Motorengeräusch, das ganz anders klang, als das Geräusch der Binnenschiffmotoren, das man bei
Westwind von der Elbe her bis hierher hören konnte.
Die beiden Mädchen waren immer noch völlig versunken in ihr gemeinsames Spiel im Vorgarten, obwohl das Motoren- und Kettenfahrzeuggeräusch jetzt schon sehr viel deutlicher zu hören war.
Am untersten Ende der Senke der Hutberstraße sah jetzt Frau Schneeberg im flimmernden Dunst die grauen Umrisse einer ganzen Fahrzeugkolonne auftauchen, die sich gleichmäßig wie eine Raupe die bogenförmige Straße hinaufbewegte. Der zunehmende Fahrzeuglärm hatte jetzt auch einen Teil der Nachbarschaft aufgeschreckt, die
nun aus ihren Fenstern auf die Straße hinunterblickten. Die Fahrzeugkolonne bestand aus Lastwagen der Wehrmacht, und Kettenfahrzeugen offenbar mit Flugabwehrkanonen, die aus vier Rohren bestand und Baufahrzeugen in Wehrmachtsfarbe, die mit Gerätschaften für den Bau einer Luftabwehrbatterie beladen waren. „Was will denn die Wehrmacht in der Hutbergstrasse ?“ fragte sich Frau Schneeberg, „ das kann doch gar nicht sein“. Inzwischen waren die beiden Mädchen an den Gartenzaun gelaufen und sahen mit staunenden Gesichtern, wie die Kolonne der Militärfahrzeuge in eine kleine Seitenstraße einbog, die auf
der kleinen auf der Gönnsdorfer Höhe hinter ihrem Haus endete. Jetzt waren auch die Soldaten, die auf den Fahrzeugen saßen gegen das Licht deutlich zu erkennen und winkten den Kindern, die sich inzwischen auf der Hutbergstraße versammelt hatten und johlend hinter den Fahrzeugen herliefen, freundlich zu.
Frau Schneeberg lief durch die Wohnung in das Kinderzimmer, zog die noch verschlossenen Vorhänge hastig beiseite und blickte auf die ca. 100 m entfernte Anhöhe hinter dem Haus. Das Grundstück gehörte dem Bauern Anschütz aus Rochwitz und war Teil eines abgeernteten Roggenfeldes, auf
dem nur noch die abgeschnittenen Halme in der Morgensonne scharfe Schatten warfen.
Die Soldaten sprangen von ihren Fahrzeugen und begannen offenbar bestens gelaunt miteinander plaudernd und sogar singend die auf einer Lafette montierte Flugabwehrkanone aufzubauen. Andere kümmerten sich angetrieben von ein paar nicht besonders lauten Kommandos eines Unteroffiziers um die Errichtung einer Zeltunterkunft aus Stangen, die mit einigen Hieben eines kleinen Vorschlaghammers in das Erdreich getrieben wurden, und einer großen dunkelgrünen schweren Plane, die über
das mittlerweile in Windeseile errichteten Stangengerüstes gezogen wurde. Die Planen waren seitlich gefenstert und ließen sich von Innen mittels einer gerollten Plane verschließen.
Inzwischen hatten sich nahezu alle Bewohner der Hutbergstrasse, nahezu ausschließlich Frauen und Kinder und einige wenige ältere Herren hinter dem Haus, in dem die Familie Schneeberg wohnte, versammelt und verfolgten mit einer Mischung aus Bewunderung über die Schnelligkeit mit der man das Zelt und das Flakgeschütz errichtete und Besorgnis darüber, was das alles zu bedeuten hätte. Es wurde leise
untereinander getuschelt, aber den Mut den Unteroffizier zu fragen, brachte keiner auf. Stattdessen kam der Unteroffizier plötzlich mit raschen Schritten auf die sprachlosen Zuschauer zu und stellte sich als Feldwebel Baruth vor und verkündete in freier Rede mit ziemlich freundlicher Stimme, die Heeresführung hätte auf Anweisung des Führers angeordnet, zum Schutze der hier wohnenden Einwohner vier Flugabwehr-kanonen zu errichten und bitte die Bevölkerung um Verständnis und Unterstützung. Es sei zwar richtig, dass es der Feind nicht wagen würde, mit seinen Bombern, die auch gar nicht dazu in der Lage wären, bis nach Dresden zu
fliegen. Die Einwohner sollten nicht besorgt sein, der Führer würde sie schützen und bittet um gesteigerte Aufmerksamkeit und Meldung von außergewöhnlichen Ereignissen in der Umgebung und sofortige Meldung an seine Einheit. Man wünsche sich ein freundliches miteinander. Hob seinen rechten Arm, knallte Hacken seiner frisch gewienerten Stiefel zusammen und rief dann schon im Abdrehen jetzt mit schnarrender Stimme „ Heil Hitler“.
Mehr als ein allgemeines Gemurmel bei den zuschauenden Frauen und älteren Männern war nicht zu vernehmen, von denen sich jetzt die meisten mit sorgenvoller Miene abwendeten und
sich auf den Weg nach Hause machten. Jedenfalls war ein „Heil Hitler“ nicht zu vernehmen und ein deutscher Gruß nicht auszumachen.
Kapitel 3
Dresden, am 16. Februar 1945
Jetzt tief in der Nacht des 16. Februar eingehüllt in einer wärmenden Decke kam Frau Schneeberger endlich zur Ruhe. Nach vier fast schlaflosen Nächten lagen die derzeitigen Bewohner der kleinen Wohnung in der Hutbergstraße zu Neunt wie die Ölsardinen auf dem Ehebett der Familie Schneeberger
schliefen nach den schrecklichen Ereignissen der letzten drei Tage tief und fest und selbst die Gutsherrin Margarete Martin hatte sich ohne Murren mit ihrer neuen Schlafstätte abgefunden. Sie selbst würde bei ihren Kindern auf einer Matratze schlafen.
Bei flackerndem Kerzenlicht setzte sie sich an den Küchentisch und schrieb mit ruhiger Hand einen neuen Brief an ihren Mann Siegfried, der in Hamburg ein wahrlich kümmerliches Dasein führte und vor Sehnsucht nach seiner Familie fast verging. Jede Minute der wenigen Freizeit verbrachten die Beiden seitenlange Briefe voller Liebe und Mitgefühl, aber auch voller Hoffnung zu
schreiben.
Dieses war der erste Brief nach den furchtbaren, entsetzlichen Ereignissen in ihrer Heimatstadt Dresden.
Mein geliebter Herzensmann,
ganz schnell einen Gruß und Lebenszeichen von uns. Es ist wie ein Wunder, dass wir alle noch am Leben sind und sogar alle noch ein Dach über dem Kopf haben und das alles in unserem eigenen kleinen Wohnungel. Wie durch ein Wunder haben alle unseren Lieben unversehrt den Weg hierher gefunden, dazu kamen auch noch zwei hilfsbereite Herren, die sich uns auf dem Weg von Bahnhof
Dresden-Neustadt angeschlossen haben.
Es ist ein schreckliches Elend, was über unser Dresden gekommen ist und mit Worten nicht zu beschreiben, was wir auf dem Wege von Weißwasser bis hierher erlebt haben. Und dennoch ist uns ein Wunder passiert. Ohne dieses Wunder wären unsere drei Kinder und ich hier nicht wohlbehalten angekommen und wir alle nicht mehr am Leben.
Aus Weißwasser mussten wir am 13. Februar Hals über Kopf schnellstens bei Tante Trude raus, weil die russische Front sich rasch der Oder bis auf wenige Kilometer genähert hatte. In den Straßen von Weißwasser haben wir die
nicht enden wollenden, unglückseligen Flüchtlingsströme aus dem Osten gesehen. Der Bahnhof in Weißwasser war dicht von Menschen besetzt, Kopf an Kopf auf jedem Bahnsteig, eine einzige Anhäufung von verzweifelten, stummen Menschen, nur das Schreien der Kinder, die sich an die Mütter klammerten war markerschütternd.
Mein lieber Mann, unsere beiden Mädchen verhielten sich sehr diszipliniert und unsere Große hielt ihre geliebte Puppe fest an sich gedrückt. Unser Sohnemann schlummerte friedlich im Kinderwagen, als sei nichts geschehen.
Der Zug war völlig überfüllt, aber alle
Menschen waren sehr hilfsbereit, viele auch völlig apathisch und erschöpft vom langen Fußmarsch aus dem Osten. Auf dem Bahnhof Großenhain wurde der Zug plötzlich gestoppt, weil, so wurde durchgesagt, ein Angriff der Alliierten auf Dresden erfolgen würde. Und tatsächlich konnten wir vom Zug aus in der Ferne gegen 22.00 Uhr die Angriffe verfolgen und eine riesige Rauchsäule aus einer glutroten erleuchteten Stadt sehen. Ein grausam schönes Bild! Hätten wir hier nicht gestoppt, wären wir alle in diesem schrecklichen Inferno umgekommen. Die Menschen im Zug waren zugleich entsetzt aber auch froh, dass sie dem sicheren Tod
entkommen waren. Wir sind dann nach einer kleinen Mahlzeit aus unseren mitgenommenen Vorräten erschöpft im Zug eingeschlafen.
Am nächsten morgen fuhr der Zug dann weiter. In Radebeul-Ost war dann wieder Schluss, weil alle Bahnhöfe in Dresden durch den Angriff zerstört waren. Auf dem Bahnhof herrschte ein schreckliches Chaos von dichtgedrängten völlig verzweifelten Menschen: Einige ältere Männer, Frauen mit ihren Kindern und Soldaten. Der eine Teil wollte nach Dresden hinein, der andere Teil aus Dresden raus. Und wir mitten drin in der Menschenmenge mit Köfferchen und
einer Kanne mit Marmelade, die uns Tante Trude mitgegeben hatte. Ich war ziemlich verzweifelt und sah keine Möglichkeit, wie ich diesem dichten Gedränge mit den Kindern und dem Kinderwagen auf den anderen Bahnsteig kommen sollte, auf dem ein Zug um Dresden herum nach Dresden- Neustadt fahren sollte.
Plötzlich stand ein SS-Offizier in einem verstaubten nach verbranntem Fleisch riechenden Mantel vor mir und fragte sehr höflich, ob er mir helfen könnte. Ich solle die beiden Mädchen nehmen, die Gepäckstücke in der Bahnhofshalle abgeben, er würde den Säugling und den Kinderwagen hinüberbringen. Wir
drängen uns zu Dritt durch die Unterführung. Die Gepäckaufbewahrung war tatsächlich noch geöffnet und einen Platz im Zug zu bekommen war nicht so schwer, weil die Menschen trotz des Chaos hilfsbereit waren und zwei Plätze in einem Abteil für uns frei machten. Wenig später sah ich den hochgewachsenen Offizier mit dem Kinderwagen über den Kopf auf unserem Bahnsteig und winkte ihm zu. Er nahm unseren kleinen Sohn aus dem Wagen, reichte ihn mit einem feinen Lächeln in seinen mit Ruß verstaubten Gesicht durchs Fenster. Unsere Große war völlig begeistert von diesem Mann und fragte, wer dieser Mann sei. Das ist
ein Engel, den uns der Herrgott geschickt hat, hab ich ihr gesagt. Da nahm sie ihre geliebte Puppe und reichte sie dem Offizier durchs Fenster und flüsterte "Danke Herr Offizier". Der presste die Puppe fest an sich und drehte sich wortlos um,schob den Kinderwagen in den Waggon und verschwand dann rasch im Menschengedränge.
Mein geliebter Mann, dieser Offizier hat sogar seinen Namen genannt, er hieß Volkhardt Schmitz. Sollte dieser schreckliche Krieg jemals zu Ende gehen, so würde ich gerne diesen von Gott geschickten Engel wiederfinden wollen!
Vom Bahnhof Dresden-Neustadt mussten wir dann fast 20 km zu Fuß über den Nordrand nach Rochwitz über die Bautzner Straße und Bühlau gehen, wo ich als Schwester gearbeitet habe. Begleitet haben uns zwei Männer, die uns eine große Hilfe waren. Am Mittag gab es am hellerlichten Tag einen erneuten Angriff auf das Stadtzentrum, das wir aus der Ferne mitansehen mussten. Es war alles so schrecklich und die Kinder völlig verängstigt. Am Abend sind wir dann total erschossen in der Hutbergstraße angekommen. Mir ist es ein Rätsel, wie unsere beiden Mädchen ohne zu nörgeln diese 20 km geschafft haben!
Und stell dir vor, wen wir alles in unserer kleinen Wohnung vorfanden. Und die erstaunten Gesichter unserer Verwandtschaft. Unsere Tante Grete aus Wangleve, Meine Schwester Elisabeth aus Ostpreußen, die Trebschener Leutchen, dein Bruder Michael, deine Schwester Eleonore. Alle waren bei allem Elend total froh, dass man sich hier wiedergefunden hatte, obwohl alle nun noch enger zusammen rücken mussten. Nur keiner wusste, wo unser Väterchen abgeblieben war, das Haus in der Eisenstuckstrasse ist jedenfalls völlig zerbombt. Die kleine Katharina von Herrmanns ist während der Flucht aus Trebschen an einer
Lungenentzündung verstorben und mit in das Grab deiner Mutter gelegt worden . Die beiden freundlichen Herren, die uns bei unserem "Spaziergang" begleitet und geholfen haben, sind schon am nächsten Tag mit unbekannten Ziel verschwunden, so dass wir jetzt hier mit 10 Personen zurecht kommen müssen, aber in der Not geht alles und schweißt zusammen. Wir haben wegen der Stromsperre kein Licht, aber Gott sei Dank ein paar Kerzen. und zu Essen ist auch genug da. Unsere Große vermisst ihre Puppe und hat auch schon bitterliche Tränen vergossen. Ich habe ihr versprochen, dass wir den Mann mit ihrer Puppe wiederfinden werden.
So mein geliebter Mann, ich muss jetzt Schluss machen, mir fallen die Augen zu, bleib gesund und tapfer. Eines Tages nach all diesen schrecklichen Ereignissen werden wir als Familie wieder zusammen sein und die Zeit mit unseren Kindern genießen können.
Wir denken immer an dich, und ich denke voller Sehnsucht an meinen Mann.
Deine Kinder umarmen Dich und alle lassen Dich grüssen
Dein Weibel
Kapitel 4 15.2.45: Im Zug nach Prag Obersturmführer Volkardt Schmitz sackte nach mehr als 40 Stunden ohne Schlaf und höchster Anspannung völlig erschöpft auf seinen Sitz im Zug nach Prag, presste die Porzellanpuppe unter seinem Mantel fest an sich und versank zufrieden über seine gute Tat auf dem Bahnhof Radebeul-Ost in einen tiefen Schlaf. Beim Warten auf den Zug konnte er noch in der Ferne die riesigen den Himmel verdunkelnden Rauchsäulen über der
immer noch brennenden Stadt Dresden sehen. Seine Gedanken schwankten zwischen Wut und Hass auf die Alliierten, die sein geliebtes Dresden in Schutt und Asche gebombt und den Tod von Zehntausendenden von Menschen durch Brandbomben erbarmungslos in Kauf genommen haben, aber auch zwischen Verzweiflung über die immer auswegloser scheinende Situation der Deutschen Armee und der Zukunft des deutschen Reiches und seiner Zukunft, seiner Liebe. „ Ich schwöre Dir Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe Dir und den
von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe“ Hatte er nicht diesen Eid, den er als SS-Rekrut geschworen hatte, tausendfach in den letzten Jahren in sich hineingefressen, auch als in Charkow Hunderte seiner tapferen Kameraden der Leibstandarte an seiner Seite fielen, als man bolschewistische Partisanen, bolschewistische Kriegsgefangene und verhasste jüdische Zivilisten für die heroische Zukunft eines zukünftigen Großdeutschland vernichtete. Und jetzt soll das alles umsonst gewesen sein? Zum ersten Mal in seinem Leben
beschlich ihn das Gefühl von Angst und Ausweglosigkeit für Deutschland aber auch seiner eigenen Situation. Hatte er nicht eine große Liebe mit der er und gemeinsamen Kindern in einer glücklichen Zukunft leben wollte. Was war das für eine herrliche Zeit als er als junger Mann von 17 Jahren zum ersten Mal vor der Kaserne der Leibstandarte Adolf Hitler in Berlin - Lichtenfelde stand. Er, als Auserwählter, durfte durch das riesige Eingangstor schreiten, das flankiert war von aus Stein gehauenen baumlangen SS-Männern im Stahlhelm mit ihren langen Mänteln und mit vor die Mitte des
Körpers gesetzten Gewehren. In schwarzen Lettern stand quer über dem mächtigen Eingangsportals „Leibstandarte Adolf Hitler“ und darüber hing ein riesiger schwarzer Adler, der sich gegen den strahlenden blauen Himmel abhob, als er ehrfurchtsvoll nach oben schaute. Das war der bisher schönste Moment in seinem Leben gewesen, und noch heute lief es kalt den Rücken herunter, wenn es an diesem Moment zurückdachte. Hier, wo schon Göring und Hindenburg ihre Kadettenzeit verleben durften, war sein neues Zuhause, seine neuen
Freunde und Kameraden, alle mit einem Ziel, die Vernichtung der deutschen Feinde für ein blühendes neues Großdeutschland. Wir sind die schwarze Garde die nie ein Feind gefällt; des Führers Leibstandarte das beste Korps der Welt! Dieser Refrain schalte ihm schon von einer Gruppe von Kameraden entgegen,
die von einer Übung zurückgekehrt waren, als er mit seinem Gestellungsbefehl das Gebäude betrat. Es wurde im Kreise seiner Kameraden trotz der harten Ausbildung die schönste Zeit seines Lebens. Mit diesen Gedanken stieg er in den Zug nach Prag ein und die Vorstellung, dass nun alles zusammenbrechen könnte, verflog rasch und er schlief ein, sobald er sich auf seinen Platz gesetzt hatte
und sorgfältig darauf geachtet hatte, dass die Puppe unter seinem Mantel blieb. Diese Puppe wird ihn sein Leben lang begleiten, der Beweis für seine Herzensgüte eines aufrechten deutschen Bürgers und Offiziers.
Die Puppe
Struktur:
Geschichte 1: Obersturmführer S auf dem Wege nach Dresden und Tätigkeit in Dresden
Geschichte 2 : Frau B. mit 3 kleinen Kindern auf dem Weg nach Dresden
Geschichte 3 : auf dem Bahnhof vor Dresden
Geschichte 4 : zu Hause bei Hauptsturmführer S, die Offenbarung
Geschichte 5 : Geschichte der Puppe
Kapitel 1
Schon während Obersturmführer Volkardt Schmitz die Treppe des Bahnhofs Radebeul-West mit hastigen Schritten hinunter stürzte, erfasste ihn eine nicht beherrschbare Ergriffenheit, und er begann hemmungslos zu weinen. Der SS-Offizier in seiner grauen, verschmutzten Uniform mit einem penetranten Geruch nach verbranntem Fleisch, lehnte sich an die Mauer des Bahnhofeinganges. Der Mauer zugewandt versuchte er, sein Gesicht hinter seinen prankenartigen Händen zu verbergen. Sein massiger Körper bebte, und Tränen rannen durch die Finger auf den Mantel seiner Uniform, an die er mit seinen Armen eine unbekleidete Porzellanpuppe an die Brust gepresst hielt. Das mit Tränen benetzte Köpfchen der Puppe hing mit ihren strähnigen blonden Haaren über dem Ärmel von Schmitz Uniformjacke mit halb zugeklappten Augen, die sich im Takt des schluchzenden blonden Hünen zur Hälfte öffneten.
An diesem Tag, dem 15. Februar 1945 hatte der 21-jährige Schmitz nach mehr als zehn Jahren das erste Mal in seinen Leben wieder geweint und er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass ihm in den letzten zehn Jahren zum Weinen zumute gewesen wäre.
Gestern, als er in Dresden am Elbufer das Aufschichten und Identifizieren der verbrannten und bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Tausenden von Leichen befehligen musste, hatte ihn nur eine unbändige Wut über die Engländer und Amerikaner erfasst, aber auch zum ersten Mal eine Spur von Zweifel verspürt, ob das große Ziel, dem er sich als Jugendlicher verschrieben hatte, in Erfüllung gehen würde.
Während hinter ihm verzweifelte, schreiende Frauen an ihren Händen weinende Kinder hinter sich herziehend scheinbar orientierungslos aus und in den Bahnhof strömten, dachte er an seine eigene Mutter, die ihm im Alter von 17 Jahren mit Tränen in den Augen eine schallende Ohrfeige versetzte, als er ihr mit versteinerter Miene eröffnete, dass er sich ab sofort freiwillig bei der SS verpflichtet hätte, um von nun an seinem Führer und dem Vaterland zu dienen. Er hatte sich wortlos umgedreht, seine Sachen gepackt und das Haus verlassen. Seitdem hatte er seine Mutter nie wieder gesehen.
Schmitz verbarg die Puppe jetzt unter seinem weiten Mantel und stieg mit schleppenden Schritten die Bahnhoftreppe zum Bahnsteig wieder hinauf, wo in wenigen Minuten sein Zug abfahren sollte, der ihn ohnehin schon einen Tag zu spät nach Prag bringen sollte.
Schmitz hatte eine schwere Zeit hinter sich. Während seines letzten Fronteinsatzes in Charkov als Sturmführer der Leibstandarte Adolf Hitlers wurde er im März 1943 durch einen Bauchschuss so schwer verletzt, dass keiner mehr einen Heller für ihn gegeben hätte. Bei einem erfolgreichen heroischen Ausbruchversuch, aus der bereits von den Sowjets wieder eingeschlossenen Stadt wurde der besinnungslose Schmitz von seinen Kameraden der Leibstandarte auf einen Panzer gebunden und ins nächste Lazarett gebracht. Nach einer stundenlangen Notoperation hat Schmitz überlebt. Es folgte ein monatelanger Aufenthalt in einem Lazarett in der Nähe von Berlin und einem Sanatorium-Aufenthalt in Schleswig-Holstein. Danach hatte die SS-Führung ihn zunächst vom Frontdienst freigestellt und ihm ein Jurastudium in Prag ermöglicht. In der Uniform eines Offiziers der Leibstandarte Adolf Hitlers im Hörsaal der juristischen Fakultät in Prag. Schmitz gefiel das und seiner Freundin Johanna in Berlin auch.
Drei Wochen hatte Schmitz bei seiner Freundin Johanna in Berlin verbracht, die einer Tätigkeit im Sekretariat Reichssicherheitshauptamt nachging. Auch sie hatte drei Wochen Urlaub, sogar mit ausdrücklicher Genehmigung ihres Chefs Ohlendorf nehmen dürfen. Sie hatten diese Zeit genossen und in Zukunftsplänen für die „Zeit danach“ geschwelgt. Die Zeit nach diesem verdammten Krieg, der kein Ende nehmen wollte. Eine Familie gründen mit vielen Kindern inmitten von Menschen, die mit erhobenem Haupt mitten in Europa einer blühenden Zukunft entgegen sehen dürfen.
Inmitten einer dicht gedrängten Menge verängstigter Frauen, Kinder , ältere Männer und einigen Soldaten stand auch Sturmführer Schmitz, die meisten Mitreisenden um mindestens Haupteslänge überragend, und wartete auf den Zug nach Prag.
Anders als vorhin auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig herrschte hier in den Menschtrauben eine beklemmende Stille. Der kalte Wind fegte durch die vermummten Menschen, und Schmitz vernahm nur ein leises Wimmern von Kindern. Es schien, als ob die Menschen meist mit zum Boden gesenkten Köpfen inne hielten, um über das in den letzten zwei Tagen geschehene nachzudenken. Auch Schmitz, der immer noch die Puppe fest an seinen Leib drückte, verspürte jetzt nach Abklingen des für ihn unbegreiflichen emotionalen Ausbruchs, eine aufsteigende Müdigkeit und Ruhe, und er begann über das nachzudenken, was sich hier auf diesem Bahnhof in Radebeul-Ost abgespielt hatte. Eigentlich hätte er schon gestern in Prag bei seiner Einheit zurück sein müssen, aber die Ereignisse der letzten zwei Tage in Dresden dürften sich bis nach Prag herumgesprochen haben, und ein Disziplinarverfahren wegen Überschreitung seiner Urlaubszeit nicht eingeleitet werden. Schmitz war vom Wege aus Berlin nach Prag über Dresden in einem unvorstellbaren Inferno gelandet, das bei weitem das übertraf, was er an der Front in der Ukraine erlebt hatte. Eine noch brennende, glühende Stadt mit einer Unzahl in den Straßen liegender verkohlter Leichen, verzweifelte herum irrende schreiende Menschen auf der Suche nach ihren Angehörigen. Der Tod war dem 21-jährigen Soldat nicht fremd, neben ihm gefallene Kameraden, in Massen tote Soldaten des bolschewistischen Todfeindes , aus Rache für durch Partisanen getötete Kameraden willkürlich erhängte Dorfbewohner und erschossene Politoffziere des Feindes , und auch jüdische Männer, Frauen und Kinder , die in den Dörfern zusammengetrieben und außerhalb der Ortschaft erschossen wurden, weil es sein oberster Vorgesetzter Heinrich Himmler, dessen Rede er in der Universität von Charkov als junger Offizier miterleben durfte, so befohlen hatte. Und auch die gnadenlosen Erschießungen von schwerer verwundeten Kriegsgefangenen, an denen auch er beteiligt war, all das war Krieg, Krieg gegen den Bolschewismus und das Judentum, die gemeinsam die germanische Kultur vernichten wollten. Und deswegen war dieser Krieg gerecht und notwendig, davon waren Schmitz und seine Kameraden von der Leibstandarte fest überzeugt.
Die glühende Stadt Dresden hatte den jungen SS-Offizier neben seiner Wut auf Engländer und Amerikaner erstmals auch nachdenklich gemacht. Ein 21-jähriger SS-Offizier, sein begonnenes Jurastudium in Prag, seine geliebte Freundin in Berlin, sein Traum über eine zukünftige Familie, in ihm keimte die Befürchtung auf, dass all das , so wie diese Stadt in Schutt und Asche versinken könnte. Sein improvisiertes Kommando über die Bergung der Leichen, der versuchten Identifikation und das Aufstapeln der Leichen am Elbufer zum Verbrennen nahm ihn aber in seinem Pflichtgefühl so gefangen, dass er diesen Gedanken nicht mehr weiter nachhing, sondern seine Wut über das Geschehene eher in den Gefühlen „ jetzt erst recht“ mündete.
Das war gestern. Er hatte seitdem keine Sekunde geschlafen, aber das, was heute hier auf diesem Bahnhof passiert war, ließ ihn nicht mehr los. Immer noch hielt er die Puppe unter seinem Uniformmantel fest an seinen Körper gedrückt. Obwohl auf diesem Bahnsteig kein Mensch auch nur einen einzigen Gedanken dafür verschwendet hätte, ihn zu beobachten, wäre es ihm peinlich gewesen, wenn jemand bei einem Offizier der Leibstandarte Adolf Hitlers eine Puppe unter seiner Uniformjacke entdeckt hätte. Die Puppe hatte ihm ein fünfjähriges Mädchen mit einem Gesichtsausdruck tiefer Dankbarkeit überreicht, als er einen Säugling, der offenbar ihr Bruder war, durch das geöffnete Fenster des Eisenbahnwaggons gereicht hatte.
Er hatte die völlig verzweifelte Mutter mit zwei kleinen Mädchen und einem Säugling im Kinderwagen und zwei neben dem Kinderwagen stehenden Koffern im Geschreie und Gedränge auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig entdeckt, der nur durch einen Tunnel zu erreichen war. Durch das rücksichtslose Gedränge und Geschiebe der verzweifelten Menschenmassen auf dem Bahnsteig drohte diese kleine deutsche Familie in dem Chaos unterzugehen.
So schien es Schmitz und er drängte sich mit seinem hünenhaften in einer SS-Uniform steckenden Körper durch die Menschenmassen, die ängstlich zur Seite wichen als sie ihn sahen und baute sich vor der kleinen Familie auf. Er blickte der verzweifelten Mutter in die Augen und sagte: „ Vertrauen sie mir, ich heiße Volkardt Schmitz, bin Offizier, gehen sie mit ihren beiden Töchtern zu ihrem Bahnsteig, steigen sie in ihren Zug, ich bringe ihnen den Säugling im Kinderwagen nach und reiche ihnen den Säugling durch das Abteilfenster in das Abteil. Die Koffer geben sie in die Gepäckaufbewahrung, die funktioniert noch “ Die Frau erstarrte förmlich, nickte mit gesenktem Kopf und sagte leise: “ Ja, danke, Herr Offizier“. Schmitz packte den Kinderwagen, schwang ihn über seinen Kopf und verschwand zwischen den Menschenmassen, über deren Köpfen der Kinderwagen sich langsam von der Frau, deren Töchter sich ängstlich an sie gepresst hatten, weg bewegte. „ Mutti, wer ist dieser Mann“ fragte die ältere der beiden, die in der einen Hand eine Milchkanne und in der anderen eine Puppe mit Porzellanköpfchen. „Das ist ein Engel, den uns der Herrgott geschickt hat“ entgegnete die Mutter packte die beiden Koffer und schob die beiden Mädchen durch die Menschentrauben vor sich her Richtung Bahnsteigtreppe.
Nachdem es der Mutter gelungen war, die Koffer in der Gepäckaufbewahrung abzugeben, drängte sie sich mit ihren beiden Töchtern die Treppe zum Bahnsteig hoch, wo bereits der Zug Richtung Dresden-Neustadt stand und das Gekreische und Jammern der Menschen wurde nur vom Zischen und Schnaufen der Lokomotive übertönt. Trotz all der Not und der Erregung der Menschen um sie herum gab es einige , die versuchten, ihr den Weg zum Waggon zu bahnen, wo sie schließlich in einem Abteil einen Platz fand, den man bereitwillig für die frei gemacht hatte. Erschöpft lehnte sie sich aus dem Abteilfenster und sah, wie sich der Kinderwagen mit ihrem Säugling über die Köpfe hinweg langsam auf ihr Abteil zu bewegte. „ Hier, Herr Offizier, bitte hierher“ rief sie winkend aus dem Abteilfenster und tatsächlich bewegte sich jetzt der Kinderwagen direkt auf sie zu. Der Offizier, dem sie jetzt, wo er vor dem Abteil stand und vom Bahnsteig aus zu ihr hochblickte, in die Augen schauen konnte, hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit weichen Zügen, blauen Augen und blonden verrußten Haaren. „ Sie sind mein Engel, meine Kinder und ich werden es ihnen ewig danken und sie nie vergessen.“ Der Offizier stellte den Kinderwagen vor sich ab nahm den Säugling, der trotz des Getöses und Stimmenwirrwarr fest schlief, hoch und aus dem Kinderwagen schob ihn durch das Fenster in das Zugabteil in die Arme der jungen Frau. „Den Kinderwagen stelle ich in den Eingangsbereich des Waggons“ sagte der Offizier. Die älteste, Tochter der Frau hatte sich auf den Sitzplatz gestellt stand jetzt auch am Fenster. „ Bitte, mein Herr, ich möchte dir meine Puppe schenken, weil du unser Engel bist , danke für alles.“ Der Offizier machte noch nicht einmal Anstalten, dieses Geschenk zurückzuweisen, er nahm die Puppe wortlos an sich, klemmte sie unter seinen Uniformmantel , drehte seinen Kopf mit Tränen in den Augen rasch zur Seite, schob den Kinderwagen zum Eingang des Waggon, bugsierte ihn durch die Tür in den Waggon und verschwand mit raschen Schritten zwischen den Menschen, die sich auf dem Bahnsteig drängten. „ Hast du das auch genau überlegt“ fragte die Mutter ihre Tochter und ihr Stolz über ihre Tochter, die sich gerade von ihrem liebsten und einzigen Spielzeug, das ihr geblieben war, aus Dankbarkeit getrennt hatte, war unübersehbar. „ Wer war dieser Mann?“ , fragte die Tochter „ du hast gesagt, das ist unser Engel“ „Schmitz heißt der Engel, und wenn Gott es so will, werden wir diesen Engel eines Tages wiedersehen.“
In diesem Moment gab die Lokomotive ein Ohren betäubendes Pfeifen von sich, eine russdurchtränkte Dampffontäne schoss in den Himmel, der Zug ruckte langsam an und der Wind blies eine schwarze Rauchwolke am Zugabteilfenster vorbei. Die Mutter schob das Abteilfenster hoch und sank erschöpft auf ihren Platz. Die Mitfahrer im Abteil hatten bereitwillig für die Kinder Platz gemacht. Mit dem jetzt schreienden Säugling auf dem Arm sah sie aus dem Fenster und sah in der Ferne riesige Rauchwolken über der Stadt, die einmal Dresden gewesen war. Ihre beiden Töchter, vier und zwei alt, hatten es sich auf ihrem Schoß und ihren Beinen bequem gemacht und waren schlagartig eingeschlafen.
Kapitel 2
Schon in den frühen Morgenstunden des 8. Oktober 1943 wehte ein lauer Spätsommerwind durch die Hutbergstrasse in Dresden- Rochwitz. In der Stille dieses sonnigen Herbstmorgen hört man das leise Kratzen und Rascheln einiger auf dem Gehsteig liegenden verdorrten Blätter der Kirschbäume, die hier zur Freude der Kinder die Straßen säumen. In der Ferne krähte ein Hahn, ein Hund kläffte und die Vögel zwitscherten wie an einem Frühlingstag. „Was für ein wunderschöner Herbsttag“ dachte die junge hochschwangere Frau aus der Hutbergstraße 22, als sie aus dem Fenster des 1. Stockes auf die Straße blickt. Hier in dieser fast ländlichen Idylle vor den Toren Dresdens auf einer Anhöhe, die einen weiten Blick Richtung Elbtal erlaubte, hatte sich die junge Familie nach ihrer Hochzeit in Berlin im Februar 1940 in einer Zweizimmer-Wohnung im ersten Stock günstig eingemietet. Abseits vom Großstadttrubel in Dresden und vor allem abseits der großen Städte im Westen und Norden des Reiches, wo, wie sie von Nachbarn gehört hat , Tausende von Menschen bei Bombenangriffen durch die Engländer um Leben gekommen sind. Hier, so sagt man, sei man bombensicher vor den Angriffen der Alliierten, weil die Entfernung von England nach Dresden viel zu groß sei und es sowieso keiner wagen würde, das Elbflorenz zu bombardieren.
Aus dem Kinderzimmer hörte sie das Rumoren ihrer beiden Mädchen, die jetzt Gott sei Dank mit zwei und vier Jahren aus dem Gröbsten raus waren und noch schlaftrunken zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer schlurfen. Die Große schleifte ihre Puppe mit einem Porzellanköpfchen hinter sich her, die ihr Vater ihr zum 3. Geburtstag geschenkt hat und seit dem ihre unzertrennliche Begleiterin war.
Es war an diesem sonnigen Morgen noch nicht einmal 7.00 Uhr , das Zimmer der kleinen Wohnung in der Hutbergstrasse war durch die hellen Sonnenstrahlen, die das Zimmer durchfluteten hell erleuchtet und die beiden Mädchen blinzelten jetzt in die helle Sonne, die durch das Fenster ihre Gesichter aufwärmte. Sie schmiegten sich beide an die Schürze ihrer Mutter. „ Frühstück, Mutti?“ fragt die Große und die junge Mutter beugt sich hinunter, um ihre beiden Mädchen liebevoll in den Arm zu nehmen und zu herzen. Wie jeden Tag gab es das Lieblingsfrühstück der Kinder. Während die große Katharina auf ihren Stuhl rutschte, durfte die kleine Schwester Barbara auf dem Schoß ihrer Mutter sitzen und wurde mit einem Teelöffel gefüttert. Es gab Mempe, ein Brei aus Haferflocken, Milch und Zucker und beide Kinder konnten sich nichts Schöneres vorstellen.
Unter der Schürze der Mutter wölbte sich bereits ein beträchtliches Bäuchlein, das auch der großen Tochter mit den langen geflochtenen Zöpfen nicht verborgen geblieben war, und Anlass zu mehrfach täglich Fragen nach einen Brüderchen gab. Die zierliche Frau mit den langen dunklen, nach oben und hinten gesteckten gewellten Haaren, beantworte diese Fragen mit einen feinsinnigen schmunzelnden Lächeln, das allerdings unübersehbar auch von einem Zug trauriger und sorgenvoller Miene begleitet war. „ Ja, meine geliebte Katharina, ein Brüderchen, so Gott es will“ und strich ihrer Tochter dabei liebevoll über den Kopf und die blonden langen Zöpfe. Dann schmiegte sich die Tochter gedankenversunken minutenlang an den Bauch der Mutter und freute sich schon, das Brüderchen in das Abendgebet einschließen zu dürfen.
Die junge Mutter Margarethe Schneeberg hatte bisher kein leichtes Leben hinter sich gebracht. Als jüngstes von vier Kindern eines despotischen aus kleinsten ostpreußischen Verhältnissen stammenden Latein- und Französischlehrers, der als besonders intelligent aufgefallenes Kind auf Empfehlung seiner Lehrer über ein Stipendium gefördert worden war, musste sie nach dem frühen Tode ihrer Mutter mit Kinderfrauen und Geliebten ihres Vaters zurechtkommen, die die Jüngste in dem Chaos einer mutterlosen Familie hin- und herumschubsten. Geboren 1918 in einem Internierungslager in Bern, in dem die Familie nach Gefangennahme des Vaters untergebracht war, wuchs sie in Berlin auf und musste nach der mittleren Reife Kinderkrankenschwester werden, während ihr großer Bruder zum Marinearzt ausgebildet wurde. Im Alter von 21 Jahren hatte sie den fünf Jahre älteren Gartenbauinspektor Siegfried Schneeberg, den sie schon als 13-jähriges Mädchen bei einer Familienfeier kennengelernt hatte, an einem bitterkalten Wintertag 1940 in Berlin geheiratet. Die Hochzeit war trotz der Kälte euphorisch überlagert von Zuversicht über die Zukunft, und ihr großer Bruder in Offiziersuniform und ihr Vater posierten mit Parteiabzeichen der NSDAP und Hakenkreuzbinde in Siegerpose auf den Hochzeitsfotos. Margarethe Schneebergs Leben war von ihrer Kindheit an trotz aller schrecklichen Erlebnisse in einem mutterlosen Haushalt von Gleichmut, Toleranz und Hilfsbereitschaft geprägt, wahrscheinlich Charaktereigenschaften ihrer Mutter, die sie nie richtig kennengelernt hatte und sehr früh an einer nicht rechtzeitig erkannten Diphterie gestorben war. Die politischen Ereignisse um sie herum nahm sie mit schicksalsergebenem Gleichmut hin, weil sie nahezu ausschließlich auf das Durchkommen ihrer kleinen, wachsenden Familie fokussiert war. Ihr Ehemann Siegfried Schneeberg war im Auftrage einer Landschafts- und Straßenbaufirma in den besetzten Gebieten in Frankreich unterwegs und sie wusste nicht einmal genau, wo und was er dort machte. Gelegentlich tauchte er an Wochenenden zu Hause auf und die Stimmung war trotz finanzieller Zwänge und bedrohlichen Nachrichten aus dem Volksempfänger erfüllt von Zuversicht und Glücksgefühl über die wachsende Familie.
Welch ein wunderschöner lauer und sonniger Herbstmorgen, dachte die junge Mutter! Nach kleiner Morgenwäsche, Zähneputzen und frischem Flechten der blonden Zöpfe für die beiden kleinen Mädchen, nahm die Große ihre Puppe in die rechte und die kleine Schwester an die linke Hand, half ihr die Holztreppe hinunter und raus ging es in den Garten, der an eine menschenleere Straße grenzte, die sich Richtung Elbe hin sanft in einem weiten Bogen nach unten senkte und an diesem Morgen in der frischen klaren Luft die abgeernteten Felder in der Morgensonne in ein sanftes Gold tauchte.
Margarete Schneeberg öffnete die Fenster des kleinen Wohnzimmers zur Straße hin, schaute auf ihre beiden Mädchen im Vorgarten und sog mit einem Gefühl der Glücks über ihre kleine Familie die herrliche frische Luft an diesem sonnigen Sonntagmorgen ein.
An diesem frühen Sonntagmorgen hörte sie in der Ferne aus dem Osten kommend ein leises Motorengeräusch, das ganz anders klang, als das Geräusch der Binnenschiffmotoren, das man bei Ostwind von der Elbe her bis hierher hören konnte.
Die beiden Mädchen waren immer noch völlig versunken in ihr gemeinsames Spiel im Vorgarten, obwohl das Motoren- und Kettenfahrzeuggeräusch jetzt schon sehr viel deutlicher zu hören war.
Am untersten Ende der Senke der Hutberstraße sah jetzt Frau Schneeberg im flimmernden Dunst die grauen Umrisse einer ganzen Fahrzeugkolonne auftauchen, die sich gleichmäßig die bogenförmige Straße hinaufbewegte. Der zunehmende Fahrzeuglärm hatte jetzt auch einen Teil der Nachbarschaft aufgeschreckt, die nun aus ihren Fenstern auf die Straße hinunterblickten. Die Fahrzeugkolonne bestand aus Lastwagen der Wehrmacht, einem Kettenfahrzeug offenbar mit einer Flugabwehrkanose, die aus vier Rohren bestand und Baufahrzeugen in Wehrmachtsfarbe, die mit Gerätschaften für den Bau einer Luftabwehrbatterie beladen waren. „was will denn die Wehrmacht in der Hutbergstrasse ?“ fragte sich Frau Schneeberg, „ das kann doch gar nicht sein“. Inzwischen waren die beiden Mädchen an den Gartenzaun gelaufen und sahen mit staunenden Gesichtern, wie die Kolonne der Militärfahrzeuge in eine kleine Seitenstraße einbog, die auf der kleinen auf der Anhöhe hinter ihrem Haus endete. Jetzt waren auch die Soldaten, die auf den Fahrzeugen saßen gegen das Licht deutlich zu erkennen und winkten den Kindern, die sich inzwischen auf der Hutbergstraße versammelt hatten und johlend hinter den Fahrzeugen herliefen, freundlich zu.
Frau Schneeberg lief durch die Wohnung in das Kinderzimmer, zog die noch verschlossenen Vorhänge hastig beiseite und blickte auf die ca. 100 m entfernte Anhöhe hinter dem Haus. Das Grundstück gehörte dem Bauern Anschütz aus Rochwitz und war Teil eines abgeernteten Roggenfeldes, auf dem nur noch die abgeschnittenen Halme in der Morgensonne scharfe Schatten warfen.
Die Soldaten sprangen von ihren Fahrzeugen und begannen offenbar bestens gelaunt miteinander plaudernd und sogar singend die auf einer Lafette montierte Flugabwehrkanone aufzubauen. Andere kümmerten sich angetrieben von ein paar nicht besonders lauten Kommandos eines Unteroffiziers um die Errichtung einer Zeltunterkunft aus Stangen, die mit einigen Hieben eines kleinen Vorschlaghammers in das Erdreich getrieben wurden, und einer großen dunkelgrünen schweren Plane, die über das mittlerweile in Windeseile errichteten Stangengerüstes gezogen wurde. Die Planen waren seitlich gefenstert und ließen sich von Innen mittels einer gerollten Plane verschließen.
Inzwischen hatten sich nahezu alle Bewohner der Hutbergstrasse, nahezu ausschließlich Frauen und Kinder und einige wenige ältere Herren hinter dem Haus , in dem die Familie Schneeberg wohnte, versammelt und verfolgten mit einer Mischung aus Bewunderung über die Schnelligkeit mit der man das Zelt und das Flakgeschütz errichtete und Besorgnis darüber, was das alles zu bedeuten hätte. Es wurde leise untereinander getuschelt, aber den Mut den Unteroffizier zu fragen, brachte keiner auf. Stattdessen kam der Unteroffizier plötzlich mit raschen Schritten auf die sprachlosen Zuschauer zu und verkündete in freie Rede mit ziemlich freundlicher Stimme, die Heeresführung hätte auf Anweisung des Führers angeordnet, zum Schutze der hier wohnenden Einwohner eine Flugabwehrkanone zu errichten und bitte die Bevölkerung um Verständnis und Unterstützung. Es sei zwar richtig, dass es der Feind nicht wagen würde, mit seinen Bombern, die auch gar nicht dazu in der Lage wären, bis nach Dresden zu fliegen. Die Einwohner sollten nicht besorgt sein, der Führer würde sie schützen und bittet um gesteigerte Aufmerksamkeit und Meldung von außergewöhnlichen Ereignissen in der Umgebung und sofortige Meldung an seine Einheit. Man wünsche sich ein freundliches miteinander. Hob seinen rechten Arm, knallte Hacken seiner frisch gewienerten Stiefel zusammen und rief dann schon im Abdrehen jetzt mit schnarrender Stimme „ Heil Hitler“.
Mehr als ein allgemeines Gemurmel bei den zuschauenden Frauen und älteren Männern war nicht zu vernehmen, von denen sich jetzt die meisten mit sorgenvoller Miene abwendeten und sich auf den Weg nach Hause machten. Jedenfalls war ein „Heil Hitler“ nicht zu vernehmen und ein deutscher Gruß nicht auszumachen.
Kapitel 3
Dresden, den 15.2.1945
Mein geliebter Herzensmann,
ganz schnell einen Gruß und Lebenszeichen von uns. Es ist wie ein Wunder, dass wir alle noch am Leben sind und sogar alle noch ein Dach über dem Kopf haben und das alles in unserem eigenen kleinen Wohnungel. Wie durch ein Wunder haben alle unseren Lieben unversehrt den Weg hierher gefunden, dazu kommen noch zwei hilfsbereite Herren, die sich uns auf dem Weg von Bahnhof Dresden-Neustadt abgeschlossen haben.
Es ist ein schreckliches Elend, was über unser Dresden gekommen ist und mit Worten nicht zu beschreiben, was wir auf dem Wege von Weißwasser bis hierher erlebt haben. Und dennoch ist uns ein Wunder passiert, ohne das unsere drei Kinder und ich hier nicht wohlbehalten angekommen wären.
Aus Weißwasser mussten wir am 13. Februar Hals über Kopf schnellstens raus, weil die russische Front sich rasch der Oder bis auf wenige Kilometer genähert hatte. In den Straßen von Weißwasser haben wir die nicht endenwollenden, unglückseligen Flüchtlingsströme aus dem Osten gesehen. Der Bahnhof in Weißwasser war dicht besetzt, Kopf an Kopf auf jedem Bahnsteig, eine einzige Anhäufung von verzweifelten, stummen Menschen, nur das Schreien der Kinder, die sich an die Mütter klammerten war markerschütternd.
Mein lieber Mann, unsere beiden Mädchen verhielten sich sehr diszipliniert und unsere Große hielt ihre geliebte Puppe fest an sich gedrückt. Unser Sohnemann schlummerte friedlich im Kinderwagen, als sei nichts geschehen.
Der Zug war völlig überfüllt, aber alle Menschen waren sehr hilfsbereit, viele auch völlig apathisch und erschöpft vom langen Fußmarsch aus dem Osten. Auf dem Bahnhof Großenhain wurde der Zug plötzlich gestoppt, weil, so wurde durchgesagt, ein Angriff der Alliierten auf Dresden erfolgen würde. Und tatsächlich konnten wir vom Zug aus in der Ferne gegen 22.00 Uhr die Angriffe verfolgen und eine riesige Rauchsäule aus einer glutroten erleuchteten Stadt sehen. Hätten wir hier nicht gestoppt, wären wir alle in diesem schrecklichen Inferno umgekommen. Die Menschen im Zug waren zugleich entsetzt aber auch froh, dass sie dem sicheren Tod entkommen waren. Wir sind dann nach einer kleinen Mahlzeit aus unseren mitgenommenen Vorräten erschöpft im Zug eingeschlafen.
Am nächsten morgen fuhr der Zug dann weiter. In Radebeul-Ost war dann wieder Schluss, weil alle Bahnhöfe in Dresden durch den Angriff zerstört waren. Auf dem Bahnhof herrschte ein schreckliches Chaos, und die dichtgedrängten völlig verzweifelten Menschen, Frauen, Kinder und Soldaten. Der eine Teil wollte nach Dresden hinein, der andere Teil aus Dresden raus. Und wir mitten drin mit Köfferchen und einer Kanne mit Marmelade, die uns Tante Trude mitgegeben hatte. Ich war ziemlich verzweifelt und sah keine Möglichkeit, wie ich diesem dichten Gedränge mit den Kindern und dem Kinderwagen auf den anderen Bahnsteig kommen sollte, auf dem ein Zug um Dresden herum nach Dresden- Neustadt fahren sollte.
Plötzlich stand ein SS-Offizier in einem verstaubten nach verbranntem Fleisch riechenden Mantel vor und fragte sehr höflich, ob er mir helfen könnte. Ich solle die beiden Mädchen nehmen, die Gepäckstücke in der Bahnhofshalle abgeben, er würde den Säugling und den Kinderwagen hinterherbringen. Die Gepäckaufbewahrung war tatsächlich geöffnet und einen Platz im Zug zu bekommen nicht so schwer, weil die Menschen trotz des Chaos hilfsbereit waren und zwei Plätze in einem Abteil für uns frei machten. Wenig später sah ich den hochgewachsenen Offizier mit dem Kinderwagen über den Kopf auf unserem Bahnsteig und winkte ihm zu. Er nahm unseren kleinen Sohn aus dem Wagen, reichte ihn durch Fenster. Unsere Große war völlig begeistert von diesem Mann und fragte, wer dieser Mann sei. Das ist ein Engel, den uns der Herrgott geschickt hat, hab ich ihr gesagt. Da nahm sie ihre geliebte Puppe und reichte sie dem Offizier durchs Fenster, der die Puppe an sich drückte, den Kinderwagen in den Waggon schob und dann rasch durch das Menschengedränge verschwand. Mein geliebter Mann, dieser Offizier hat sogar seinen Namen genannt, er hieß Volkhardt Schmitz. Sollte dieser schreckliche Krieg jemals zu Ende gehen, so würde ich gerne diesen von Gott geschickten Engel wiederfinden wollen!
Vom Bahnhof Dresden-Neustadt mussten wir dann fast 20 km zu Fuß über den Nordrand nach Rochwitz über die Bautzner Straße und Bühlau gehen, wo ich als Schwester gearbeitet habe. Begleitet haben uns zwei Männer, die uns eine große Hilfe waren. Am Mittag gab es am hellerlichten Tag einen erneuten Angriff auf das Stadtzentrum, das wir aus der Ferne mitansehen mussten. Es war alles so schrecklich und die Kinder völlig verängstigt. Am Abend sind wir dann total erschöpft in der Hutbergstraße angekommen.
Und stell dir vor, wen wir alles in unserer kleinen Wohnung vorfanden. Unsere Tante Grete aus Wangleve, Elisabeth aus Ostpreußen, die Trebschener Leutchen, dein Bruder Michael, deine Schwester Eleonore. Alle waren bei allem Elend total froh, dass man sich hier wiedergefunden hatte, nur wusste keiner, wo Dein Väterchen abgeblieben war, das Haus in der Eisenstuckstrasse ist jedenfalls völlig zerbombt. Die Kleine von Herrmanns ist während der Flucht aus Trebschen an einer Lungenentzündung verstorben. Die beiden freundlichen Herren sind mit unbekannten Ziel verschwunden, so dass wir jetzt hier mit 10 Personen zu recht kommen müssen, aber in der Not geht alles und schweißt zusammen.
So mein geliebter Mann, bleib gesund. Wir denken immer an dich. Deine Kinder umarmen Dich
Dein Weibel
Kapitel 4
15.2.45: Im Zug nach Prag
Obersturmführer Volkardt Schmitz sackte nach mehr als 40 Stunden ohne Schlaf und höchster Anspannung völlig erschöpft auf seinen Sitz im Zug nach Prag, presste die Porzellanpuppe unter seinem Mantel fest an sich und versank zufrieden über seine gute Tat auf dem Bahnhof Radebeul-Ost in einen tiefen Schlaf.
Beim Warten auf den Zug konnte er in der Ferne die riesigen den Himmel verdunkelnden Rauchsäulen über der immer noch brennenden Stadt Dresden sehen. Seine Gedanken schwankten zwischen Wut und Hass auf die Alliierten, die sein geliebtes Dresden in Schutt und Asche gebombt und den Tod von Zehntausendenden von Menschen durch Brandbomben erbarmungslos in Kauf genommen haben, aber auch zwischen Verzweiflung über die immer auswegloser scheinende Situation der Deutschen Armee und der Zukunft des deutschen Reiches, aber auch seiner Zukunft, seiner Liebe.
„ Ich schwöre Dir Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe Dir und den von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe“
Hatte er nicht diesen Eid, den er als SS-Rekrut geschworen hatte, tausendfach in den letzten Jahren in sich hineingefressen, auch als in Charkow Hunderte seiner tapferen Kameraden der Leibstandarte an seiner Seite fielen, als man bolschewistische Partisanen, bolschewistische Kriegsgefangene und verhasste jüdische Zivilisten für die heroische Zukunft eines zukünftigen Großdeutschland vernichtete. Und jetzt soll das alles umsonst gewesen sein? Zum ersten Mal in seinem Leben beschlich ihn das Gefühl von Angst und Ausweglosigkeit für Deutschland aber auch seiner eigenen Situation. Hatte er nicht eine große Liebe mit der er und gemeinsamen Kindern in einer glücklichen Zukunft leben wollte.
Was war das für eine herrliche Zeit als er als junger Mann von 17 Jahren zum ersten Mal vor der Kaserne der Leibstandarte Adolf Hitler in Berlin - Lichtenfelde stand. Er, als Auserwählter durfte durch das riesige Eingangstor schreiten, das flankiert war von aus Stein gehauenen baumlangen SS-Männern im Stahlhelm mit ihren langen Mänteln und mit vor die Mitte des Körpers gesetzten Gewehren. In schwarzen Lettern stand quer über dem mächtigen Eingangsportals „Leibstandarte Adolf Hitler“ und darüber hing ein riesiger schwarzer Adler, der sich gegen den blauen Himmel abhob, als er ehrfurchtsvoll nach oben schaute.
Das war der bisher schönste Moment in seinem Leben gewesen, und noch heute lief es kalt den Rücken herunter, wenn es an diesem Moment zurückdachte.
Hier, wo schon Göring und Hindenburg ihre Kadettenzeit verleben durften, war sein neues Zuhause, seine neuen Freunde und Kameraden, alle mit einem Ziel, die Vernichtung der deutschen Feinde für ein blühendes neues Großdeutschland.
Wir sind die schwarze Garde
die nie ein Feind gefällt;
des Führers Leinstandarte
das beste Korps der Welt!
Dieser Refrain schalte ihm schon von einer Gruppe von Kameraden entgegen, die von einer Übung zurückgekehrt waren, als er mit seinem Gestellungsbefehl das Gebäude betrat.
Es wurde im Kreise seiner Kameraden trotz der harten Ausbildung die schönste Zeit seines Lebens.
Mit diesen Gedanken stieg er in den Zug nach Prag ein und die Vorstellung, dass nun alles zusammenbrechen könnte, verflog rasch und er schlief ein, sobald er sich auf seinen Platz gesetzt hatte und sorgfältig darauf geachtet hatte, dass die Puppe unter seinem Mantel blieb. Diese Puppe wird ihn sein Leben lang begleiten, der Beweis für seine Herzensgüte eines aufrechten deutschen Bürgers und Offiziers.
aaaaaaa
Schreib mir was!
Kapitel 4
Schafskälte
Hamburg im Juni 1967
Knut Knudsen, Student der Sportwissenschaft und Geographie zögerte keine Sekunde. Wie durch weiche Butter glitt die Klinge des das scharf geschliffenen Küchenmessers in seinen prankenartigen Händen ruhig und schnell durch die Kehle des Schafes. Ein scharfer, pulsierender roter Strahl schoss gegen die mit umgedrehten Eierkartons ausgekleidete Wand des Klavierzimmers
und wurde nur von einem leisen gurgelnden Geräusch aus der Kehle des noch zuckenden Schafes begleitet. Dann ließ Knudsen das Tier los, das schlaff auf den mit Zeitungspapier ausgelegten Boden sackte, auf dem sich jetzt in abflachenden Schüben das Blut aus dem zerschnittenen Hals des Tieres ergoss und den Boden in ein tiefes Rot färbte. Nach einigen Sekunden angespannter, gespenstischer Ruhe im Keller des Studentenheims johlte der kleine Haufen von Kommilitonen erst verhalten, dann aber richtig los. „Wer A sagt muss auch B sagen“ brüllte Heiner Klemm in die johlende Menge
hinein, während Knudsen wortlos mit einen schnellen Schnitt die Bauchdecke der Kreatur aufschlitzte und sich die Eingeweide wie ein fester Brei auf den blutgetränkten Boden ergossen. Ein dumpfer Geruch aus frischen Blut und Eingeweide erfüllte den kleinen Raum und Klemm, der, um sich selbst zum Mut machen, eben noch was von A und B geschrien hatte, stürzt bleich aus dem Klavierzimmer und erbrach sich auf dem Kellerflur des Studentenheims. Alle Anwesenden wussten natürlich, was mit A und B gemeint ist. B war die Schlachtung oder besser gesagt die Schächtung, und A war die Vollversammlung des Studentenheims
auf der der Kuratoriumsvorsitzende von Rothen und sein Heimleiter Pastor Loose nach einer flammenden Rede des Studentensprechers Knudsen nieder geschrien wurden und mit großer Mehrheit beschlossen worden war, dass statt eines Rasenmähers, den das Kuratorium zur Pflege der Rasenflächen zwischen den Häusern eins bis drei spenden wollte, zwei Schafe gekauft werden sollten. Denn, so hatte der wortgewaltige Sprecher der Studenten aus Nordfriesland verkündet, bei ihm zu Hause gäbe es gar keine Rasenmäher, dort mähen und mähen, ha, ha die Schafe, und wenn die sich dann ausgemäht und ausgemäht
hätten, ha, ha, dann lasst es euch gut schmecken. Zustimmung und Gejohle unter den verzweifelten Blicken vom Kuratoriumsvorsitzenden und seinem Pastor. Eine Woche später hatte Knudsen mit seinem R4 zwei kleine Lämmer aus Nordfriesland mitgebracht, die von nun an, die Wege zwischen Haus eins bis drei voll kötelten , aber auch pflichtgemäß das Gras zwischen den Häusern kurz hielten. Wer A und B sagt muss auch C sagen, verkündete Knudsen am Tage nach der Schächtung auf einen Schreiben am schwarzen Brett der Häuser ein bis drei und lud ein zu einem Lammbraten am Spieß am Abend auf der Wiese, auf der
er sonst seinen Mitkommilitonen das Volleyballspiel beibrachte. Für Salate, Alkohol, Teller und Besteck hätte jeder selbst zu sorgen, um alles andere würde er, sich selber kümmern. Im Juni 1967 war es Dank der Schafskälte an diesem Festtag ziemlich kalt, aber dennoch Zahl der Teilnehmer hoch, eigentlich fast alle Bewohner des Studentenheimes, einschließlich auswärtiger Gäste, die ohnehin fast täglich auftauchten, um kostenfrei im Studentenheim duschen zu können. Die Mehrzahl der Teilnehmer waren Ausländer, wie es sich für ein Studentenheim für Ausländer, genannt Überseekolleg, gehört: aus Afrika,
Asien, Südamerika, sogar Nordamerika und Europa und vor allem aus den arabischen Ländern, die hatten sich aber schon seit Tagen verkrochen, weil der 6-Tage-Krieg gerade beendet war nachdem sie vor ein paar Tagen noch ausnahmslos jubelnd auf den Tischen getanzt hatten, um den bevorstehenden Sieg über Israel zu feiern. Für Sitzplätze rund um den Bratspieß war gesorgt, dafür mussten die Regale aus der vom Kuratorium gespendeten Bibliothek herhalten. Diese waren im Karree um den Drehspieß, der von Knudsen bedient wurde, auf Büchern aufgestellt. Bei reichlich Alkohol, revolutionären
Liedern bei Gitarrenklängen und ziemlicher Kälte kam man sich auf den Bücherregalen immer näher bis das Feuer auszugehen drohte. Was lag da näher, als die die Regale aus der Bibliothek zu verfeuern, von denen am nächsten Morgen nur noch ein Häufchen Asche auf einer völlig verbrannten Rasenfläche übrig geblieben war. Die Bücher der Bibliothek lagen nun gestapelt an der kahlen Bibliothekswand und das Kuratorium fand sich zu einer Sondersitzung zusammen. An diesem besagten Abend fanden sich, neben vielen anderen, zwei Menschen, die sich bei der kühlen Luft am Lagerfeuer zum ersten Mal wahrnahmen
und näher kamen. Hier keimte eine Liebe vor dem Hintergrund der dramatischen Geschichte zweier Familien, die nicht weiter voneinander hätten entfernt sein können und doch miteinander verwoben waren. ***
Schreib mir was!
Karimela Ich war gerade letzte Woche in Dresden und die Vorstellung, was sich dort in den letzten Kriegstagen abgespielt hat, ist gelinde ausgedrückt grauenhaft. Ich gehöre zu der glücklichen Generation, die niemals Krieg erlebt hat und das alles nur aus Geschichten kennt. Geschichten wie dieser hier, die durch die Schilderung einzelner Schicksale das Grauen, die Angst, die Gedanken, Gefühle und Beweggründe der handelnden Personen verständlicher und damit eindringlicher macht, als jede Reportage es könnte. Plötzlich sind es wirkliche Menschen, einzelne Schicksale, über die man etwas erfährt und die einen berühren. Dein Text liest sich darüber hinaus sehr gut, ist flüssig geschrieben und hat mich gleich "festgehalten". Liebe Grüße Karimela |
Gast liebe Karimela, die Geschichte ist eine Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit, die aus Briefen meiner damals sehr jungen Eltern stammt. Es soll ein sehr komplexer Familienroman aus ungefähr 20 Kapitel werden. Ich wüsste nur zu gerne, wie die angefangenen Kapitel mit weiteren Kapitel ergänzen kann. Ich kriege das einfach nicht auf die Reihe. Weißt du, wie das geht? |
Karimela Meinst du rein technisch? Du gehst auf "Deine Bücher", suchst das, welches zu ergänzen willst aus und da gibt es dann oben links auf dem kleinen Cover einen Button zum Bearbeiten. Den klickst du an und fügst anschließend ein Kapitel an deinen Text an (linke Spalte "Kapitel hinzufügen"), das Ganze speichern und schwupps - müsste es geklappt haben;-) Ich hoffe, ich konnte dir helfen. LG Karimela |