Romane & Erzählungen
Die Puppe

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"Die Geschichte zweier Familien beginnt unmittelbar vor dem Angriff auf Dresden und endet 2000. "
Veröffentlicht am 25. Mai 2014, 82 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Jetzt habe ich ein wenig mehr Zeit und gehe neben der Fotographie und Herstellung von Skulpturen meinem neuen Hobby, dem Schreiben nach. Neben ein paar Kurzgeschichten, die ich noch in der Pipeline habe, arbeite ich an einem Familienroman mit dem Titel " Die Puppe". Ein Hund und zwei kleine Enkelkinder lassen jedoch wenig Zeit für meine Hobbys. Meine Fotos und Reiseberichte aus aller Welt sind unter www.tucanos.de zu sehen und zu ...
Die Geschichte zweier Familien beginnt unmittelbar vor dem Angriff auf Dresden und endet 2000.

Die Puppe

die Puppe

             

                       Kapitel 1


Radebeul, am15. Februar 1945 


Schon während Obersturmführer  Volkardt  Schmitz  die Treppe  des  Bahnhofs Radebeul-West mit hastigen Schritten hinunter stürzte,   erfasste ihn eine nicht beherrschbare Ergriffenheit, und er  begann hemmungslos zu weinen.  Der SS-Offizier in seiner  grauen, verschmutzten  Uniform  mit einem penetranten  Geruch nach verbranntem

Fleisch, lehnte sich an die Mauer des Bahnhofeinganges.  Der Mauer zugewandt  versuchte er,  sein Gesicht hinter seinen prankenartigen Händen zu verbergen. Sein massiger Körper bebte,  und Tränen rannen durch die Finger auf  den Mantel seiner Uniform, an die er mit seinen Armen eine unbekleidete Porzellanpuppe  an die Brust gepresst hielt.  Das mit Tränen benetzte Köpfchen der Puppe hing mit ihren strähnigen blonden  Haaren   über dem Ärmel von Schmitz Uniformjacke  mit  halb zugeklappten  Augen,  die  sich  im Takt des schluchzenden  blonden  Hünen zur Hälfte öffneten.

An diesem Tag, dem 15. Februar 1945

 hatte der 21-jährige  Schmitz nach mehr als  zehn Jahren das erste Mal in seinen Leben wieder geweint und   er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass ihm in den letzten zehn Jahren zum Weinen zumute gewesen wäre.

Gestern, als er in Dresden am Elbufer das Aufschichten und Identifizieren  der verbrannten  und bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Tausenden von Leichen  befehligen  musste, hatte ihn  nur eine unbändige Wut über die Engländer und Amerikaner  erfasst,  aber auch  zum ersten Mal  eine Spur  von Zweifel verspürt, ob das große Ziel, dem er sich als  Jugendlicher  verschrieben hatte, in Erfüllung gehen würde.

Während hinter ihm verzweifelte,  schreiende Frauen an ihren Händen  weinende Kinder  hinter sich herziehend scheinbar orientierungslos  aus und in den  Bahnhof strömten,  dachte er an seine eigene Mutter, die ihm im Alter von 17 Jahren  mit Tränen in den Augen  eine schallende Ohrfeige versetzte, als er ihr mit versteinerte Miene eröffnete,  dass er sich ab sofort freiwillig  bei der SS verpflichtet hätte, um von nun an  seinem Führer und  dem Vaterland zu dienen.  Er hatte sich wortlos umgedreht, seine Sachen gepackt und das Haus verlassen. Seitdem  hatte er seine Mutter nie wieder gesehen.

Schmitz  verbarg die Puppe jetzt  unter

seinem weiten Mantel und stieg mit schleppenden Schritten die Bahnhoftreppe zum Bahnsteig  wieder hinauf, wo  in wenigen Minuten sein Zug abfahren sollte, der ihn ohnehin  schon einen Tag  zu spät nach Prag bringen sollte.

Schmitz hatte eine schwere Zeit hinter sich.  Während seines letzten Fronteinsatzes in Charkov  als Sturmführer der Leibstandarte Adolf Hitlers  wurde er  im März  1943 durch einen Bauchschuss so schwer verletzt, dass  keiner mehr  einen Heller für ihn gegeben hätte. Bei   einem erfolgreichen  heroischen  Ausbruchversuch,  aus der bereits von den  Sowjets wieder

eingeschlossenen Stadt wurde  der besinnungslose Schmitz von seinen Kameraden der Leibstandarte auf einen Panzer gebunden und ins nächste Lazarett gebracht. Nach  einer stundenlangen  Notoperation hat Schmitz  überlebt.  Es folgte ein  monatelanger Aufenthalt   in einem Lazarett in der Nähe von Berlin und  einem Sanatorium-Aufenthalt in Schleswig-Holstein. Danach   hatte die SS-Führung  ihn zunächst  vom Frontdienst freigestellt und ihm ein Jurastudium in Prag  ermöglicht. In der Uniform eines Offiziers der Leibstandarte  Adolf Hitlers  im Hörsaal der juristischen Fakultät  in Prag. Schmitz gefiel das und

seiner Freundin Johanna in Berlin auch.

Drei Wochen  hatte Schmitz  bei seiner Freundin  Johanna in Berlin verbracht, die  einer  Tätigkeit im Sekretariat  Reichssicherheitshauptamt  nachging.  Auch sie hatte drei Wochen Urlaub, sogar mit ausdrücklicher Genehmigung ihres Chefs Ohlendorf  nehmen dürfen.  Sie hatten diese Zeit genossen und  in Zukunftsplänen für  die „Zeit  danach“ geschwelgt. Die Zeit nach diesem  verdammten Krieg, der kein Ende nehmen wollte.  Eine Familie gründen mit vielen Kindern inmitten von Menschen, die mit erhobenem Haupt mitten in Europa  einer blühenden Zukunft entgegen sehen dürfen.

Inmitten  einer dicht gedrängten Menge verängstigter Frauen, Kinder , ältere  Männer  und einigen Soldaten stand auch Sturmführer  Schmitz, die meisten Mitreisenden  um mindestens  Haupteslänge überragend,  und wartete auf den Zug nach Prag.  

Anders als  vorhin auf dem gegenüberliegenden  Bahnsteig  herrschte hier  in den Menschtrauben eine beklemmende Stille. Der kalte Wind fegte durch die  vermummten Menschen, und  Schmitz vernahm nur  ein leises Wimmern von Kindern. Es schien, als ob die Menschen meist mit zum Boden gesenkten  Köpfen inne hielten,  um  über das in den letzten zwei Tagen

geschehene nachzudenken.  Auch Schmitz, der immer noch die Puppe fest an seinen Leib drückte, verspürte jetzt nach Abklingen des für ihn unbegreiflichen emotionalen Ausbruchs,  eine aufsteigende  Müdigkeit und Ruhe, und er  begann über das nachzudenken, was sich hier auf diesem  Bahnhof in Radebeul-Ost  abgespielt hatte.  Eigentlich hätte er schon gestern in Prag  bei seiner Einheit zurück  sein müssen, aber die Ereignisse der letzten zwei Tage in Dresden  dürften sich bis nach Prag herumgesprochen haben,  und ein Disziplinarverfahren wegen Überschreitung seiner  Urlaubszeit nicht eingeleitet werden.  Schmitz war  vom

Wege aus Berlin nach Prag über Dresden in einem unvorstellbaren Inferno  geraten, das bei weitem das übertraf, was er  an der Front  in der Ukraine erlebt hatte. Eine noch  brennende, glühende Stadt  mit  einer Unzahl in den Straßen liegender  verkohlter  Leichen, verzweifelte herum irrende schreiende  Menschen  auf der Suche nach ihren Angehörigen.  Der Tod  war dem  21-jährigen  Soldat nicht fremd, neben ihm gefallene  Kameraden,  in Massen  tote Soldaten des bolschewistischen  Todfeindes , aus Rache für durch Partisanen getötete Kameraden,  willkürlich erhängte Dorfbewohner  und  erschossene

 Politoffziere  des Feindes , und  auch jüdische Männer, Frauen und Kinder , die in den Dörfern zusammengetrieben und außerhalb der Ortschaft erschossen wurden,   weil es  sein oberster  Vorgesetzter Heinrich  Himmler, dessen  Rede er in der Universität von  Charkov  als junger Offizier miterleben durfte, so befohlen hatte. Und auch die  gnadenlosen Erschießungen  von schwerer  verwundeten  Kriegsgefangenen, an denen auch er beteiligt war, all  das war Krieg, Krieg gegen den Bolschewismus  und das Judentum,  die gemeinsam  die  germanische  Kultur vernichten wollten.  Und deswegen war  dieser Krieg gerecht

und notwendig. Davon waren Schmitz und seine Kameraden von der Leibstandarte zutiefst überzeugt.

Die glühende Stadt Dresden  hatte den  jungen SS-Offizier  neben seiner Wut auf Engländer und Amerikaner  erstmals  auch nachdenklich gemacht.  Ein 21-jähriger SS-Offizier, sein begonnenes  Jurastudium in Prag, seine geliebte Freundin in Berlin,  sein Traum  über eine zukünftige Familie,  in ihm keimte die Befürchtung auf, dass all das , so wie diese Stadt in Schutt und Asche versinken könnte. Sein improvisiertes Kommando  über die Bergung der Leichen, der versuchten Identifikation und  das  Aufstapeln der Leichen am

Elbufer  zum Verbrennen  nahm ihn aber in seinem Pflichtgefühl  so gefangen, dass  er diesen  Gedanken  nicht mehr weiter nachhing, sondern seine Wut  über das Geschehene  eher in den Gefühlen „ jetzt erst recht“ mündete.

Das war gestern. Er hatte seitdem keine Sekunde geschlafen, aber das, was heute hier auf diesem Bahnhof passiert war,  ließ ihn nicht mehr los. Immer noch hielt er die Puppe unter seinem Uniformmantel fest an seinen Körper gedrückt. Obwohl  auf diesem Bahnsteig  kein Mensch auch nur einen einzigen Gedanken dafür  verschwendet hätte, ihn zu beobachten, wäre es ihm peinlich gewesen, wenn jemand bei einem

Offizier der Leibstandarte Adolf Hitlers  eine Puppe unter seiner Uniformjacke  entdeckt hätte. Die Puppe hatte ihm ein fünfjähriges Mädchen mit einem Gesichtsausdruck  tiefer Dankbarkeit  überreicht, als er  einen Säugling, der offenbar ihr Bruder war  durch das geöffnete  Fenster des  Eisenbahnwaggons gereicht hatte.

Er hatte die völlig verzweifelte Mutter  mit zwei kleinen  Mädchen und einem Säugling im Kinderwagen und zwei neben dem Kinderwagen stehenden Koffern  im Geschreie und Gedränge auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig entdeckt, der nur durch einen Tunnel  zu erreichen war.  Durch das rücksichtslose

Gedränge und Geschiebe der verzweifelten Menschenmassen auf dem Bahnsteig  drohte  diese kleine deutsche Familie in dem Chaos  unterzugehen.

So schien es Schmitz und er drängte sich mit seinem  hünenhaften in einer SS-Uniform steckenden Körper  durch die Menschenmassen, die ängstlich zur Seite wichen als sie ihn  sahen und baute sich  vor der kleinen Familie auf.  Er blickte der verzweifelten Mutter in die Augen und  sagte: „ Vertrauen sie mir,  ich heiße Volkardt  Schmitz, bin Offizier, gehen sie mit ihren beiden Töchtern zu ihrem Bahnsteig, steigen sie in ihren Zug,  ich bringe ihnen den Säugling  im Kinderwagen nach und reiche  ihnen  den

 Säugling durch das  Abteilfenster in das Abteil. Die Koffer geben sie in die Gepäckaufbewahrung, die funktioniert noch “  Die Frau erstarrte förmlich, nickte  mit gesenktem  Kopf   und sagte leise:    “ Ja,  danke, Herr Offizier“.  Schmitz packte den Kinderwagen, schwang ihn über seinen Kopf und verschwand zwischen den Menschenmassen, über deren Köpfen  der Kinderwagen sich langsam  von der Frau, deren Töchter sich ängstlich  an sie gepresst hatten, weg bewegte.      " Mutti, wer ist dieser Mann“ fragte die ältere der beiden, die in der einen Hand eine Milchkanne, die mit Marmelade gefüllt war  und in der anderen  eine

 Puppe mit Porzellanköpfchen.  „Das ist ein Engel, den uns der Herrgott  geschickt hat“ entgegnete die Mutter packte die beiden Koffer  und  schob die beiden Mädchen  durch die Menschentrauben  vor sich her Richtung  Bahnsteigtreppe.

Nachdem es der Mutter gelungen war, die Koffer in der Gepäckaufbewahrung abzugeben, drängte sie  sich mit   ihren beiden Töchtern die  Treppe zum Bahnsteig hoch, wo bereits der Zug Richtung  Dresden-Neustadt  stand und das  Gekreische und Jammern der Menschen  wurde  nur vom Zischen und Schnaufen  der  Lokomotive übertönt.

Trotz all der Not und der Erregung der Menschen um sie herum, gab  es  einige  , die versuchten, ihr den Weg  zum Waggon zu bahnen, wo sie schließlich  in einem Abteil  einen Platz fand, den man bereitwillig für sie frei gemacht hatte. Erschöpft  lehnte sie sich aus dem Abteilfenster und sah,   wie sich  der Kinderwagen  mit ihrem Säugling über die Köpfe  hinweg langsam auf  ihr Abteil zu bewegte. „ Hier, Herr Offizier, bitte  hierher“ rief sie winkend aus dem Abteilfenster und tatsächlich bewegte  sich jetzt der Kinderwagen direkt  auf sie zu.  Der Offizier, dem sie jetzt, wo er vor dem Abteil stand und vom Bahnsteig aus  zu ihr hochblickte, in die Augen

schauen konnte,  hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit  weichen Zügen, blauen Augen und blonden verrußten Haaren.  "Sie sind mein Engel, meine Kinder und ich werden es ihnen ewig danken und sie nie vergessen.“ Der Offizier stellte den Kinderwagen vor sich ab nahm den Säugling, der trotz des Getöses und Stimmenwirrwarr fest schlief,  hoch und aus dem Kinderwagen schob ihn  durch das Fenster in  das  Zugabteil in die Arme der jungen Frau. „Den Kinderwagen stelle ich in den Eingangsbereich  des Waggons.“ sagte der Offizier. Die große Tochter der Frau hatte sich auf den Sitzplatz gestellt  stand jetzt auch am Fenster. „ Bitte,

mein Herr, ich möchte dir  meine Puppe schenken,  weil du unser Engel bist , danke für alles.“ Der Offizier machte noch nicht einmal Anstalten, dieses Geschenk zurückzuweisen, er nahm die Puppe wortlos an sich, klemmte sie unter  seinen Uniformmantel , drehte  seinen Kopf mit Tränen in den Augen  zur Seite, schob den Kinderwagen zum Eingang des Waggon, bugsierte ihn durch die Tür in den Waggon und verschwand  mit raschen Schritten zwischen den  Menschen, die sich auf dem Bahnsteig drängten.  „ Hast du das auch genau überlegt“ fragte die Mutter ihre Tochter und  ihr Stolz über ihre Tochter, die sich gerade  von ihrem  liebsten  und einzigen

Spielzeug, das ihr geblieben war,   getrennt hatte, war unübersehbar. „ Wer war dieser Mann? , fragte die Tochter, „ du hast gesagt, das ist unser Engel“  „Schmitz heißt der Engel, und wenn Gott es so will, werden wir diesen Engel eines  Tages wiedersehen.“

In diesem Moment  gab die Lokomotive ein Ohren betäubendes  Pfeifen von sich, eine mit Ruß durchmischte  Dampffontäne schoss in den Himmel und der Zug ruckte langsam an und der Wind blies  eine schwarze Rauchwolke am Zugabteilfenster vorbei. Die Mutter schob das Abteilfenster hoch und sank erschöpft auf ihren Platz.  Die Mitfahrer im Abteil hatten bereitwillig   für die

Kinder Platz gemacht. Mit dem jetzt schreienden Säugling auf dem Arm  sah sie aus dem Fenster und sah in der Ferne  riesige Rauchwolken  über der Stadt,  die einmal Dresden gewesen war. Ihre beiden Töchter, vier und zwei alt, hatten es sich auf ihrem Schoß und ihren Beinen bequem gemacht und waren schlagartig eingeschlafen.

 

 

 

                   Kapitel 2


Dresden, am 8. Oktober 1944


Schon in den frühen Morgenstunden  des 8. Oktober 1943  wehte ein lauer Spätsommerwind  durch  die  Hutbergstrasse  in Dresden- Rochwitz.  In der Stille dieses sonnigen  Herbstmorgen hört man  das leise  Kratzen und  Rascheln einiger  auf dem Gehsteig liegenden  verdorrten  Blätter der Kirschbäume,  die hier  zur Freude der Kinder die Straßen säumen.  In der Ferne krähte ein Hahn,  ein Hund kläffte und  die Vögel zwitscherten wie an einem Frühlingstag.  „Was für ein wunderschöner  Herbsttag“ dachte   die junge hochschwangere  Frau aus der Hutbergstraße 22, als sie aus dem Fenster des 1. Stockes auf die Straße

blickt. Hier in dieser fast ländlichen Idylle vor den Toren Dresdens auf einer Anhöhe, die einen  weiten Blick Richtung Elbtal  erlaubte, hatte  sich  die junge Familie nach ihrer Hochzeit in Berlin   im Februar 1940  in einer Zweizimmer-Wohnung im ersten Stock  günstig eingemietet.  Abseits vom Großstadttrubel in Dresden und vor allem abseits der großen Städte im Westen und Norden des Reiches, wo, wie sie von Nachbarn  gehört hat , Tausende von Menschen bei  Bombenangriffen durch die Engländer um Leben gekommen sind.  Hier, so sagt man, sei  man bombensicher vor den Angriffen der Alliierten, weil die Entfernung  von

England nach Dresden viel zu groß sei und  es sowieso keiner wagen würde, das Elbflorenz  zu bombardieren.

Aus dem Kinderzimmer  hörte sie  das Plappern  ihrer beiden Mädchen, die jetzt  Gott sei Dank  mit zwei und vier  Jahren aus dem Gröbsten raus waren und noch schlaftrunken  zu ihrer Mutter  ins Wohnzimmer  schlurfen.  Die Große schleifte ihre Puppe mit  einem Porzellanköpfchen  hinter sich her, die ihr Vater ihr zum 3. Geburtstag geschenkt hat und seit dem ihre unzertrennliche Begleiterin war.

Es war an diesem sonnigen Morgen  noch  nicht einmal  7.00 Uhr , das Zimmer der kleinen Wohnung in der Hutbergstrasse

 war durch die hellen Sonnenstrahlen, die das Zimmer durchfluteten hell erleuchtet und  die  beiden Mädchen  blinzelten jetzt in die helle Sonne, die durch das Fenster ihre Gesichter aufwärmte.   Sie schmiegten sich beide an die Schürze ihrer Mutter. „ Frühstück, Mutti?“ fragt die Große und die junge Mutter beugt sich hinunter, um ihre beiden  Mädchen  liebevoll  in den Arm zu nehmen und  zu herzen.  Wie jeden Tag gab es das Lieblingsfrühstück der Kinder. Während die große Katharina  auf ihren Stuhl rutschte, durfte die kleine Schwester Barbara auf dem Schoß ihrer Mutter sitzen und wurde mit einem Teelöffel gefüttert. Es gab Mempe, ein Brei aus

Haferflocken, Milch und Zucker und  beide Kinder konnten sich nichts Schöneres vorstellen.

Unter der Schürze  der Mutter wölbte sich  bereits ein  beträchtliches  Bäuchlein, das auch der großen Tochter  mit den langen geflochtenen  Zöpfen nicht verborgen geblieben war, und Anlass zu mehrfach täglich  Fragen  nach einen Brüderchen  gab. Die zierliche Frau mit den langen dunklen, nach oben und hinten gesteckten gewellten Haaren,  beantworte diese Fragen mit einen feinsinnigen  schmunzelnden  Lächeln, das  allerdings  unübersehbar auch von einem Zug trauriger und sorgenvoller Miene begleitet war. „ Ja, meine geliebte

Katharina,  ein Brüderchen, so Gott es will“ und strich ihrer Tochter dabei liebevoll über den Kopf und  die blonden  langen Zöpfe.  Dann schmiegte sich  die Tochter  gedankenversunken minutenlang  an den Bauch der Mutter  und freute sich schon, das Brüderchen  in das Abendgebet  einschließen zu dürfen.

Die  junge Mutter Margarethe  Schneeberg hatte bisher kein leichtes Leben  hinter sich gebracht.  Als jüngstes von vier Kindern   eines  despotischen aus kleinen  ostpreußischen  Verhältnissen  stammenden  Latein- und Französischlehrers, der als besonders intelligent aufgefallenes Kind auf

Empfehlung seiner Lehrer über ein Stipendium  gefördert worden war, musste sie  nach dem frühen Tode ihrer Mutter mit Kinderfrauen und  Geliebten ihres Vaters zurechtkommen, die die Jüngste  in dem Chaos  einer  mutterlosen Familie  hin- und herumschubsten. Geboren 1918  in einem Internierungslager in Bern, in dem die Familie nach Gefangennahme  des  Vaters  untergebracht  war,  wuchs sie   in Berlin auf und   musste nach der mittleren  Reife Kinderkrankenschwester  werden, während ihr großer Bruder  zum Marinearzt  ausgebildet wurde. Im Alter von 21 Jahren hatte  sie  den fünf  Jahre älteren  Gartenbauinspektor  Siegfried

Schneeberg, den sie schon als 13-jähriges Mädchen bei einer Familienfeier kennengelernt hatte,  an einem  bitterkalten  Wintertag  1940 in Berlin geheiratet.  Die Hochzeit war trotz der Kälte euphorisch überlagert  von Zuversicht  über die Zukunft, und  ihr großer Bruder in Offiziersuniform  und  ihr   Vater  posierten mit Parteiabzeichen  der NSDAP  und Hakenkreuzbinde in Siegerpose  auf den Hochzeitsfotos. Margarethe Schneebergs  Leben war von ihrer Kindheit an trotz aller schrecklichen Erlebnisse in einem mutterlosen Haushalt   von Gleichmut, Toleranz und Hilfsbereitschaft   geprägt, wahrscheinlich Charaktereigenschaften

ihrer  Mutter, die sie nie richtig kennengelernt hatte und sehr früh an einer nicht rechtzeitig  erkannten Diphterie gestorben war. Die politischen Ereignisse  um sie  herum  nahm sie mit schicksalsergebenem Gleichmut hin, weil sie  nahezu ausschließlich auf das Durchkommen ihrer kleinen, wachsenden Familie gerichtet war. Ihr Ehemann Siegfried Schneeberg  war im Auftrage einer Landschafts- und Straßenbaufirma  in den besetzten  Gebieten in  Frankreich unterwegs und sie wusste nicht einmal genau, wo und was er dort machte.   Gelegentlich tauchte er an Wochenenden zu Hause  auf und die Stimmung war trotz  finanzieller Zwänge

und bedrohlichen Nachrichten  aus dem Volksempfänger  erfüllt von  Zuversicht und  Glücksgefühl über die wachsende Familie.

Welch ein wunderschöner lauer und  sonniger Herbstmorgen, dachte die junge Mutter!  Nach  kleiner Morgenwäsche, Zähneputzen und frischem Flechten  der blonden Zöpfe für die beiden   kleinen  Mädchen, nahm die Große ihre  Puppe in die rechte und die kleine Schwester an die linke Hand, half ihr die Holztreppe hinunter und raus ging es in den Garten, der an  eine menschenleere  Straße grenzte, die  sich Richtung Elbe hin sanft in einem weiten Bogen  nach unten senkte und an diesem

 Morgen in der frischen klaren Luft die abgeernteten Felder  in der Morgensonne  in ein sanftes  Gold tauchte.

Margarete Schneeberg öffnete die Fenster  des kleinen  Wohnzimmers zur Straße hin, schaute auf ihre beiden Mädchen im Vorgarten und  sog  mit einem Gefühl der Glücks über ihre kleine Familie  die herrliche frische nach abgeernteten duftenden   Luft  an diesem sonnigen Sonntagmorgen  ein.


An diesem frühen Sonntagmorgen  hörte sie in der Ferne aus dem Osten kommend ein leises  Motorengeräusch, das ganz anders klang, als das Geräusch der Binnenschiffmotoren, das man  bei

Westwind von der Elbe her bis hierher hören konnte.

Die beiden Mädchen  waren immer noch  völlig versunken in ihr  gemeinsames Spiel im Vorgarten, obwohl   das  Motoren- und Kettenfahrzeuggeräusch   jetzt schon sehr viel  deutlicher  zu hören war.  

Am untersten  Ende der Senke der Hutberstraße  sah  jetzt Frau  Schneeberg  im flimmernden  Dunst  die grauen Umrisse einer ganzen Fahrzeugkolonne  auftauchen, die sich gleichmäßig  wie eine Raupe die bogenförmige Straße  hinaufbewegte. Der zunehmende  Fahrzeuglärm hatte jetzt auch einen Teil der Nachbarschaft aufgeschreckt, die

 nun  aus ihren Fenstern  auf die Straße hinunterblickten.  Die Fahrzeugkolonne bestand aus Lastwagen der Wehrmacht, und Kettenfahrzeugen offenbar mit  Flugabwehrkanonen, die aus vier Rohren bestand und Baufahrzeugen in Wehrmachtsfarbe, die mit Gerätschaften  für den Bau einer Luftabwehrbatterie beladen waren.  „Was will denn die Wehrmacht  in der  Hutbergstrasse ?“  fragte sich Frau Schneeberg,  „ das kann doch gar nicht sein“.  Inzwischen waren  die beiden Mädchen an den Gartenzaun  gelaufen und sahen mit staunenden   Gesichtern, wie die Kolonne  der Militärfahrzeuge in  eine kleine Seitenstraße  einbog, die auf

der kleinen  auf der Gönnsdorfer Höhe   hinter  ihrem Haus endete. Jetzt waren auch  die  Soldaten, die auf den Fahrzeugen saßen gegen das Licht  deutlich zu erkennen und  winkten den Kindern, die sich  inzwischen   auf der Hutbergstraße versammelt hatten  und johlend hinter den Fahrzeugen  herliefen, freundlich  zu.

Frau Schneeberg lief durch die Wohnung  in das Kinderzimmer, zog die noch  verschlossenen Vorhänge  hastig beiseite  und blickte  auf die  ca. 100 m entfernte Anhöhe hinter dem Haus. Das Grundstück  gehörte  dem Bauern  Anschütz aus Rochwitz und war Teil eines abgeernteten  Roggenfeldes, auf

dem nur noch  die  abgeschnittenen Halme in der Morgensonne scharfe Schatten warfen.

Die Soldaten sprangen von ihren Fahrzeugen und begannen offenbar  bestens gelaunt  miteinander plaudernd und  sogar singend  die auf einer Lafette  montierte Flugabwehrkanone aufzubauen.  Andere  kümmerten sich  angetrieben  von ein paar nicht besonders lauten Kommandos  eines Unteroffiziers um die Errichtung einer Zeltunterkunft aus  Stangen, die mit einigen Hieben eines kleinen  Vorschlaghammers  in das Erdreich getrieben wurden,  und einer  großen dunkelgrünen schweren Plane, die  über

das mittlerweile in Windeseile errichteten  Stangengerüstes gezogen wurde. Die Planen waren seitlich gefenstert und ließen sich von Innen mittels einer gerollten Plane verschließen.

Inzwischen hatten sich nahezu  alle Bewohner der Hutbergstrasse, nahezu ausschließlich Frauen und Kinder und einige  wenige ältere Herren  hinter dem Haus, in dem die Familie  Schneeberg wohnte,  versammelt und verfolgten  mit einer Mischung aus Bewunderung über die Schnelligkeit mit der man  das  Zelt und  das Flakgeschütz errichtete   und  Besorgnis darüber, was das alles zu bedeuten hätte.  Es wurde leise

untereinander getuschelt, aber den Mut  den Unteroffizier zu fragen, brachte keiner auf.  Stattdessen kam  der Unteroffizier plötzlich mit raschen Schritten auf die  sprachlosen  Zuschauer zu und stellte sich als Feldwebel Baruth vor und   verkündete  in freier Rede mit ziemlich freundlicher Stimme,  die Heeresführung hätte auf Anweisung des Führers angeordnet, zum Schutze der hier wohnenden Einwohner vier Flugabwehr-kanonen  zu errichten und bitte die Bevölkerung um Verständnis und Unterstützung. Es sei zwar richtig, dass es  der Feind  nicht wagen würde, mit seinen Bombern, die auch gar nicht  dazu in der Lage wären,  bis nach Dresden zu

fliegen.  Die  Einwohner sollten nicht besorgt sein, der Führer würde sie schützen und bittet um gesteigerte Aufmerksamkeit und Meldung von außergewöhnlichen  Ereignissen in der Umgebung und sofortige Meldung an seine Einheit.  Man wünsche sich ein freundliches miteinander.    Hob seinen rechten Arm, knallte Hacken seiner  frisch gewienerten  Stiefel zusammen  und rief dann  schon im Abdrehen  jetzt mit  schnarrender Stimme  „ Heil Hitler“.

Mehr als ein allgemeines Gemurmel  bei den zuschauenden  Frauen und  älteren Männern war  nicht zu vernehmen, von denen sich  jetzt die meisten mit sorgenvoller  Miene  abwendeten und

sich auf den Weg nach Hause machten. Jedenfalls war ein  „Heil Hitler“ nicht zu vernehmen und   ein deutscher Gruß  nicht auszumachen.

                  Kapitel 3


Dresden, am  16. Februar 1945


Jetzt tief in der Nacht des 16. Februar eingehüllt in einer wärmenden Decke kam Frau Schneeberger endlich zur Ruhe. Nach vier fast schlaflosen Nächten lagen die derzeitigen Bewohner der kleinen Wohnung in der Hutbergstraße zu Neunt wie die Ölsardinen auf dem Ehebett der Familie Schneeberger

schliefen nach den schrecklichen Ereignissen der letzten drei Tage tief und fest und selbst die Gutsherrin Margarete Martin hatte sich ohne Murren mit ihrer neuen Schlafstätte abgefunden. Sie selbst würde bei ihren  Kindern auf einer Matratze schlafen.

Bei flackerndem Kerzenlicht setzte sie sich an den Küchentisch und schrieb mit ruhiger Hand einen neuen  Brief an ihren Mann Siegfried, der in Hamburg ein wahrlich kümmerliches Dasein führte und vor Sehnsucht nach seiner Familie  fast verging. Jede Minute der wenigen Freizeit verbrachten die Beiden  seitenlange Briefe voller Liebe und Mitgefühl, aber auch voller Hoffnung  zu

schreiben. 

Dieses war der erste Brief nach den furchtbaren, entsetzlichen  Ereignissen in ihrer Heimatstadt Dresden.


Mein geliebter Herzensmann,

ganz schnell einen Gruß und  Lebenszeichen von uns.  Es ist wie ein Wunder, dass wir alle noch am Leben sind und sogar alle noch ein Dach über dem Kopf haben und das alles in unserem eigenen kleinen  Wohnungel. Wie durch ein Wunder haben alle unseren Lieben unversehrt den Weg hierher gefunden, dazu kamen auch noch zwei hilfsbereite Herren, die sich uns auf dem Weg von Bahnhof

Dresden-Neustadt angeschlossen haben.

Es ist ein schreckliches Elend, was über unser Dresden gekommen ist und mit Worten nicht zu beschreiben, was wir auf dem Wege von Weißwasser bis  hierher erlebt haben. Und dennoch ist uns ein Wunder passiert. Ohne dieses Wunder wären unsere drei Kinder   und ich  hier nicht wohlbehalten angekommen und wir alle nicht mehr am Leben.

Aus Weißwasser mussten wir am 13. Februar  Hals über Kopf  schnellstens bei Tante Trude raus, weil die russische Front sich rasch der Oder bis auf wenige Kilometer genähert hatte. In den Straßen von Weißwasser haben wir die

nicht enden wollenden, unglückseligen Flüchtlingsströme aus dem Osten gesehen. Der Bahnhof in Weißwasser war dicht von  Menschen besetzt, Kopf an Kopf auf jedem Bahnsteig, eine einzige Anhäufung von verzweifelten, stummen Menschen, nur das Schreien der Kinder, die sich an die Mütter klammerten war markerschütternd.

Mein lieber Mann,  unsere beiden Mädchen verhielten sich sehr diszipliniert und unsere Große hielt ihre geliebte Puppe fest an sich gedrückt. Unser Sohnemann  schlummerte friedlich im Kinderwagen, als sei nichts geschehen.

Der Zug war völlig überfüllt, aber alle

Menschen waren sehr hilfsbereit, viele auch völlig apathisch und erschöpft vom langen Fußmarsch aus dem Osten. Auf dem Bahnhof Großenhain wurde der Zug plötzlich  gestoppt, weil,   so wurde durchgesagt, ein Angriff der Alliierten  auf Dresden erfolgen würde. Und tatsächlich konnten wir vom Zug aus in der Ferne gegen 22.00 Uhr die Angriffe verfolgen und eine riesige Rauchsäule aus einer glutroten erleuchteten Stadt sehen. Ein  grausam schönes Bild! Hätten wir hier nicht gestoppt, wären wir alle in diesem schrecklichen Inferno umgekommen. Die Menschen im Zug  waren zugleich entsetzt aber auch  froh, dass sie dem sicheren Tod

entkommen waren. Wir sind dann nach einer kleinen Mahlzeit aus unseren mitgenommenen Vorräten erschöpft im Zug eingeschlafen.

Am nächsten morgen fuhr der Zug dann  weiter. In Radebeul-Ost  war dann wieder Schluss,  weil alle Bahnhöfe in Dresden  durch den Angriff zerstört waren. Auf dem Bahnhof herrschte ein schreckliches Chaos von dichtgedrängten völlig verzweifelten Menschen: Einige ältere Männer,  Frauen mit ihren  Kindern und Soldaten. Der eine Teil wollte nach Dresden hinein, der andere Teil aus Dresden raus.  Und wir mitten drin in der Menschenmenge mit Köfferchen und

einer Kanne mit Marmelade, die uns Tante Trude mitgegeben hatte.  Ich war ziemlich verzweifelt  und sah keine Möglichkeit, wie ich diesem dichten Gedränge mit den Kindern und dem Kinderwagen auf den anderen Bahnsteig kommen sollte, auf dem ein Zug um Dresden herum  nach Dresden- Neustadt fahren sollte.

Plötzlich stand ein  SS-Offizier in einem verstaubten  nach verbranntem Fleisch  riechenden Mantel vor mir und fragte sehr höflich, ob er mir helfen könnte. Ich solle die beiden Mädchen nehmen, die Gepäckstücke in der Bahnhofshalle abgeben, er würde den Säugling und den Kinderwagen  hinüberbringen. Wir

drängen uns zu Dritt durch die Unterführung. Die Gepäckaufbewahrung war tatsächlich noch geöffnet und einen Platz im Zug zu bekommen war  nicht so schwer, weil die Menschen trotz des Chaos hilfsbereit waren und  zwei  Plätze in einem Abteil  für uns frei machten.  Wenig später sah ich den hochgewachsenen Offizier mit dem Kinderwagen über den Kopf auf unserem Bahnsteig und winkte ihm zu. Er nahm unseren kleinen Sohn aus dem Wagen, reichte ihn mit einem feinen Lächeln in  seinen  mit  Ruß verstaubten  Gesicht durchs Fenster.  Unsere  Große war völlig  begeistert von diesem Mann und fragte, wer dieser Mann sei. Das ist

ein Engel, den uns der Herrgott geschickt hat, hab ich ihr gesagt. Da nahm sie ihre geliebte Puppe und reichte sie dem Offizier durchs Fenster und flüsterte "Danke Herr Offizier". Der presste die Puppe fest an sich und drehte sich wortlos um,schob den Kinderwagen  in den Waggon und verschwand dann rasch im Menschengedränge. 

 Mein geliebter Mann,  dieser Offizier hat sogar seinen Namen genannt, er hieß Volkhardt Schmitz. Sollte dieser schreckliche Krieg jemals zu Ende gehen, so würde ich gerne  diesen von Gott geschickten Engel wiederfinden wollen!

Vom Bahnhof Dresden-Neustadt  mussten wir dann  fast 20 km zu Fuß über den Nordrand nach Rochwitz über die Bautzner Straße  und Bühlau gehen, wo ich als Schwester gearbeitet habe.  Begleitet haben uns  zwei Männer, die uns eine große Hilfe waren.  Am Mittag  gab es am hellerlichten Tag  einen erneuten Angriff auf das Stadtzentrum, das wir aus der Ferne mitansehen mussten.  Es war alles so schrecklich und die Kinder völlig verängstigt.  Am Abend sind wir dann total erschossen  in der Hutbergstraße angekommen. Mir ist es ein Rätsel, wie unsere beiden Mädchen ohne zu nörgeln diese 20 km geschafft haben!

Und stell dir vor, wen wir alles in unserer kleinen Wohnung vorfanden. Und die erstaunten Gesichter unserer Verwandtschaft. Unsere Tante Grete aus Wangleve, Meine Schwester Elisabeth aus Ostpreußen,  die Trebschener Leutchen, dein Bruder Michael, deine Schwester Eleonore. Alle waren bei allem Elend total froh, dass man sich hier wiedergefunden hatte, obwohl alle nun noch enger zusammen rücken mussten.  Nur  keiner wusste, wo unser  Väterchen abgeblieben war, das Haus in der Eisenstuckstrasse  ist  jedenfalls  völlig zerbombt. Die kleine Katharina von  Herrmanns ist während der Flucht aus Trebschen an einer

Lungenentzündung verstorben und mit in das Grab deiner Mutter gelegt worden . Die beiden freundlichen Herren, die uns bei unserem "Spaziergang" begleitet und geholfen haben, sind schon  am nächsten Tag mit unbekannten Ziel verschwunden, so dass wir jetzt hier  mit 10 Personen zurecht kommen müssen, aber in der Not geht alles und schweißt zusammen. Wir haben wegen der Stromsperre  kein Licht, aber Gott sei Dank ein paar Kerzen. und zu Essen ist auch genug da. Unsere Große vermisst ihre Puppe und hat auch schon bitterliche Tränen vergossen. Ich habe ihr versprochen, dass wir den Mann mit ihrer Puppe wiederfinden werden. 


So mein geliebter Mann, ich muss jetzt Schluss machen, mir fallen die Augen zu,  bleib gesund und tapfer. Eines Tages nach all diesen schrecklichen Ereignissen werden wir als Familie wieder zusammen sein und die Zeit mit unseren Kindern genießen können.

 Wir denken  immer an dich, und ich denke voller Sehnsucht an meinen Mann.

 Deine Kinder umarmen Dich und alle lassen Dich grüssen

Dein Weibel


Kapitel 4 15.2.45: Im Zug nach Prag Obersturmführer Volkardt Schmitz sackte nach mehr als 40 Stunden ohne Schlaf und höchster Anspannung völlig erschöpft auf seinen Sitz im Zug nach Prag, presste die Porzellanpuppe unter seinem Mantel fest an sich und versank zufrieden über seine gute Tat auf dem Bahnhof Radebeul-Ost in einen tiefen Schlaf. Beim Warten auf den Zug konnte er noch  in der Ferne die riesigen den Himmel verdunkelnden Rauchsäulen über der

immer noch brennenden Stadt Dresden sehen. Seine Gedanken schwankten zwischen Wut und Hass auf die Alliierten, die sein geliebtes Dresden in Schutt und Asche gebombt und den Tod von Zehntausendenden von Menschen durch Brandbomben erbarmungslos in Kauf genommen haben, aber auch zwischen Verzweiflung über die immer auswegloser scheinende Situation der Deutschen Armee und der Zukunft des deutschen Reiches und seiner Zukunft, seiner Liebe. „ Ich schwöre Dir Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe Dir und den

von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe“ Hatte er nicht diesen Eid, den er als SS-Rekrut geschworen hatte, tausendfach in den letzten Jahren in sich hineingefressen, auch als in Charkow Hunderte seiner tapferen Kameraden der Leibstandarte an seiner Seite fielen, als man bolschewistische Partisanen, bolschewistische Kriegsgefangene und verhasste jüdische Zivilisten für die heroische Zukunft eines zukünftigen Großdeutschland vernichtete. Und jetzt soll das alles umsonst gewesen sein? Zum ersten Mal in seinem Leben

beschlich ihn das Gefühl von Angst und Ausweglosigkeit für Deutschland aber auch seiner eigenen Situation. Hatte er nicht eine große Liebe mit der er und gemeinsamen Kindern in einer glücklichen Zukunft leben wollte. Was war das für eine herrliche Zeit als er als junger Mann von 17 Jahren zum ersten Mal vor der Kaserne der Leibstandarte Adolf Hitler in Berlin - Lichtenfelde stand. Er, als Auserwählter, durfte durch das riesige Eingangstor schreiten, das flankiert war von aus Stein gehauenen baumlangen SS-Männern im Stahlhelm mit ihren langen Mänteln und mit vor die Mitte des

Körpers gesetzten Gewehren. In schwarzen Lettern stand quer über dem mächtigen Eingangsportals „Leibstandarte Adolf Hitler“ und darüber hing ein riesiger schwarzer Adler, der sich gegen den strahlenden blauen Himmel abhob, als er ehrfurchtsvoll nach oben schaute. Das war der bisher schönste Moment in seinem Leben gewesen, und noch heute lief es kalt den Rücken herunter, wenn es an diesem Moment zurückdachte. Hier, wo schon Göring und Hindenburg ihre Kadettenzeit verleben durften, war sein neues Zuhause, seine neuen

Freunde und Kameraden, alle mit einem Ziel, die Vernichtung der deutschen Feinde für ein blühendes neues Großdeutschland. Wir sind die schwarze Garde die nie ein Feind gefällt; des Führers Leibstandarte das beste Korps der Welt! Dieser Refrain schalte ihm schon von einer Gruppe von Kameraden entgegen,

die von einer Übung zurückgekehrt waren, als er mit seinem Gestellungsbefehl das Gebäude betrat. Es wurde im Kreise seiner Kameraden trotz der harten Ausbildung die schönste Zeit seines Lebens. Mit diesen Gedanken stieg er in den Zug nach Prag ein und die Vorstellung, dass nun alles zusammenbrechen könnte, verflog rasch und er schlief ein, sobald er sich auf seinen Platz gesetzt hatte

und sorgfältig darauf geachtet hatte, dass die Puppe unter seinem Mantel blieb. Diese Puppe wird ihn sein Leben lang begleiten, der Beweis für seine Herzensgüte eines aufrechten deutschen Bürgers und Offiziers.

Die Puppe

Struktur:

Geschichte 1:   Obersturmführer S  auf dem Wege nach Dresden und Tätigkeit in Dresden

Geschichte 2 :  Frau B. mit 3 kleinen Kindern auf dem Weg nach Dresden

Geschichte 3 :  auf dem Bahnhof vor Dresden

Geschichte 4 :  zu Hause bei Hauptsturmführer S, die Offenbarung

Geschichte 5 : Geschichte der Puppe

Kapitel 1

Schon während Obersturmführer  Volkardt  Schmitz  die Treppe  des  Bahnhofs Radebeul-West mit hastigen Schritten hinunter stürzte,   erfasste ihn eine nicht beherrschbare Ergriffenheit, und er  begann hemmungslos zu weinen.  Der SS-Offizier in seiner  grauen, verschmutzten  Uniform  mit einem penetranten  Geruch nach verbranntem Fleisch, lehnte sich an die Mauer des Bahnhofeinganges.  Der Mauer zugewandt  versuchte er,  sein Gesicht hinter seinen prankenartigen Händen zu verbergen. Sein massiger Körper bebte,  und Tränen rannen durch die Finger auf  den Mantel seiner Uniform, an die er mit seinen Armen eine unbekleidete Porzellanpuppe  an die Brust gepresst hielt.  Das mit Tränen benetzte Köpfchen der Puppe hing mit ihren strähnigen blonden  Haaren   über dem Ärmel von Schmitz Uniformjacke  mit  halb zugeklappten  Augen,  die  sich  im Takt des schluchzenden  blonden  Hünen zur Hälfte öffneten.

An diesem Tag, dem 15. Februar 1945  hatte der 21-jährige  Schmitz nach mehr als  zehn Jahren das erste Mal in seinen Leben wieder geweint und   er konnte sich auch nicht daran erinnern, dass ihm in den letzten zehn Jahren zum Weinen zumute gewesen wäre.

Gestern, als er in Dresden am Elbufer das Aufschichten und Identifizieren  der verbrannten  und bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Tausenden von Leichen  befehligen  musste, hatte ihn  nur eine unbändige Wut über die Engländer und Amerikaner  erfasst,  aber auch  zum ersten Mal  eine Spur  von Zweifel verspürt, ob das große Ziel, dem er sich als  Jugendlicher  verschrieben hatte, in Erfüllung gehen würde.

Während hinter ihm verzweifelte,  schreiende Frauen an ihren Händen  weinende Kinder  hinter sich herziehend scheinbar orientierungslos  aus und in den  Bahnhof strömten,  dachte er an seine eigene Mutter, die ihm im Alter von 17 Jahren  mit Tränen in den Augen  eine schallende Ohrfeige versetzte, als er ihr mit versteinerter Miene eröffnete,  dass er sich ab sofort freiwillig  bei der SS verpflichtet hätte, um von nun an  seinem Führer und  dem Vaterland zu dienen.  Er hatte sich wortlos umgedreht, seine Sachen gepackt und das Haus verlassen. Seitdem  hatte er seine Mutter nie wieder gesehen.

Schmitz  verbarg die Puppe jetzt  unter seinem weiten Mantel und stieg mit schleppenden Schritten die Bahnhoftreppe zum Bahnsteig  wieder hinauf, wo  in wenigen Minuten sein Zug abfahren sollte, der ihn ohnehin  schon einen Tag  zu spät nach Prag bringen sollte.

Schmitz hatte eine schwere Zeit hinter sich.  Während seines letzten Fronteinsatzes in Charkov  als Sturmführer der Leibstandarte Adolf Hitlers  wurde er  im März  1943 durch einen Bauchschuss so schwer verletzt, dass  keiner mehr  einen Heller für ihn gegeben hätte. Bei   einem erfolgreichen  heroischen  Ausbruchversuch,  aus der bereits von den  Sowjets wieder eingeschlossenen Stadt wurde  der besinnungslose Schmitz von seinen Kameraden der Leibstandarte auf einen Panzer gebunden und ins nächste Lazarett gebracht. Nach  einer stundenlangen  Notoperation hat Schmitz  überlebt.  Es folgte ein  monatelanger Aufenthalt   in einem Lazarett in der Nähe von Berlin und  einem Sanatorium-Aufenthalt in Schleswig-Holstein. Danach   hatte die SS-Führung  ihn zunächst  vom Frontdienst freigestellt und ihm ein Jurastudium in Prag  ermöglicht. In der Uniform eines Offiziers der Leibstandarte  Adolf Hitlers  im Hörsaal der juristischen Fakultät  in Prag. Schmitz gefiel das und seiner Freundin Johanna in Berlin auch.

Drei Wochen  hatte Schmitz  bei seiner Freundin  Johanna in Berlin verbracht, die  einer  Tätigkeit im Sekretariat  Reichssicherheitshauptamt  nachging.  Auch sie hatte drei Wochen Urlaub, sogar mit ausdrücklicher Genehmigung ihres Chefs Ohlendorf  nehmen dürfen.  Sie hatten diese Zeit genossen und  in Zukunftsplänen für  die „Zeit  danach“ geschwelgt. Die Zeit nach diesem  verdammten Krieg, der kein Ende nehmen wollte.  Eine Familie gründen mit vielen Kindern inmitten von Menschen, die mit erhobenem Haupt mitten in Europa  einer blühenden Zukunft entgegen sehen dürfen.

Inmitten  einer dicht gedrängten Menge verängstigter Frauen, Kinder , ältere  Männer  und einigen Soldaten stand auch Sturmführer  Schmitz, die meisten Mitreisenden  um mindestens   Haupteslänge überragend,  und wartete auf den Zug nach Prag.  

Anders als  vorhin auf dem gegenüberliegenden  Bahnsteig  herrschte hier  in den Menschtrauben eine beklemmende Stille. Der kalte Wind  fegte durch die  vermummten Menschen, und  Schmitz vernahm nur  ein leises Wimmern von Kindern. Es schien, als ob die Menschen meist mit zum Boden gesenkten  Köpfen inne hielten,  um  über das in den letzten zwei Tagen geschehene nachzudenken.  Auch Schmitz, der immer noch die Puppe fest an seinen Leib drückte, verspürte jetzt nach Abklingen des für ihn unbegreiflichen emotionalen Ausbruchs,  eine aufsteigende  Müdigkeit und Ruhe, und er  begann über das nachzudenken, was sich hier auf diesem  Bahnhof in Radebeul-Ost  abgespielt hatte.  Eigentlich hätte er schon gestern in Prag  bei seiner Einheit zurück  sein müssen, aber die Ereignisse der letzten zwei Tage in Dresden  dürften sich bis nach Prag herumgesprochen haben,  und ein Disziplinarverfahren wegen Überschreitung seiner  Urlaubszeit nicht eingeleitet werden.  Schmitz war  vom Wege aus Berlin nach Prag über Dresden in einem unvorstellbaren Inferno  gelandet, das bei weitem das übertraf, was er  an der Front  in der Ukraine erlebt hatte. Eine noch  brennende, glühende Stadt  mit  einer Unzahl in den Straßen liegender  verkohlter  Leichen, verzweifelte herum irrende schreiende  Menschen  auf der Suche nach ihren Angehörigen.  Der Tod  war dem  21-jährigen  Soldat nicht fremd, neben ihm gefallene  Kameraden,  in Massen  tote Soldaten des bolschewistischen  Todfeindes , aus Rache für durch Partisanen getötete Kameraden  willkürlich erhängte Dorfbewohner  und  erschossene  Politoffziere  des Feindes , und  auch jüdische Männer, Frauen und Kinder , die in den Dörfern zusammengetrieben und außerhalb der Ortschaft erschossen wurden,   weil es  sein oberster  Vorgesetzter Heinrich  Himmler, dessen  Rede er in der Universität von  Charkov  als junger Offizier miterleben durfte, so befohlen hatte. Und auch die  gnadenlosen Erschießungen  von schwerer  verwundeten  Kriegsgefangenen, an denen auch er beteiligt war, all  das war Krieg, Krieg gegen den Bolschewismus  und das Judentum,  die gemeinsam  die  germanische  Kultur vernichten wollten.  Und deswegen war  dieser Krieg gerecht und notwendig, davon waren Schmitz und seine Kameraden von der Leibstandarte fest überzeugt.

Die glühende Stadt Dresden  hatte den  jungen SS-Offizier  neben seiner Wut auf Engländer und Amerikaner  erstmals  auch nachdenklich gemacht.  Ein 21-jähriger SS-Offizier, sein begonnenes  Jurastudium in Prag, seine geliebte Freundin in Berlin,  sein Traum  über eine zukünftige Familie,  in ihm keimte die Befürchtung auf, dass all das , so wie diese Stadt in Schutt und Asche versinken könnte. Sein improvisiertes Kommando  über die Bergung der Leichen, der versuchten Identifikation und  das  Aufstapeln der Leichen am Elbufer  zum Verbrennen  nahm ihn aber in seinem Pflichtgefühl  so gefangen, dass  er diesen  Gedanken  nicht mehr weiter nachhing, sondern seine Wut  über das Geschehene  eher in den Gefühlen „ jetzt erst recht“ mündete.

Das war gestern. Er hatte seitdem keine Sekunde geschlafen, aber das, was heute hier auf diesem Bahnhof passiert war,  ließ ihn nicht mehr los. Immer noch hielt er die Puppe unter seinem Uniformmantel fest an seinen Körper gedrückt. Obwohl  auf diesem Bahnsteig  kein Mensch auch nur einen einzigen Gedanken dafür  verschwendet hätte, ihn zu beobachten, wäre es ihm peinlich gewesen, wenn jemand bei einem Offizier der Leibstandarte Adolf Hitlers  eine Puppe unter seiner Uniformjacke  entdeckt hätte. Die Puppe hatte ihm ein fünfjähriges Mädchen mit einem Gesichtsausdruck  tiefer Dankbarkeit  überreicht, als er  einen Säugling, der offenbar ihr Bruder war,  durch das geöffnete  Fenster des  Eisenbahnwaggons gereicht hatte.

Er hatte die völlig verzweifelte Mutter  mit zwei kleinen  Mädchen und einem Säugling im Kinderwagen und zwei neben dem Kinderwagen stehenden Koffern  im Geschreie und Gedränge auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig entdeckt, der nur durch einen Tunnel  zu erreichen war.  Durch das rücksichtslose Gedränge und Geschiebe der verzweifelten Menschenmassen auf dem Bahnsteig  drohte  diese kleine deutsche Familie in dem Chaos  unterzugehen.

So schien es Schmitz und er drängte sich mit seinem  hünenhaften in einer SS-Uniform steckenden Körper  durch die Menschenmassen, die ängstlich zur Seite wichen als sie ihn  sahen und baute sich  vor der kleinen Familie auf.  Er blickte der verzweifelten Mutter in die Augen und  sagte: „ Vertrauen sie mir,  ich heiße Volkardt  Schmitz, bin Offizier, gehen sie mit ihren beiden Töchtern zu ihrem Bahnsteig, steigen sie in ihren Zug,  ich bringe ihnen den Säugling  im Kinderwagen nach und reiche  ihnen  den  Säugling durch das  Abteilfenster in das Abteil. Die Koffer geben sie in die Gepäckaufbewahrung, die funktioniert noch “  Die Frau erstarrte förmlich, nickte  mit gesenktem  Kopf   und sagte leise:    “ Ja,  danke, Herr Offizier“.  Schmitz packte den Kinderwagen, schwang ihn über seinen Kopf und verschwand zwischen den Menschenmassen, über deren Köpfen  der Kinderwagen sich langsam  von der Frau, deren Töchter sich ängstlich  an sie gepresst hatten, weg bewegte.     „  Mutti, wer ist dieser Mann“ fragte die ältere der beiden, die in der einen Hand eine Milchkanne und in der anderen  eine  Puppe mit Porzellanköpfchen.  „Das ist ein Engel, den uns der Herrgott  geschickt hat“ entgegnete die Mutter packte die beiden Koffer  und  schob die beiden Mädchen  durch die Menschentrauben  vor sich her Richtung  Bahnsteigtreppe.

Nachdem es der Mutter gelungen war, die Koffer in der Gepäckaufbewahrung abzugeben, drängte sie  sich mit   ihren beiden Töchtern die  Treppe zum Bahnsteig hoch, wo bereits der Zug Richtung  Dresden-Neustadt  stand und das  Gekreische und Jammern der Menschen  wurde  nur vom Zischen und Schnaufen  der  Lokomotive übertönt. Trotz all der Not und der Erregung der Menschen um sie herum  gab  es  einige  , die versuchten, ihr den Weg  zum Waggon zu bahnen, wo sie schließlich  in einem Abteil  einen Platz fand, den man bereitwillig für die frei gemacht hatte. Erschöpft  lehnte sie sich aus dem Abteilfenster und sah,   wie sich  der Kinderwagen  mit ihrem Säugling über die Köpfe  hinweg langsam auf  ihr Abteil zu bewegte. „ Hier, Herr Offizier, bitte  hierher“ rief sie winkend aus dem Abteilfenster und tatsächlich bewegte  sich jetzt der Kinderwagen direkt  auf sie zu.  Der Offizier, dem sie jetzt, wo er vor dem Abteil stand und vom Bahnsteig aus  zu ihr hochblickte, in die Augen schauen konnte,  hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit  weichen Zügen, blauen Augen und blonden verrußten Haaren. „ Sie sind mein Engel, meine Kinder und ich werden es ihnen ewig danken und sie nie vergessen.“ Der Offizier stellte den Kinderwagen vor sich ab nahm den Säugling, der trotz des Getöses und Stimmenwirrwarr fest schlief,  hoch und aus dem Kinderwagen schob ihn  durch das Fenster in  das  Zugabteil in die Arme der jungen Frau. „Den Kinderwagen stelle ich in den Eingangsbereich  des Waggons“ sagte der Offizier. Die älteste, Tochter der Frau hatte sich auf den Sitzplatz gestellt  stand jetzt auch am Fenster. „ Bitte, mein Herr, ich möchte dir  meine Puppe schenken,  weil du unser Engel bist , danke für alles.“ Der Offizier machte noch nicht einmal Anstalten, dieses Geschenk zurückzuweisen, er nahm die Puppe wortlos an sich, klemmte sie unter  seinen Uniformmantel , drehte  seinen Kopf mit Tränen in den Augen rasch  zur Seite, schob den Kinderwagen zum Eingang des Waggon, bugsierte ihn durch die Tür in den Waggon und verschwand  mit raschen Schritten zwischen den  Menschen, die sich auf dem Bahnsteig drängten.  „ Hast du das auch genau überlegt“ fragte die Mutter ihre Tochter und  ihr Stolz über ihre Tochter, die sich gerade  von ihrem  liebsten  und einzigen Spielzeug, das ihr geblieben war, aus Dankbarkeit  getrennt hatte, war unübersehbar. „ Wer war dieser Mann?“ , fragte die Tochter „ du hast gesagt, das ist unser Engel“  „Schmitz heißt der Engel, und wenn Gott es so will, werden wir diesen Engel eines  Tages wiedersehen.“

In diesem Moment  gab die Lokomotive ein Ohren betäubendes  Pfeifen von sich, eine russdurchtränkte Dampffontäne schoss in den Himmel, der Zug ruckte langsam an und der Wind blies  eine schwarze Rauchwolke am Zugabteilfenster vorbei. Die Mutter schob das Abteilfenster hoch und sank erschöpft auf ihren Platz.  Die Mitfahrer im Abteil hatten bereitwillig   für die Kinder Platz gemacht. Mit dem jetzt schreienden Säugling auf dem Arm  sah sie aus dem Fenster und sah in der Ferne  riesige Rauchwolken  über der Stadt,  die einmal Dresden gewesen war. Ihre beiden Töchter, vier und zwei alt, hatten es sich auf ihrem Schoß und ihren Beinen bequem gemacht und waren schlagartig eingeschlafen.

 

Kapitel 2

Schon in den frühen Morgenstunden  des 8. Oktober 1943  wehte ein lauer Spätsommerwind  durch  die  Hutbergstrasse  in Dresden- Rochwitz.  In der Stille dieses sonnigen  Herbstmorgen hört man  das leise  Kratzen und  Rascheln einiger  auf dem Gehsteig liegenden  verdorrten  Blätter der Kirschbäume,  die hier  zur Freude der Kinder die Straßen säumen.  In der Ferne krähte ein Hahn,  ein Hund kläffte und  die Vögel zwitscherten wie an einem Frühlingstag.  „Was für ein wunderschöner  Herbsttag“ dachte   die junge hochschwangere  Frau aus der Hutbergstraße 22, als sie aus dem Fenster des 1. Stockes auf die Straße blickt. Hier in dieser fast ländlichen Idylle vor den Toren Dresdens auf einer Anhöhe, die einen  weiten Blick Richtung Elbtal  erlaubte, hatte  sich  die junge Familie nach ihrer Hochzeit in Berlin   im Februar 1940  in einer Zweizimmer-Wohnung im ersten Stock  günstig eingemietet.  Abseits vom Großstadttrubel in Dresden und vor allem abseits der großen Städte im Westen und Norden des Reiches, wo, wie sie von Nachbarn  gehört hat , Tausende von Menschen bei  Bombenangriffen durch die Engländer um Leben gekommen sind.  Hier, so sagt man, sei  man bombensicher vor den Angriffen der Alliierten, weil die Entfernung  von England nach Dresden viel zu groß sei und  es sowieso keiner wagen würde, das Elbflorenz  zu bombardieren.

Aus dem Kinderzimmer  hörte sie  das Rumoren  ihrer beiden Mädchen, die jetzt  Gott sei Dank  mit zwei und vier  Jahren aus dem Gröbsten raus waren und noch schlaftrunken  zu ihrer Mutter  ins Wohnzimmer  schlurfen.  Die Große schleifte ihre Puppe mit  einem Porzellanköpfchen  hinter sich her, die ihr Vater ihr zum 3. Geburtstag geschenkt hat und seit dem ihre unzertrennliche Begleiterin war.

Es war an diesem sonnigen Morgen  noch  nicht einmal  7.00 Uhr , das Zimmer der kleinen Wohnung in der Hutbergstrasse  war durch die hellen Sonnenstrahlen, die das Zimmer durchfluteten hell erleuchtet und  die  beiden Mädchen  blinzelten jetzt in die helle Sonne, die durch das Fenster ihre Gesichter aufwärmte.   Sie schmiegten sich beide an die Schürze ihrer Mutter. „ Frühstück, Mutti?“ fragt die Große und die junge Mutter beugt sich hinunter, um ihre beiden  Mädchen  liebevoll  in den Arm zu nehmen und  zu herzen.  Wie jeden Tag gab es das Lieblingsfrühstück der Kinder. Während die große Katharina  auf ihren Stuhl rutschte, durfte die kleine Schwester Barbara auf dem Schoß ihrer Mutter sitzen und wurde mit einem Teelöffel gefüttert. Es gab Mempe, ein Brei aus Haferflocken, Milch und Zucker und  beide Kinder konnten sich nichts Schöneres vorstellen.

Unter der Schürze  der Mutter wölbte sich  bereits ein  beträchtliches  Bäuchlein, das auch der großen Tochter  mit den langen geflochtenen  Zöpfen nicht verborgen geblieben war, und Anlass zu mehrfach täglich  Fragen  nach einen Brüderchen  gab. Die zierliche Frau mit den langen dunklen, nach oben und hinten gesteckten gewellten Haaren,  beantworte diese Fragen mit einen feinsinnigen  schmunzelnden  Lächeln, das  allerdings  unübersehbar auch von einem Zug trauriger und sorgenvoller Miene begleitet war. „ Ja, meine geliebte Katharina,  ein Brüderchen, so Gott es will“ und strich ihrer Tochter dabei liebevoll über den Kopf und  die blonden  langen Zöpfe.  Dann schmiegte sich  die Tochter  gedankenversunken minutenlang  an den Bauch der Mutter  und freute sich schon, das Brüderchen  in das Abendgebet  einschließen zu dürfen.

Die  junge Mutter Margarethe  Schneeberg hatte bisher kein leichtes Leben  hinter sich gebracht.  Als jüngstes von vier Kindern   eines  despotischen aus kleinsten  ostpreußischen  Verhältnissen  stammenden  Latein- und Französischlehrers, der als besonders intelligent aufgefallenes Kind auf Empfehlung seiner Lehrer über ein Stipendium  gefördert worden war, musste sie  nach dem frühen Tode ihrer Mutter mit Kinderfrauen und  Geliebten ihres Vaters zurechtkommen, die die Jüngste  in dem Chaos  einer  mutterlosen Familie  hin- und herumschubsten. Geboren 1918  in einem Internierungslager in Bern, in dem die Familie nach Gefangennahme  des  Vaters  untergebracht  war,  wuchs sie   in Berlin auf und   musste nach der mittleren  Reife Kinderkrankenschwester  werden, während ihr großer Bruder  zum Marinearzt  ausgebildet wurde. Im Alter von 21 Jahren hatte  sie  den fünf  Jahre älteren  Gartenbauinspektor  Siegfried Schneeberg, den sie schon als 13-jähriges Mädchen bei einer Familienfeier kennengelernt hatte,  an einem  bitterkalten  Wintertag  1940 in Berlin geheiratet.  Die Hochzeit war trotz der Kälte euphorisch überlagert  von Zuversicht  über die Zukunft, und  ihr großer Bruder in Offiziersuniform  und  ihr   Vater  posierten mit Parteiabzeichen  der NSDAP  und Hakenkreuzbinde in Siegerpose  auf den Hochzeitsfotos. Margarethe Schneebergs  Leben war von ihrer Kindheit an trotz aller schrecklichen Erlebnisse in einem mutterlosen Haushalt   von Gleichmut, Toleranz und Hilfsbereitschaft   geprägt, wahrscheinlich Charaktereigenschaften ihrer  Mutter, die sie nie richtig kennengelernt hatte und sehr früh an einer nicht rechtzeitig  erkannten Diphterie gestorben war. Die politischen Ereignisse  um sie  herum  nahm sie mit schicksalsergebenem Gleichmut hin, weil sie  nahezu ausschließlich auf das Durchkommen ihrer kleinen, wachsenden Familie fokussiert war. Ihr Ehemann Siegfried Schneeberg  war im Auftrage einer Landschafts- und Straßenbaufirma  in den besetzten  Gebieten in  Frankreich unterwegs und sie wusste nicht einmal genau, wo und was er dort machte.   Gelegentlich tauchte er an Wochenenden zu Hause  auf und die Stimmung war trotz  finanzieller Zwänge und bedrohlichen Nachrichten  aus dem Volksempfänger  erfüllt von  Zuversicht und  Glücksgefühl über die wachsende Familie.

Welch ein wunderschöner lauer und  sonniger Herbstmorgen, dachte die junge Mutter!  Nach  kleiner Morgenwäsche, Zähneputzen und frischem Flechten  der blonden Zöpfe für die beiden   kleinen  Mädchen, nahm die Große ihre  Puppe in die rechte und die kleine Schwester an die linke Hand, half ihr die Holztreppe hinunter und raus ging es in den Garten, der an  eine menschenleere  Straße grenzte, die  sich Richtung Elbe hin sanft in einem weiten Bogen  nach unten senkte und an diesem  Morgen in der frischen klaren Luft die abgeernteten Felder  in der Morgensonne  in ein sanftes  Gold tauchte.

Margarete Schneeberg öffnete die Fenster  des kleinen  Wohnzimmers zur Straße hin, schaute auf ihre beiden Mädchen im Vorgarten und  sog  mit einem Gefühl der Glücks über ihre kleine Familie  die herrliche frische Luft  an diesem sonnigen Sonntagmorgen  ein.

An diesem frühen Sonntagmorgen  hörte sie in der Ferne aus dem Osten kommend ein leises  Motorengeräusch, das ganz anders klang, als das Geräusch der Binnenschiffmotoren, das man  bei Ostwind von der Elbe her bis hierher hören konnte.

Die beiden Mädchen  waren immer noch  völlig versunken in ihr  gemeinsames Spiel im Vorgarten, obwohl   das  Motoren- und Kettenfahrzeuggeräusch   jetzt schon sehr viel  deutlicher  zu hören war.  

Am untersten  Ende der Senke der Hutberstraße  sah  jetzt Frau  Schneeberg  im flimmernden  Dunst  die grauen Umrisse einer ganzen Fahrzeugkolonne  auftauchen, die sich gleichmäßig  die bogenförmige Straße  hinaufbewegte. Der zunehmende  Fahrzeuglärm hatte jetzt auch einen Teil der Nachbarschaft aufgeschreckt, die  nun  aus ihren Fenstern  auf die Straße hinunterblickten.  Die Fahrzeugkolonne bestand aus Lastwagen der Wehrmacht, einem Kettenfahrzeug offenbar mit einer Flugabwehrkanose, die aus vier Rohren bestand und Baufahrzeugen in Wehrmachtsfarbe, die mit Gerätschaften  für den Bau einer Luftabwehrbatterie beladen waren.  „was will denn die Wehrmacht  in der  Hutbergstrasse ?“  fragte sich Frau Schneeberg,  „ das kann doch gar nicht sein“.  Inzwischen waren  die beiden Mädchen an den Gartenzaun  gelaufen und sahen mit staunenden   Gesichtern, wie die Kolonne  der Militärfahrzeuge in  eine kleine Seitenstraße  einbog, die auf der kleinen  auf der Anhöhe hinter  ihrem Haus endete. Jetzt waren auch  die  Soldaten, die auf den Fahrzeugen saßen gegen das Licht  deutlich zu erkennen und  winkten den Kindern, die sich  inzwischen   auf der Hutbergstraße versammelt hatten  und johlend hinter den Fahrzeugen  herliefen, freundlich  zu.

Frau Schneeberg lief durch die Wohnung  in das Kinderzimmer, zog die noch  verschlossenen Vorhänge  hastig beiseite  und blickte  auf die  ca. 100 m entfernte Anhöhe hinter dem Haus. Das Grundstück  gehörte  dem Bauern  Anschütz aus Rochwitz und war Teil eines abgeernteten  Roggenfeldes, auf dem nur noch  die  abgeschnittenen Halme in der Morgensonne scharfe Schatten warfen.

Die Soldaten sprangen von ihren Fahrzeugen und begannen offenbar  bestens gelaunt  miteinander plaudernd und  sogar singend  die auf einer Lafette  montierte Flugabwehrkanone aufzubauen.  Andere  kümmerten sich  angetrieben  von ein paar nicht besonders lauten Kommandos  eines Unteroffiziers um die Errichtung einer Zeltunterkunft aus  Stangen, die mit einigen Hieben eines kleinen  Vorschlaghammers  in das Erdreich getrieben wurden,  und einer  großen dunkelgrünen schweren Plane, die  über das mittlerweile in Windeseile errichteten  Stangengerüstes gezogen wurde. Die Planen waren seitlich gefenstert und ließen sich von Innen mittels einer gerollten Plane verschließen.

Inzwischen hatten sich nahezu  alle Bewohner der Hutbergstrasse, nahezu ausschließlich Frauen und Kinder und einige  wenige ältere Herren  hinter dem Haus , in dem die Familie  Schneeberg wohnte,  versammelt und verfolgten  mit einer Mischung aus Bewunderung über die Schnelligkeit mit der man  das  Zelt und  das Flakgeschütz errichtete   und  Besorgnis darüber, was das alles zu bedeuten hätte.  Es wurde leise untereinander getuschelt, aber den Mut  den Unteroffizier zu fragen, brachte keiner auf.  Stattdessen kam  der Unteroffizier plötzlich mit raschen Schritten auf die  sprachlosen  Zuschauer zu und verkündete  in freie Rede mit ziemlich freundlicher Stimme,  die Heeresführung hätte auf Anweisung des Führers angeordnet, zum Schutze der hier wohnenden  Einwohner  eine  Flugabwehrkanone  zu errichten und bitte die Bevölkerung um Verständnis und Unterstützung. Es sei zwar richtig, dass es  der Feind  nicht wagen würde, mit seinen Bombern, die auch gar nicht  dazu in der Lage wären,  bis nach Dresden zu fliegen.  Die  Einwohner sollten nicht besorgt sein, der Führer würde sie schützen und bittet um gesteigerte Aufmerksamkeit und Meldung von außergewöhnlichen  Ereignissen in der Umgebung und sofortige Meldung an seine Einheit.  Man wünsche sich ein freundliches miteinander.    Hob seinen rechten Arm, knallte Hacken seiner  frisch gewienerten  Stiefel zusammen  und rief dann  schon im Abdrehen  jetzt mit  schnarrender Stimme  „ Heil Hitler“.

Mehr als ein allgemeines Gemurmel  bei den zuschauenden  Frauen und  älteren Männern war  nicht zu vernehmen, von denen sich  jetzt die meisten mit sorgenvoller  Miene  abwendeten und sich auf den Weg nach Hause machten. Jedenfalls war ein  „Heil Hitler“ nicht zu vernehmen und   ein deutscher Gruß  nicht auszumachen.

Kapitel 3

Dresden, den 15.2.1945

Mein geliebter Herzensmann,

ganz schnell einen Gruß und  Lebenszeichen von uns.  Es ist wie ein Wunder, dass wir alle noch am Leben sind und sogar alle noch ein Dach über dem Kopf haben und das alles in unserem eigenen kleinen  Wohnungel. Wie durch ein Wunder haben alle unseren Lieben unversehrt den Weg hierher gefunden, dazu kommen noch zwei hilfsbereite Herren, die sich uns auf dem Weg von Bahnhof Dresden-Neustadt abgeschlossen haben.

Es ist ein schreckliches Elend, was über unser Dresden gekommen ist und mit Worten nicht zu beschreiben, was wir auf dem Wege von Weißwasser bis  hierher erlebt haben. Und dennoch ist uns ein Wunder passiert, ohne das unsere drei Kinder   und ich  hier nicht wohlbehalten angekommen wären.

Aus Weißwasser mussten wir am 13. Februar  Hals über Kopf  schnellstens raus, weil die russische Front sich rasch der Oder bis auf wenige Kilometer genähert hatte. In den Straßen von Weißwasser haben wir die nicht endenwollenden, unglückseligen Flüchtlingsströme aus dem Osten gesehen. Der Bahnhof in Weißwasser war dicht besetzt, Kopf an Kopf auf jedem Bahnsteig, eine einzige Anhäufung von verzweifelten, stummen Menschen, nur das Schreien der Kinder, die sich an die Mütter klammerten war markerschütternd.

Mein lieber Mann,  unsere beiden Mädchen verhielten sich sehr diszipliniert und unsere Große hielt ihre geliebte Puppe fest an sich gedrückt. Unser Sohnemann  schlummerte friedlich im Kinderwagen, als sei nichts geschehen.

Der Zug war völlig überfüllt, aber alle Menschen waren sehr hilfsbereit, viele auch völlig apathisch und erschöpft vom langen Fußmarsch aus dem Osten. Auf dem Bahnhof Großenhain wurde der Zug plötzlich  gestoppt, weil,   so wurde durchgesagt, ein Angriff der Alliierten  auf Dresden erfolgen würde. Und tatsächlich konnten wir vom Zug aus in der Ferne gegen 22.00 Uhr die Angriffe verfolgen und eine riesige Rauchsäule aus einer glutroten erleuchteten Stadt sehen. Hätten wir hier nicht gestoppt, wären wir alle in diesem schrecklichen Inferno umgekommen. Die Menschen im Zug  waren zugleich entsetzt aber auch  froh, dass sie dem sicheren Tod entkommen waren. Wir sind dann nach einer kleinen Mahlzeit aus unseren mitgenommenen Vorräten erschöpft im Zug eingeschlafen.

Am nächsten morgen fuhr der Zug dann  weiter. In Radebeul-Ost  war dann wieder Schluss,  weil alle Bahnhöfe in Dresden  durch den Angriff zerstört waren. Auf dem Bahnhof herrschte ein schreckliches Chaos, und die dichtgedrängten völlig verzweifelten Menschen, Frauen, Kinder und Soldaten. Der eine Teil wollte nach Dresden hinein, der andere Teil aus Dresden raus.  Und wir mitten drin mit Köfferchen und einer Kanne mit Marmelade, die uns Tante Trude mitgegeben hatte.  Ich war ziemlich verzweifelt  und sah keine Möglichkeit, wie ich diesem dichten Gedränge mit den Kindern und dem Kinderwagen auf den anderen Bahnsteig kommen sollte, auf dem ein Zug um Dresden herum  nach Dresden- Neustadt fahren sollte.

Plötzlich stand ein  SS-Offizier in einem verstaubten  nach verbranntem Fleisch  riechenden Mantel vor und fragte sehr höflich, ob er mir helfen könnte. Ich solle die beiden Mädchen nehmen, die Gepäckstücke in der Bahnhofshalle abgeben, er würde den Säugling und den Kinderwagen  hinterherbringen. Die Gepäckaufbewahrung war tatsächlich geöffnet und einen Platz im Zug zu bekommen nicht so schwer, weil die Menschen trotz des Chaos hilfsbereit waren und  zwei  Plätze in einem Abteil  für uns frei machten.  Wenig später sah ich den hochgewachsenen Offizier mit dem Kinderwagen über den Kopf auf unserem Bahnsteig und winkte ihm zu. Er nahm unseren kleinen Sohn aus dem Wagen, reichte ihn durch Fenster.  Unsere  Große war völlig  begeistert von diesem Mann und fragte, wer dieser Mann sei. Das ist ein Engel, den uns der Herrgott geschickt hat, hab ich ihr gesagt. Da nahm sie ihre geliebte Puppe und reichte sie dem Offizier durchs Fenster, der die Puppe an sich drückte, den Kinderwagen  in den Waggon schob und dann rasch durch das Menschengedränge verschwand.  Mein geliebter Mann,  dieser Offizier hat sogar seinen Namen genannt, er hieß Volkhardt Schmitz. Sollte dieser schreckliche Krieg jemals zu Ende gehen, so würde ich gerne  diesen von Gott geschickten Engel wiederfinden wollen!

Vom Bahnhof Dresden-Neustadt  mussten wir dann  fast 20 km zu Fuß über den Nordrand nach Rochwitz über die Bautzner Straße  und Bühlau gehen, wo ich als Schwester gearbeitet habe.  Begleitet haben uns  zwei Männer, die uns eine große Hilfe waren.  Am Mittag  gab es am hellerlichten Tag  einen erneuten Angriff auf das Stadtzentrum, das wir aus der Ferne mitansehen mussten.  Es war alles so schrecklich und die Kinder völlig verängstigt.  Am Abend sind wir dann total erschöpft  in der Hutbergstraße angekommen.

Und stell dir vor, wen wir alles in unserer kleinen Wohnung vorfanden. Unsere Tante Grete aus Wangleve, Elisabeth aus Ostpreußen,  die Trebschener Leutchen, dein Bruder Michael, deine Schwester Eleonore. Alle waren bei allem Elend total froh, dass man sich hier wiedergefunden hatte,  nur wusste keiner, wo Dein Väterchen abgeblieben war, das Haus in der Eisenstuckstrasse  ist  jedenfalls  völlig zerbombt. Die Kleine von  Herrmanns ist während der Flucht aus Trebschen an einer Lungenentzündung verstorben. Die beiden freundlichen Herren sind mit unbekannten Ziel verschwunden, so dass wir jetzt hier  mit 10 Personen zu recht kommen müssen, aber in der Not geht alles und schweißt zusammen.

So mein geliebter Mann, bleib gesund. Wir denken  immer an dich. Deine Kinder umarmen Dich

Dein Weibel

Kapitel 4

15.2.45: Im Zug nach Prag

Obersturmführer Volkardt Schmitz  sackte nach  mehr als 40 Stunden  ohne Schlaf und höchster Anspannung völlig erschöpft auf seinen  Sitz im Zug nach Prag, presste  die Porzellanpuppe unter seinem Mantel fest an sich und  versank zufrieden über seine gute Tat auf dem Bahnhof  Radebeul-Ost  in einen tiefen Schlaf.

Beim Warten auf den Zug konnte er  in der Ferne  die riesigen den Himmel verdunkelnden  Rauchsäulen über der immer noch brennenden Stadt Dresden sehen. Seine Gedanken schwankten zwischen  Wut und Hass auf die Alliierten, die  sein geliebtes Dresden in Schutt und Asche  gebombt und den Tod von  Zehntausendenden  von Menschen durch  Brandbomben erbarmungslos in Kauf genommen haben, aber auch zwischen Verzweiflung über die immer auswegloser scheinende  Situation der Deutschen Armee und  der Zukunft des deutschen Reiches, aber auch seiner Zukunft, seiner Liebe.

„ Ich schwöre Dir Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe Dir und den von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe“

Hatte er nicht diesen Eid, den er als SS-Rekrut  geschworen hatte, tausendfach in den letzten Jahren in sich  hineingefressen, auch als in Charkow  Hunderte seiner tapferen Kameraden der Leibstandarte an seiner Seite  fielen, als  man bolschewistische Partisanen, bolschewistische Kriegsgefangene und verhasste jüdische Zivilisten für die heroische  Zukunft eines zukünftigen Großdeutschland  vernichtete. Und jetzt soll das alles umsonst gewesen sein? Zum ersten Mal in seinem Leben beschlich ihn das Gefühl von Angst und Ausweglosigkeit für Deutschland aber auch seiner eigenen Situation. Hatte er nicht eine große Liebe mit der er und gemeinsamen Kindern in einer glücklichen Zukunft leben wollte.

Was war das für eine herrliche Zeit als er als junger Mann  von 17 Jahren zum ersten Mal  vor der  Kaserne der Leibstandarte Adolf Hitler in Berlin - Lichtenfelde stand. Er, als Auserwählter durfte durch das riesige Eingangstor  schreiten, das flankiert war von  aus Stein gehauenen baumlangen SS-Männern im  Stahlhelm mit ihren langen Mänteln und mit vor die Mitte des Körpers gesetzten Gewehren.  In schwarzen Lettern stand quer über dem mächtigen Eingangsportals  „Leibstandarte Adolf Hitler“ und darüber hing  ein riesiger schwarzer Adler, der sich gegen den blauen Himmel abhob, als er ehrfurchtsvoll  nach oben schaute.

Das war der bisher schönste Moment in seinem Leben gewesen,  und noch heute lief es kalt den Rücken herunter, wenn es an diesem Moment zurückdachte.

Hier, wo schon Göring und Hindenburg  ihre Kadettenzeit verleben durften, war sein neues Zuhause, seine neuen  Freunde und Kameraden, alle mit einem Ziel, die Vernichtung der deutschen  Feinde für ein blühendes neues Großdeutschland.

Wir sind die schwarze Garde

die nie ein Feind gefällt;

des Führers Leinstandarte

das beste Korps der Welt!

Dieser Refrain schalte ihm schon von einer Gruppe von Kameraden entgegen, die von einer Übung zurückgekehrt waren, als er mit seinem Gestellungsbefehl das Gebäude betrat.

Es wurde im Kreise seiner Kameraden trotz der harten Ausbildung  die schönste Zeit  seines Lebens.

Mit diesen Gedanken stieg er in den Zug nach Prag ein und  die Vorstellung, dass  nun alles zusammenbrechen könnte,   verflog rasch und er schlief  ein, sobald  er  sich  auf seinen Platz gesetzt hatte und sorgfältig darauf geachtet hatte, dass die Puppe unter seinem Mantel blieb.  Diese Puppe wird ihn sein Leben lang begleiten, der Beweis für seine Herzensgüte eines aufrechten deutschen Bürgers und Offiziers.

 

 

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aaaaaaa

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                    Kapitel 4


                   Schafskälte


Hamburg im Juni 1967

Knut Knudsen, Student der Sportwissenschaft und Geographie zögerte keine Sekunde. Wie durch weiche Butter glitt die Klinge des das scharf geschliffenen Küchenmessers in seinen prankenartigen Händen ruhig und schnell durch die Kehle des Schafes. Ein scharfer, pulsierender roter Strahl schoss gegen die mit umgedrehten Eierkartons ausgekleidete Wand des Klavierzimmers

und wurde nur von einem leisen gurgelnden Geräusch aus der Kehle des noch zuckenden Schafes begleitet. Dann ließ Knudsen das Tier los, das schlaff auf den mit Zeitungspapier ausgelegten Boden sackte, auf dem sich jetzt in abflachenden Schüben das Blut aus dem zerschnittenen Hals des Tieres ergoss und den Boden in ein tiefes Rot färbte. Nach einigen Sekunden angespannter, gespenstischer Ruhe im Keller des Studentenheims johlte der kleine Haufen von Kommilitonen erst verhalten, dann aber richtig los. „Wer A sagt muss auch B sagen“ brüllte Heiner Klemm in die johlende Menge

hinein, während Knudsen wortlos mit einen schnellen Schnitt die Bauchdecke der Kreatur aufschlitzte und sich die Eingeweide wie ein fester Brei auf den blutgetränkten Boden ergossen. Ein dumpfer Geruch aus frischen Blut und Eingeweide erfüllte den kleinen Raum und Klemm, der, um sich selbst zum Mut machen, eben noch was von A und B geschrien hatte, stürzt bleich aus dem Klavierzimmer und erbrach sich auf dem Kellerflur des Studentenheims. Alle Anwesenden wussten natürlich, was mit A und B gemeint ist. B war die Schlachtung oder besser gesagt die Schächtung, und A war die Vollversammlung des Studentenheims

auf der der Kuratoriumsvorsitzende von Rothen und sein Heimleiter Pastor Loose nach einer flammenden Rede des Studentensprechers Knudsen nieder geschrien wurden und mit großer Mehrheit beschlossen worden war, dass statt eines Rasenmähers, den das Kuratorium zur Pflege der Rasenflächen zwischen den Häusern eins bis drei spenden wollte, zwei Schafe gekauft werden sollten. Denn, so hatte der wortgewaltige Sprecher der Studenten aus Nordfriesland verkündet, bei ihm zu Hause gäbe es gar keine Rasenmäher, dort mähen und mähen, ha, ha die Schafe, und wenn die sich dann ausgemäht und ausgemäht

hätten, ha, ha, dann lasst es euch gut schmecken. Zustimmung und Gejohle unter den verzweifelten Blicken vom Kuratoriumsvorsitzenden und seinem Pastor. Eine Woche später hatte Knudsen mit seinem R4 zwei kleine Lämmer aus Nordfriesland mitgebracht, die von nun an, die Wege zwischen Haus eins bis drei voll kötelten , aber auch pflichtgemäß das Gras zwischen den Häusern kurz hielten. Wer A und B sagt muss auch C sagen, verkündete Knudsen am Tage nach der Schächtung auf einen Schreiben am schwarzen Brett der Häuser ein bis drei und lud ein zu einem Lammbraten am Spieß am Abend auf der Wiese, auf der

er sonst seinen Mitkommilitonen das Volleyballspiel beibrachte. Für Salate, Alkohol, Teller und Besteck hätte jeder selbst zu sorgen, um alles andere würde er, sich selber kümmern. Im Juni 1967 war es Dank der Schafskälte an diesem Festtag ziemlich kalt, aber dennoch Zahl der Teilnehmer hoch, eigentlich fast alle Bewohner des Studentenheimes, einschließlich auswärtiger Gäste, die ohnehin fast täglich auftauchten, um kostenfrei im Studentenheim duschen zu können. Die Mehrzahl der Teilnehmer waren Ausländer, wie es sich für ein Studentenheim für Ausländer, genannt Überseekolleg, gehört: aus Afrika,

Asien, Südamerika, sogar Nordamerika und Europa und vor allem aus den arabischen Ländern, die hatten sich aber schon seit Tagen verkrochen, weil der 6-Tage-Krieg gerade beendet war nachdem sie vor ein paar Tagen noch ausnahmslos jubelnd auf den Tischen getanzt hatten, um den bevorstehenden Sieg über Israel zu feiern. Für Sitzplätze rund um den Bratspieß war gesorgt, dafür mussten die Regale aus der vom Kuratorium gespendeten Bibliothek herhalten. Diese waren im Karree um den Drehspieß, der von Knudsen bedient wurde, auf Büchern aufgestellt. Bei reichlich Alkohol, revolutionären

Liedern bei Gitarrenklängen und ziemlicher Kälte kam man sich auf den Bücherregalen immer näher bis das Feuer auszugehen drohte. Was lag da näher, als die die Regale aus der Bibliothek zu verfeuern, von denen am nächsten Morgen nur noch ein Häufchen Asche auf einer völlig verbrannten Rasenfläche übrig geblieben war. Die Bücher der Bibliothek lagen nun gestapelt an der kahlen Bibliothekswand und das Kuratorium fand sich zu einer Sondersitzung zusammen. An diesem besagten Abend fanden sich, neben vielen anderen, zwei Menschen, die sich bei der kühlen Luft am Lagerfeuer zum ersten Mal wahrnahmen

und näher kamen. Hier keimte eine Liebe vor dem Hintergrund der dramatischen Geschichte zweier Familien, die nicht weiter voneinander hätten entfernt sein können und doch miteinander verwoben waren.                         ***

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Über den Autor

Tucanos
Jetzt habe ich ein wenig mehr Zeit und gehe neben der Fotographie und Herstellung von Skulpturen meinem neuen Hobby, dem Schreiben nach.
Neben ein paar Kurzgeschichten, die ich noch in der Pipeline habe, arbeite ich an einem Familienroman mit dem Titel " Die Puppe". Ein Hund und zwei kleine Enkelkinder lassen jedoch wenig Zeit für meine Hobbys.
Meine Fotos und Reiseberichte aus aller Welt sind unter www.tucanos.de zu sehen und zu lesen.

Mein Motto: nur wer sich die Welt angeschaut hat, kann auch eine Weltanschauung haben.

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Karimela Ich war gerade letzte Woche in Dresden und die Vorstellung, was sich dort in den letzten Kriegstagen abgespielt hat, ist gelinde ausgedrückt grauenhaft. Ich gehöre zu der glücklichen Generation, die niemals Krieg erlebt hat und das alles nur aus Geschichten kennt. Geschichten wie dieser hier, die durch die Schilderung einzelner Schicksale das Grauen, die Angst, die Gedanken, Gefühle und Beweggründe der handelnden Personen verständlicher und damit eindringlicher macht, als jede Reportage es könnte. Plötzlich sind es wirkliche Menschen, einzelne Schicksale, über die man etwas erfährt und die einen berühren.
Dein Text liest sich darüber hinaus sehr gut, ist flüssig geschrieben und hat mich gleich "festgehalten".
Liebe Grüße
Karimela
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Gast liebe Karimela,
die Geschichte ist eine Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit, die aus Briefen meiner damals sehr jungen Eltern stammt. Es soll ein sehr komplexer Familienroman aus ungefähr 20 Kapitel werden.
Ich wüsste nur zu gerne, wie die angefangenen Kapitel mit weiteren Kapitel ergänzen kann. Ich kriege das einfach nicht auf die Reihe. Weißt du, wie das geht?
Vor langer Zeit - Antworten
Karimela Meinst du rein technisch? Du gehst auf "Deine Bücher", suchst das, welches zu ergänzen willst aus und da gibt es dann oben links auf dem kleinen Cover einen Button zum Bearbeiten. Den klickst du an und fügst anschließend ein Kapitel an deinen Text an (linke Spalte "Kapitel hinzufügen"), das Ganze speichern und schwupps - müsste es geklappt haben;-)
Ich hoffe, ich konnte dir helfen.
LG
Karimela
Vor langer Zeit - Antworten
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