Die letzte Reise
Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich wach bin.
Ich bin schwer verletzt, liege in einem Indianer-Wigwam und eine dicke Felldecke ist von den Hüften abwärts über den Torso geschlagen. Ich sehe blass aus, wächsern. Die Augen sind geschlossen, nur die feuchten Lider zittern fiebrig.
Eine Squaw tupft mir mit einem kaltfeuchten Tuch die schweißgebadete Stirn und aus der Brust in der Nähe des Herzens sickert hellrotes, sauerstoffreiches Blut heraus, das den aufgelegten Kräuterbrei durchtränkt und unter den darüber gebundenen, grünen Blättern ausschwemmt. Lebendig glitzernd tritt
es hervor und wird dann zu einem zähen Ölteppich, denn der Pressverband aus diesen Blättern scheint die Blutungen nur unzureichend gestillt zu haben.
Ein Feuer prasselt in der Mitte des Zeltes und der Rauch steigt durch den offen gelassenen Abzug an der Zeltdecke nach oben. Es spritzt und knallt Funken und malt tanzende Schattenwesen auf die Plane.
Nun nimmt die Squaw ein Tamburin vom Boden auf, das mit Tierhaut bezogen ist und dessen Holzring keine Schellen hat. Dafür ist es mit Fell bespannt, hat eine Menge Kordeln, Federn und alle möglichen, mystischen Zeichen eingeritzt.
Sie fängt an zu trommeln. Die Abstände des Tam, Tam werden länger, dann wieder kürzer, bis zu einem Stakkato. Es folgen immer wieder unregelmäßige Pausen. Dazu lässt sie einen magischen Singsang ertönen, der direkt aus ihrer Kehle zu kommen scheint. Es sind gutturale, aber dennoch hohe Töne. Diese Laute sind wohl irgendeiner Zaubersprache entlehnt. Ich habe schon mal von so einer Art „gesund beten“ gehört. Trotzdem hört es sich für mich eigentlich mehr wie ein Jaulen an. Dann wieder Ruhe.
Die Indianerin beugt sich zu meinem Kopf herunter, pustet ins Ohr und seitlich über das starre Gesicht, wie Steppenwind. Es kühlt. Tam, Tam, Tam, die Prozedur wiederholt sich.
Ich beobachte, wie im Traum, gleichsam als höheres Wesen, von oben herab die Szenerie. Es zeigt sich ein surreales Bildnis, wie einen Film aus einer Künstlerwerkstatt. Wer hält sich schon am Kamin des Tippis auf? Ich glaube, ich zwinkere mit den Augen.
Nun sehe ich eine nebelige Umgebung. Die Gegend ist völlig menschenleer und man sieht auch keine Gebäude, Behausungen, oder irgendeine Straße. Auch keinen Weg. Der Boden ist spärlich mit Steppengras bewachsen und Schwaden ziehen darüber hinweg. Sie ballen sich hin und wieder zusammen, wie vulkanische Fulmarole. Ein steiler Ziehpfad führt abwärts in die davor liegende, tiefe Schlucht hinunter. Die Schlucht
scheint zum Abgrund hin immer enger zu werden und ist gespickt mit zackigem Gestein aus Schiefer. Man hat den Eindruck, der Pfad führt direkt in einen zahnbewehrten Drachenschlund. Der Grund ist nicht sichtbar, weil darüber ein undurchsichtiges Wellenmeer aus hellgrauen Wolken hängt. Die ganze Umgebung strahlt Tristesse aus. Kein Vogel, kein Wind. Es ist unheimlich.
Ich sehe einen Jungen, der zielstrebig auf dem Steig voran geht, sich immer wieder umdreht, mir zuwinkt, dass ich ihm folgen soll und dann weiter stiefelt. Mein Körper schwankt unstet hinterdrein und in mir kreist ein Wald verschiedener, vergessener Erinnerungen. Ich versuche etwas zu
erfassen, zu spüren. Meine Gestalt weist keinerlei Verwundung auf. Sie ist unversehrt.
Es ist wie in einer Parallelwelt. Ich bin mit einem großen, grauen Leinenshirt, das trotz Windstille flattert, und einer ausgefransten Hose bekleidet. Die Füße sind nackt. Im Hintergrund ist leise das Tam, Tam zu vernehmen.
Hört sie die Stille? Will sie mich zurückführen?
Was macht der Knabe? Möchte er mir den Weg zeigen? Der soll nur aufpassen, dass er nicht selber stolpert..Je länger ich dem Bürschlein folge, der inzwischen etwas hell, durchsichtig wirkt, desto leiser schallt das Tam, Tam von den Berghängen herüber. Auf einer Bergspitze, kurz unter dem Gipfel, sieht man deutlich den schwarzen Umriss eines
Kojoten, der sich vor dem hellgrauen Gestein abzeichnet und ein Jaulen von sich gibt. Seine Töne schwingen eindringlich und erinnern an eine Art Singsang. Es singt außerdem noch jemand. Heult ähnlich. Große Teile meines Wesens scheinen einfach leer zu sein.
Ich beobachte erneut die Geschehnisse im Wigwam von oben herab. Die Indianerin redet intensiv auf den Körper ein. Es klingt flehendlich und bittend. Komisch, dass man Bitten, Verzweiflung, das Hilfe Erflehen so klar in sich aufnehmen kann, obwohl man kein Wort von der Sprache versteht. Ihr Kauderwelsch ist nicht zu entziffern, allenfalls durch meine Gefühle zu verstehen. Sie bangt
um mich. Sie beugt sich mit dem Kopf auf den Boden, fleht! Mir als Betrachter krampfen sich die Muskeln zusammen. Meine Hände sind zu knirschenden Fäusten geballt. Ich muss eingreifen! Ich rufe herab.
„Bitte, bitte, komm doch zurück! Lass mich nicht im Stich! Vergiss dich nicht! Oh, Himmel, komm doch zurück!“
Die Indianerin pustet wieder.
Wieder auf dem abschüssigen Ziehweg erfasst die stolpernde Gestalt ein Windstoß von der Seite und lässt sie für einen Moment stocken. Laß doch das Tam Tam sein! Es verschindet eh' im Hintergrund.
Plötzlich doch ein Wind in dieser Stille?
Hat sich etwas verändert?
Der Schmerz bauscht sich nochmals auf und ich will ihn nicht mehr ertragen.
Der Junge wird immer durchsichtiger, je weiter er sich entfernt. Ich möchte dem Bürschchen zuschreien, verzweifelt, verkrampft zubrüllen:
„Kehr um, Kehr doch endlich um, du Idiot! Mein Gott, tue es einfach!“
Die Gefahr ist spürbar, wie ein Wasserstrudel.
Aber der Junge kann es nicht hören, denn kein Laut entweicht meinen Lippen. In dieser nebeligen, diesigen Umgebung habe ich nicht den geringsten Einfluss. Nichts ist von meinem innerlichen Aufschrei zu bemerken. Diese Hilflosigkeit ist das Schlimmste! Es ist
beklemmend, erdrückend, wie wenn nasser Sand einen ummauert. Mir wird es jetzt zu bunt in meiner Hilflosigkeit. Ich beschließe dem Jungen zu folgen. Vielleicht kann ich ihm ja helfen.
Ich stapfe, gewinne Kraft.
Ich bin nun richtig zuversichtlich.
Mir geht es besser, weil ich nun eine Zielrichtung habe. Aber anstatt Hang abwärts in den Drachenschlund herein zu marschieren, eröffnet sich mir ein völlig neuer Anblick, nachdem ich die Wolkendecke durchstoßen habe.
Ich sehe das Meer.
Etwas Gleißendes blendet meine Augen, wie wenn man mit einer Taschenlampe in die Iris
leuchten würde.
Dann wird es wieder angehm dunkel.
Die Sonne geht unter und taucht alles in rötliches Licht.
Ein einsames Schiff treibt in der Weite des flachen Ozeans. Wohin mag die Reise gehen? Ich glaube, ich kann den Jungen an der Pinne erkennen.
Ich weiß, dass ich plötzlich auf dem Schiff bin.
Der Junge an der Pinne lächelt mir zu.
Und endlich finde ich Ruhe und Glückseeligkeit.
Ich bin zufrieden und mit mir im Reinen.
Ich denke, ich habe einfach Glück gehabt.