Zügig nimmt das Taxi die leichte Steigung, bevor es exakt vor der gläsernen Eingangstür des Pflegeheimes hält.
Die Taxifahrerin steigt aus, öffnet die Beifahrertür und reicht ihrem älteren Fahrgast helfend den Arm.
Der alte Mann rückt sich die karierte Mütze in die Stirn, dann angelt er nach dem metallenen Gehstock, dessen brauner Plastikgriff vom Schweiß der sich stützenden Hand inzwischen gebleicht wurde.
„Also dann, in 2 Stunden. Heut ist es schön warm, vielleicht gehen Sie etwas an die frische Luft.“, empfiehlt sie ihm, um sich mit einem: „Ich werde pünktlich sein.“ zu verabschieden.
Sie lässt den Motor etwas zu laut aufheulen,
bevor das Fahrzeug ungewöhnlich eilig in die Hauptstraße einbiegt und dann den Blicken des alten Mannes entschwindet.
Der Mann betritt langsam durch die sich selbst öffnende Eingangstür das hohe Gebäude. Vorsichtig setzt er Schritt vor Schritt, eins, zwei, drei, vier, fünf, jeden Schritt mit dem Gehstock absichernd, dann bleibt er stehen, um Luft zu schöpfen. Weiter geht es, die nächsten fünf Schritte, und wieder die Pause zum Luft holen.
Er erreicht den Fahrstuhl, drückt den Knopf und erwartet das Öffnen der Tür. Mit einem leisen Rauschen gleitet der Fahrstuhl herab, zwei Pflegerinnen entsteigen ihm, jede mit einer Patientin im Rollstuhl.
Nun hat der alte Mann den Aufzug ganz für sich allein. Er genießt den kurzen Augenblick vor seinem nächsten schwierigen Laufweg.
Im obersten Stockwerk angekommen liegt ein endloser Gang vor ihm bis zu Zimmer 321, dem Zimmer ganz am Ende des Ganges.
Was wird ihn heute dort erwarten? Wird sie ihn erkennen? Oder ist sie wieder in ihrer eigenen Welt, zu der er keinen Zugang mehr findet? Wird sie wieder schreien, die immer gleichen Worte „Au, au, au, au“ und „Vati, Vati“. Inzwischen weiß er, sie hat keine Schmerzen und sie ruft auch nicht nach ihm. Es ist einfach da in ihrem Kopf, der einst so klug alle Reden für ihn formulierte, Referate mitstenografierte, ganze Telefonlisten behielt.
Und singen konnte sie, glockenhell. Sie war die Solostimme in ihrem Chor, er der Bewunderer in der hintersten Reihe. In diese Stimme, in ihre grün-grauen Augen und die pechschwarzen Haare hatte er sich verliebt, damals. Das war mehr als 60 Jahre her, und nächsten Monat würden sie ihren großen Tag begehen.
Der alte Mann reißt sich los aus seinen Gedanken und setzt wieder vorsichtig einen Fuß vor den anderen, immer fünf Schritte, dann die Pause.
Pfleger hasten an ihm vorbei, ständig in Eile, keine Zeit für ein Gespräch.
„Wie geht es meiner Frau?“, fragt er schließlich doch eine junge Pflegerin, die ihm sympathisch erscheint. „Es geht, nur das
Geschrei, wissen Sie, sie passt nicht richtig hier her.“ Dann ist die Junge verschwunden. Wohin passt ein alter Mensch mit solch einer Krankheit denn? Allein gelassen und ratlos bleibt der alte Mann zurück.
Vor Zimmer 321 verharrt er einen Moment. Es ist ruhig darin, vielleicht schläft sie?
Leise tritt er ein. „Mutti?“ Seit der Geburt der Kinder nennt er sie so.
Sie liegt auf ihrem Bett, die Hände angezogen wie ein kleines Baby und blickt zur Decke.
Er berührt sie sacht, streicht ihr über die rosige Wange, ergreift ihre Hand. „Komm, ich helfe dir, aufzustehen.“ Mühsam und steif richtet sie sich auf, er geleitet sie, an beiden
Händen gefasst, zu der kleinen Couch.
„Setz dich hier her zu mir.“ Willig lässt sie sich von ihm führen. Nur ganz kurz einmal setzt se an: „Vati, Vati!“
„Ich bin bei dir.“, beruhigt er sie und streichelt ihr wieder zärtlich die Wange. Wie weich und glatt sie ist!
Eine Schwester bringt ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee herein. „Sie kommen doch klar?“, fragt sie rasch und ist schon wieder verschwunden.
Der alte Mann nimmt den Löffel. schneidet ein kleines Kuchenstück ab und schiebt es ihr in den Mund. „Komm, das wird dir schmecken, ist mit Schokocreme.“ Vorsichtig füttert er
seine Frau. Früher, bei den Kindern, hat er das nie getan, das war immer ihre Stärke.
Er wischt ihr den Mund ab, als ein Stückchen wieder herauskrümelt. Dann gibt er ihr die Kaffeetasse in beide Hände und hält sie mit fest. „Probier mal, den liebst du doch so.“
Langsam trinkt die Frau die Tasse zur Hälfte leer und lässt sie dann los. Er hat aufgepasst, nur wenige Tropfen der braunen Flüssigkeit laufen als kleine Rinnsale an ihrem Kinn herab. Er wischt sie mit einem überdimensionierten Lätzchen ab.
„Ich habe dir ein Kleid besorgt für unseren großen Ehrentag, du weißt schon, du wirst eine Diamantbraut sein. Den Blumenstrauß werde ich auch bald bestellen, Rosen, wie zu
unserer Hochzeit damals.“ Versonnen schauen die beiden aus dem Fenster auf das zarte Grün des Ahornbaumes, der seine gewaltige Krone noch über dieses letzte Stockwerk reckt.
Gelbe Rosen wird er ihr bestellen, gelbe, so wie sie am Rosenbäumchen wuchsen, das er ihr zur Verlobung schenkte. Sie legte ihm dafür ein schwarzes Kätzchen in den Arm. Das Kätzchen bewachte den Schlaf ihres ersten Kindes und der Rosenbaum trug Jahr für Jahr leuchtend gelbe Teerosen. Er überstand Hitzesommer und eisigen Frost, und sein Stamm wurde hart und knorrig. Fast wie wir beide, denkt er und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. „Ich lass uns eine Torte backen mit einer 60. Das wird unser
Tag. Ich muss dir für so vieles danken, ich habe es nicht oft genug getan.“
Er nimmt ihren warmen Körper in seine Arme, sie sitzen stumm und doch innig verbunden.
Plötzlich richtet sie sich auf und schaut ihn an. Ihre grün-grauen Augen blicken ganz klar. Es scheint, als seien die Dämonen, die ihren Geist in eine andere Welt verbannen gewichen, für einen kurzen Augenblick nur. Sie drückt mit ihrer kraftlos gewordenen Hand die Hand ihres Mannes, dann sinkt ihr Kopf erneut an seine Schulter, sie kuschelt sich an ihn, während sein Arm sie umfängt und seine Wärme sie behütet.
So sitzen sie, bis die Taxifahrerin zur Abfahrt mahnt.
„Ich will nach Hause.“, sagt da die alte Frau
klar und deutlich zu ihrem Mann.
Was soll er ihr antworten? Seine eigene Hilflosigkeit zerreißt ihm in diesem Augenblick schier das Herz. Krampfhaft hält er die Tränen zurück. Die jüngste Tochter hat die Vollmacht, sie entscheidet über Mutters Schicksal, er ist nur ein alter Mann.
Als am nächsten Morgen in aller Frühe das Telefon schrillt, weiß er sofort, dass die Liebe seines Lebens in dieser Nacht von ihm ging.