Kurzgeschichte
Fast sechzig jahre - Beitrag zum Battle "Unendliche Liebe"

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"Fast sechzig jahre - Beitrag zum Battle "Unendliche Liebe""
Veröffentlicht am 22. Mai 2014, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Smileus - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse. Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie. Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.
Fast sechzig jahre - Beitrag zum Battle "Unendliche Liebe"

Fast sechzig jahre - Beitrag zum Battle "Unendliche Liebe"

Zügig nimmt das Taxi die leichte Steigung, bevor es exakt vor der gläsernen Eingangstür des Pflegeheimes hält.

Die Taxifahrerin steigt aus, öffnet die Beifahrertür und reicht ihrem älteren Fahrgast helfend den Arm.

Der alte Mann rückt sich die karierte Mütze in die Stirn, dann angelt er nach dem metallenen Gehstock, dessen brauner Plastikgriff vom Schweiß der sich stützenden Hand inzwischen gebleicht wurde.

„Also dann, in 2 Stunden. Heut ist es schön warm, vielleicht gehen Sie etwas an die frische Luft.“, empfiehlt sie ihm, um sich mit einem: „Ich werde pünktlich sein.“ zu verabschieden.

Sie lässt den Motor etwas zu laut aufheulen,

bevor das Fahrzeug ungewöhnlich eilig in die Hauptstraße einbiegt und dann den Blicken des alten Mannes entschwindet.

Der Mann betritt langsam durch die sich selbst öffnende Eingangstür das hohe Gebäude. Vorsichtig setzt er Schritt vor Schritt, eins, zwei, drei, vier, fünf, jeden Schritt mit dem Gehstock absichernd, dann bleibt er stehen, um Luft zu schöpfen. Weiter geht es, die nächsten fünf Schritte, und wieder die Pause zum Luft holen.

Er erreicht den Fahrstuhl, drückt den Knopf und erwartet das Öffnen der Tür. Mit einem leisen Rauschen gleitet der Fahrstuhl herab, zwei Pflegerinnen entsteigen ihm, jede mit einer Patientin im Rollstuhl.

Nun hat der alte Mann den Aufzug ganz für sich allein. Er genießt den kurzen Augenblick vor seinem nächsten schwierigen Laufweg.

Im obersten Stockwerk angekommen liegt ein endloser Gang vor ihm bis zu Zimmer 321, dem Zimmer ganz am Ende des Ganges.

Was wird ihn heute dort erwarten? Wird sie ihn erkennen? Oder ist sie wieder in ihrer eigenen Welt, zu der er keinen Zugang mehr findet? Wird sie wieder schreien, die immer gleichen Worte „Au, au, au, au“ und „Vati, Vati“. Inzwischen weiß er, sie hat keine Schmerzen und sie ruft auch nicht nach ihm. Es ist einfach da in ihrem Kopf, der einst so klug alle Reden für ihn formulierte, Referate mitstenografierte, ganze Telefonlisten behielt.

Und singen konnte sie, glockenhell. Sie war die Solostimme in ihrem Chor, er der Bewunderer in der hintersten Reihe. In diese Stimme, in ihre grün-grauen Augen und die pechschwarzen Haare hatte er sich verliebt, damals. Das war mehr als 60 Jahre her, und nächsten Monat würden sie ihren großen Tag begehen.

Der alte Mann reißt sich los aus seinen Gedanken und setzt wieder vorsichtig einen Fuß vor den anderen, immer fünf Schritte, dann die Pause.

Pfleger hasten an ihm vorbei, ständig in Eile, keine Zeit für ein Gespräch.

„Wie geht es meiner Frau?“, fragt er schließlich doch eine junge Pflegerin, die ihm sympathisch erscheint. „Es geht, nur das

Geschrei, wissen Sie, sie passt nicht richtig hier her.“ Dann ist die Junge verschwunden. Wohin passt ein alter Mensch mit solch einer Krankheit denn? Allein gelassen und ratlos bleibt der alte Mann zurück.

Vor Zimmer 321 verharrt er einen Moment. Es ist ruhig darin, vielleicht schläft sie?

Leise tritt er ein. „Mutti?“ Seit der Geburt der Kinder nennt er sie so.

Sie liegt auf ihrem Bett, die Hände angezogen wie ein kleines Baby und blickt zur Decke.

Er berührt sie sacht, streicht ihr über die rosige Wange, ergreift ihre Hand. „Komm, ich helfe dir, aufzustehen.“  Mühsam und steif richtet sie sich auf, er geleitet sie, an beiden

Händen gefasst, zu der kleinen Couch.

„Setz dich hier her zu mir.“ Willig lässt sie sich von ihm führen. Nur ganz kurz einmal setzt se an: „Vati, Vati!“  

„Ich bin bei dir.“, beruhigt er sie und streichelt ihr wieder zärtlich die Wange. Wie weich und glatt sie ist!

Eine Schwester bringt ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee herein. „Sie kommen doch klar?“, fragt sie rasch und ist schon wieder verschwunden.

Der alte Mann nimmt den Löffel. schneidet ein kleines Kuchenstück ab und schiebt es ihr in den Mund. „Komm, das wird dir schmecken, ist mit Schokocreme.“ Vorsichtig füttert er

seine Frau. Früher, bei den Kindern, hat er das nie getan, das war immer ihre Stärke.

Er wischt ihr den Mund ab, als ein Stückchen wieder herauskrümelt. Dann gibt er ihr die Kaffeetasse in beide Hände und hält sie mit fest. „Probier mal, den liebst du doch so.“

Langsam trinkt die Frau die Tasse zur Hälfte leer und lässt sie dann los. Er hat aufgepasst, nur wenige Tropfen der braunen Flüssigkeit laufen als kleine Rinnsale an ihrem Kinn herab. Er wischt sie mit einem überdimensionierten Lätzchen ab.

„Ich habe dir ein Kleid besorgt für unseren großen Ehrentag, du weißt schon, du wirst eine Diamantbraut sein. Den Blumenstrauß werde ich auch bald bestellen, Rosen, wie zu

unserer Hochzeit damals.“ Versonnen schauen die beiden aus dem Fenster auf das zarte Grün des Ahornbaumes, der seine gewaltige Krone noch über dieses letzte Stockwerk reckt.

Gelbe Rosen wird er ihr bestellen, gelbe, so wie sie am Rosenbäumchen wuchsen, das er ihr zur Verlobung schenkte. Sie legte ihm dafür ein schwarzes Kätzchen in den Arm. Das Kätzchen bewachte den Schlaf ihres ersten Kindes und der Rosenbaum trug Jahr für Jahr leuchtend gelbe Teerosen. Er überstand Hitzesommer und eisigen Frost, und sein Stamm wurde hart und knorrig. Fast wie wir beide, denkt er und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. „Ich lass uns eine Torte backen mit einer 60. Das wird unser

Tag. Ich muss dir für so vieles danken, ich habe es nicht oft genug getan.“

Er nimmt ihren warmen Körper in seine Arme, sie sitzen stumm und doch innig verbunden.

Plötzlich richtet sie sich auf und schaut ihn an. Ihre grün-grauen Augen blicken ganz klar. Es scheint, als seien die Dämonen, die ihren Geist in eine andere Welt verbannen gewichen, für einen kurzen Augenblick nur. Sie drückt mit ihrer kraftlos gewordenen Hand die Hand ihres Mannes, dann sinkt ihr Kopf  erneut an seine Schulter, sie kuschelt sich an ihn, während sein Arm sie umfängt und seine Wärme sie behütet.

So sitzen sie, bis die Taxifahrerin zur Abfahrt mahnt.

„Ich will nach Hause.“, sagt da die alte Frau

klar und deutlich zu ihrem Mann.

Was soll er ihr antworten? Seine eigene Hilflosigkeit zerreißt ihm in diesem Augenblick schier das Herz. Krampfhaft hält er die Tränen zurück. Die jüngste Tochter hat die Vollmacht, sie entscheidet über Mutters Schicksal, er ist nur ein alter Mann.

Als am nächsten Morgen in aller Frühe das Telefon schrillt, weiß er sofort, dass die Liebe seines Lebens in dieser Nacht von ihm ging.

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Hörbuch

Über den Autor

Albatros99
Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse.
Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie.
Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.

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KaraList Ich bin beeindruckt, liebe Christine ... eine Zeitstudie vom Feinsten ... einfühlsam die Verbundenheit zweier vom Alter und einer Krankheit gezeichneter Menschen beschrieben. Die gemeinsame Zeit des Leidens, jeder auf seine Weise, ist wohl die härteste, die eine Liebe am Ende eines Lebens ertragen muss. Falls ich es noch nicht erwähnt habe ... Dein Schreibstil ist hervorragend!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Ganz herzlichen Dank, für deine gefühlvollen Zeilen und dein Lob. Ja, da hab ich nun doch eine Kara (ist doch dein Name, oder?) gefunden, mit der ich mich auf einer Wellenlänge befinde. Wie ich mich darüber freue! Meine Enkeltochter heißt auch Kara, will aber von ihrer Oma, bedingt durch die Eltern, gar nichts wissen. Und die lassen leider nicht mit sich reden. Das macht mich traurig, muss ich aber akzeptieren.
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Das tut mir leid, liebe Christine, dass der Kontakt zu Deiner Enkeltochter nicht so, wie von Dir gewünscht, ist. Aber weißt Du, nichts hat so viel Bestand wie Veränderungen ... und auch ein Enkelkind verändert sich.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
DoktorSeltsam Meine Fresse (Entschuldigung!), ich bin ja weiß Gott nicht der Typ, der zu ausgeprägter Sentimentalität neigt, aber diese Geschichte hat mich doch schwer beeindruckt, muss ich schon sagen. Im Übrigen kannst du wirklich sehr gut schreiben - aber da erzähle ich dir vermutlich nichts Neues.

Liebe Grüße
Dok
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Danke Dok, freue mich sehr über deine Anerkennung. Mit der Geschichte hatte ich damals den 3. Platz bei Lucas seinem Wettbewerb.
Es ist aber die Geschichte meiner Eltern. Ich habe die beiden beobachtet, wenn ich Vater zu Mutter in dieses schreckliche Pflegeheim gebracht habe, habe nur wenig angepasst. Vater hat entsetzlich unter ihrem Tod gelitten, erst voriges Jahr, als der Frühling kam, fasste er wieder neuen Lebensmut und war glücklich, mit mir und meinem Mann zusammen zu sein. Und da fällt er Ende Juni plötzlich um, einfach so. Manchmal fällt es mir immer noch schwer, das zu schwer, das zu begreifen.
Vor langer Zeit - Antworten
DoktorSeltsam Ich kann dich sehr gut verstehen. Meine Eltern leben noch, sie sind seit 68 (!) Jahren miteinander verheiratet. Niemand spricht das aus, aber natürlich wird derjenige von ihnen, der zurückbleibt, nicht lange allein bleiben. Nach so vielen Jahren wäre das völlig unvorstellbar. Da kann man nicht mehr voneinander getrennt sein.

Dok
Vor langer Zeit - Antworten
rarietaet Danke für diese zu Herzen gehende Geschichte, Mit Trä
nen in den Augen hab ich das Ende gelesen. Schön, eine so innige Verbindung erlebt zu haben.
Liebe Grüße
Traudel
Vor langer Zeit - Antworten
Feedre unglaublich berührend...seufz...
LgF
Vor langer Zeit - Antworten
Scheherazade Ich gratuliere dir ganz herzlich!

Liebe Grüße
Schehera
Vor langer Zeit - Antworten
Caliope Herzlichen Glückwunsch zum dritten Platz!
LG
Caliope
Vor langer Zeit - Antworten
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