Erhebe Dich
Eine einsame Schneeflocke fällt aus dem wolkenbehangenen Himmel. Sie tanzt leise im Wind und nähert sich langsam dem Boden. Kurzzeitig werden einige kleine Blätter zu ihrer Begleitung. Zwischen zahlreichen schwarzen Gestallten hindurch in ein dunkles Loch im Boden. Der warme Atem der Menschen, bildet kleine Rauchwolken, ehe er sich in der kalten Luft verliert. Alle stehen rings um das Loch, doch keiner wagt zu sprechen. Über dem ganzen Gelände liegt ein Schleier aus schweigen. An der Schneeflocke fliegen einige Erdklumpen vorbei und fallen mit einem dumpfen Knall auf das Holz. Das
glatte Fichtenholz wird nach und nach mit Erde bedeckt und sein heller Glanz verliert sich bald in dem Braun der Erde, die ihn umgibt und nun auch bedeckt. Die Gestallten werfen nun noch ein paar Rosen hinterher. Zahlreiche Tränen bedecken den Boden. Der Strom lässt etwas nach und die Menschen drehen sich sich um. Der Chor beginnt mit einem bedrückendem Lied, das nun passender den je scheint. Angeführt von einem Mann in weiß, bewegen sich die Anwesenden zurück in Richtung Kirche. Der letzte verlässt das Grab und die Schneeflocke bleibt alleine beim Sarg zurück. Langsam kehrt wieder die Totenstille auf dem Friedhof ein, die kurzzeitig vertrieben worden war. Ein
leiser Pfiff durchbricht dich Stille. Die Hintersten im Tross drehen sich um. Ein etwas lauterer Pfiff schneidet durch die Stille. Immer mehr Menschen bleiben stehen und sehen zurück zum Grab. Selbst dem letzten steigen die Tränen in die Augen, in der Erinnerung, an die Pfiffe, die der einst so geliebte Mensch stets von sich gab. Die meisten dachten an eine zurückkehrende Erinnerung und setzten sich wieder in Bewegung. „Oh, Engel, stehest du in Gottes Gnaden, komm zu uns die nicht haben. Wir wollen dich nur bitten, dass die Seele retten mö-ö-ögest ...“, tönte es plötzlich aus dem Grab. In den Köpfen aller spiegelte sich das Lied wieder, dass am Tag nach einem Begräbnis
immer gesungen wurde. Sie alle kannten es, doch nur eine einzige Person hatte das Lied jemals mit einer derartigen Betonung gesungen hatte. Doch diese Person konnte es nicht singen, sie lag in dem Grab. Alle blieben wie angewurzelt stehen, nur die kleinste, die Nichte des Verstorbenen ging zurück zum Grab. Mit ihren drei Jahren war sie die jüngste bei der Trauerfeier. Sie begann zu laufen und schrie: „Tonkel, wo bist du?“ Tonkel, so nannte sie ihren Onkel immer, da sie Tim nicht mochte. Ihre Mutter hetzte ihr hinterher, doch die kleine erreichte vor ihr das Grab. Sie ging zur Erdkante. Plötzlich gab diese nach und sie brach ein. Sie stieß einen hellen Schrei aus und fiel in die Tiefe. Alle rannten los, um
nicht noch jemanden begraben zu müssen. Von den Jugendlich, bis hin zur Urgroßmutter in ihrem Rollstuhl, beeilte sich jeder. Mit einem Schlag wich ihre Trauer, der Angst. Plötzlich sah das Gesicht des Kindes aus dem Grab. Das Mädchen kletterte aus dem Erdloch und alle sahen eine Hand, die sie behutsam von unten her schob. Die Mutter erreicht ihr Tochter und schloss sie die Arme, dann sah sie ins Grab hinab. Ehe sie etwas sagen konnte, schlossen die Anderen zu ihr auf und alle bemühten sich, einen Blick ins Grab zu erhaschen. Dort war er. Tim, der vor kurzem erst gestorben war. Doch quicklebendig stützte er seine Arme und Beine gegen die Erdwand und versucht aus
seinem ewigen Schlafplatz zu kommen. Der Großvater reichte ihm die Hand und zog ihn heraus.