Der letzte Flug
1.
„Meine Herren, ich danke Ihnen, dass sie es ermöglichen konnten, so kurzfristig an dieser außerordentlichen Vorstandssitzung teilzunehmen!
Darüber hinaus habe ich die Herren Smith und Dr. Jones vom Aufsichtsrat hinzu gebeten.“
18 erwartungsvolle Augenpaare haben sich an Leos Mund geheftet.
Vor vier Stunden hatte er alle gebeten, nein, er hat allen befohlen, jetzt, an diesem Sonntagvormittag, hier zu erscheinen.
Das sollte ein Ereignis werden, ein Feuerwerk, einer unbeschreiblichen Naturkatastrophe gleich… Jedes Wort, das er sagen wollte, jede Geste, hatte Leo bis gestern noch intensiv geprobt.
Achtzehn, zum Teil noch verkaterte Gesichter sollten gleich all ihre Züge verlieren…
„Ich gebe ab sofort den Vorsitz von McAllister-Enterprises und damit auch alle Verpflichtungen und Privilegien auf!
Bis auf weiteres werden Miss Conners und, als ihre Vertretung der gute John Fitzpatrick den Vorstand übernehmen.“
Der Anblick der Gesichter, der sich ihm jetzt bietet, übertrifft all seine Erwartungen bei weitem!
Jeder Ausdruck ausgespült, wie ein Küstendorf nach einem Tsunami…
Ein breites Grinsen macht sich in seinem Inneren breit. Er hatte niemandem etwas davon gesagt, nicht mal angedeutet.
Und Conners und Fitzpatrick schienen gerade schon prophylaktisch überfordert.
Leonardo hatte McAllister-Enterprises vor 10 Jahren gegründet, es innerhalb eines halben Jahres in die Millionen-Gewinnzone und eines weiteren halben an die Börse gebracht.
Leo hat alle Entscheidungen ganz allein getroffen. Vorstand und Aufsichtsrat waren nur pro forma existent, nur da, um abzunicken.
Linda Conners und John Fitzpatrick hatte er vor zwei Jahren als Praktikanten ins Unternehmen geholt.
Sie hatten zweifellos Potential und außergewöhnliches Talent, doch beruhte seine Entscheidung, sie die Firma führen zu lassen, eher auf Rache und Genugtuung.
Fitzpatrick, weil er ihm vor 1 ½ Jahren Betty ausgespannt und Linda, weil sie ihn nicht ran gelassen hat.
2.
Leonardo McAllister ist 41 Jahre jung, geboren in Ramstein, als Sohn eines
Air-Force-Piloten und einer Schwedin.
Er hatte eine recht beschauliche Kindheit, bis seine Eltern am 28. August 1988 nicht mehr nach Hause gekommen sind…
Leo war gerade auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen, um sich das Ticket in die Staaten zu holen. Seine Bewerbung zur Air-Force war gerade angenommen worden und er sollte schnellstmöglich nach Seattle, um sich persönlich vorzustellen.
Im Radio kam dann diese Meldung von dem schrecklichen Unfall. Er war entsetzt, doch kam er im Traum nicht auf die Idee, dass seine Eltern unter den 70 toten sein könnten.
Er strich die Armee, schrieb sich am MIT in Boston ein, beendete sechs Jahre später mit summa cum laude und tingelte eine Zeit lang als Top-Joker von einer namhaften Firma zur nächsten, erst in den Staaten und bald schon weltweit.
Es dauerte nicht lange und in der High-Technologie-Branche kam keiner mehr an McAllister vorbei. Also Zeit, den Markt mit der eigenen Firma anzuführen…
In diesen 17 Jahren hatte er so intensiv und unter Hochdruck gelebt, dass er das Gefühl hatte, auszubrennen.
So viele Termine, so viele Menschen um ihn herum, soviel Trubel… Leo sehnt
sich nach Ruhe!
Und die glaubt er, in der Weite und Einsamkeit Alaskas zu finden.
Vor einigen Jahren, nach seinem mittelschweren Burnout, hatte er in diesem Sanatorium Discovery-Chanel gesehen und diesen Bericht über Alaska. In ihm machte sich eine Sehnsucht breit, die ihn nicht mehr los ließ.
Letztes Jahr dann hatte er zugeschlagen! Er hat die Hütte, 800 Meilen nördlich von Fairbanks, einfach gekauft, ohne jemals dort gewesen zu sein.
3.
Während Leo so an diese letzte
Vorstandssitzung denkt, an die Jahre, die ihn prägten und die Zeit der Ruhe, die ihm bevorstehen würde, überfliegt er in seiner zweimotorigen „Beechcraft“ gerade die kanadische Grenze Richtung Vancouver.
Da will er noch mal nachtanken, um wenigstens bis Fairbanks zu kommen und dort die ersten Atemzüge seiner neuen Zukunft holen.
Ihm kommen gerade wieder die Erinnerungen an die Verkaufsverhandlungen in den Sinn.
Zum Schluss hatte Leo an die Franzosen verkauft, obwohl die 25% unter seiner Forderung blieben.
Ihm waren diese saudischen Hackfressen
in ihrer maßlosen Arroganz und Selbstherrlichkeit zu wider. Die Kameltreiber waren sich mit ihrem Angebot so sicher, dass sie glaubten, die Sessel, die sie schon seit Stunden voll furzten, gehörten längst ihnen!
Außerdem gefiel sich Leo in der Rolle des Entwicklungshelfers, Gutes zu tun.
Leo hebt den Kopf. Vor ihm eröffnet sich Vancouver mit seinem Lichtermeer.
Der Lotse gibt die Anflugkoordinaten durch. Zeit, wieder selbst Hand anzulegen.
Leo hat Zeit, langsam in den Sinkflug zu gehen. Der Luftraum über der Stadt ist an diesem Dienstagmorgen relativ frei.
Leonardo fliegt schon, seit er 14 ist. Aber er bemüht sich immer wieder, nichts zur Routine werden zu lassen.
Er geht von A-Z die Checkliste durch und geht mit höchster Konzentration in den Landeanflug.
Ein kleines Flugfeld am Rande der Stadt.
Das reicht ihm auch, für das, was er vorhat.
4.
Nachdem Leo ausgestiegen ist, reckt und streckt er sich erst mal. Doch etwas anstrengend, so lange still zu sitzen.
Er mag sich nicht vorstellen, wie es Charles Lindbergh in seiner engen Flugkiste so lange aushalten konnte…
Bei dem Gedanken schaudert ihm, hat er doch auch erst gerade einen Bruchteil seiner Strecke geschafft.
Na, ja. Waren doch andere Kerle, seiner Zeit.
Leonardo überwacht die Montage der Zusatztanks und die Betankung selbst, geht langsam und mit wachem Blick um die Maschine und öffnet die Verkleidungen der Motoren, um sich auch derer Wohlbefinden zu vergewissern.
Im Shop holt er sich noch einige
Sandwiches, frischen Kaffee und ausreichend Wasser.
Nachdem er alles verstaut hat, freut er sich auf das letzte Frühstück auf dem amerikanischen „Festland“.
Über seinen Kaffeebecher gebeugt, denkt er mit ein wenig Wehmut an seine Zeit in Deutschland zurück, wo der Kaffee noch seinen Namen verdiente… Lange her, aber die festen Bestandteile dieser Mahlzeit entschädigen für alles. Rühreier, Speck, French Toast und Pancakes… Alles, was das Männerherz begehrt!
Hoffentlich passt er jetzt noch in die Maschine. Und wenn ja, hoffentlich kann er abheben…
Gutgelaunt und ausgeruht, wie nach einem langen Schlaf, erledigt er den letzten Schreibkram mit den Grenz- und Zollbehörden und macht sich auf den weiteren Weg in sein Abenteuer.
Ja, er passt rein und ja, er hebt ab.
Schnell ist er wieder auf Kurs und auf seiner Flughöhe von 8.000 Fuß, bei einer Geschwindigkeit von 300 Meilen pro Stunde.
Jetzt wirds lang, denkt er, lässt den Autopiloten übernehmen und geht in den Passagierraum.
Diese 17 leeren Sitze wirken irgendwie unwirklich und gespenstisch. Hatte er doch sonst immer den kompletten
Vorstand eingeladen.
Er überlegt, ob er vielleicht doch die „Hawker 400“ hätte kaufen sollen, auch von „Beechcraft“. Zwar kleiner, die Herren vom Vorstand sind eh schon verwöhnt genug, dafür aber schneller, mit ihren Strahltriebwerken. Aber „wäre“, „wenn“ und „hätte“ sind nicht unbedingt seine Worte, außerdem fehlt ihm wohl das passende Flugfeld vor seiner Hütte in Alaska. Gras und kurz, das muss genügen!
Er beschließt, etwas zu dösen. Zwar hat er beim lesen des Wetterberichtes in Vancouver etwas die Stirn gerunzelt, aber der Autopilot wird mit den
vereinzelten Windböen schon fertig. Schließlich hat seine Firma die Dinger erheblich verbessert, denkt er grinsend.
Leo setzt sich in eine der Stuhlreihen. Ein, zwei Stunden sollten genügen und programmiert die Weckzeit entsprechend in sein Blackberry.
Er merkt nicht, dass die Windböen doch etwas stärker sind. Im leeren Cockpit zeigt der Magnetkompass bereits eine Kursabweichung von 5 Grad.
Leo fällt in einen leichten, unruhigen Schlaf.
Im Büro der Flugüberwachung in Vancouver geht ein Lotse an der Wetterstation vorbei. Verwundert bleibt
er am Drucker stehen. Zwei Seiten liegen im Ausgabeschacht.
Er erkennt die Seiten. Das war Thema bei der Einweisung der Tagschicht… Das Unwetter, das sich am Mount McKinley zusammenbraut…
Wer soll die Seiten vergessen haben? Er wirft sie schulterzuckend in den Papiereimer und geht weiter zu seiner Station.
5.
Das Flugzeug wird immer unruhiger, vereinzelte „Luftlöcher“ immer tiefer und länger. Leo wird aus dem Schlaf gerissen.
Wie weit und wo bin ich jetzt? Er ist schlagartig hell wach. Der Weg zum Cockpit ist nicht einfach. Immer wieder wird er in die Sitzreihen geworfen. Scheint wohl doch schlimmer zu sein, als er dachte…
Vorn angekommen erfasst er alle Instrumente gleichzeitig mit einem Blick.
Das kann doch nicht wahr sein!
Entsetzt sieht er den Kompass und den Kurs. Über hundert Meilen daneben! Das ist ihm ja noch nie passiert!
Was sind das denn für Schlampen, die Kanadier. Haben die ihre Wetterstation bei „Woolworth“ im Sonderangebot erstanden?
Wütend setzt er sich ans Ruder.
„Hier MA-726, rufe Fairbanks Luftüberwachung! Kommen!“
Langsam wird ihm auch gewahr, was draußen vor sich geht. Blitze und Regen, wie aus Kübeln.
„MA-726 ruft Fairbanks Luftüberwachung, bitte kommen!“
In dem lauten Rauschen glaubt Leo eine Stimme zu erkennen, doch kein Wort zu verstehen. Er versucht sacht den Frequenzregler zu korrigieren, doch erfolglos. Er kann`s einfach nur immer wieder versuchen.
„MA-726! Fairbanks Luftüberwachung, hören sie mich?“
Nichts!
Ok, denkt Leo, dann versuchen wir`s auf die altmodische Art!
Er kramt alle Unterlagen und Karten hervor, vergleicht noch einmal die Instrumente und liest den Wetterbericht für diese Gegend.
Seite 1 von 6? Und warum nur vier?
Ihm wird übel! Wenn er das versaut hat, dann Gnade ihm Gott, gerade in dieser Gegend, in der mit den Wetterkapriolen alles andere als zu spaßen ist!
Wenn Leo wenigstens einen Stern sehen könnte.
Er kommt sich vor, als würde er mit dem Auto durch die Waschanlage fahren…
Er wollte den McKinley eigentlich links liegen lassen, höchstens von weitem
sehen. Es reicht doch, wenn Berge einfach nur da sind! Warum die Menschen immer noch da rauf kraxeln müssen, wird er nie verstehen!
Leo checkt den Höhenmesser. Verdammt! 6.540… Hat ihn ziemlich weit runtergedrückt…
Wenn er sich nicht allzu sehr verrechnet hat, sollte die Alaskakette noch ein ganzes Stück weg sein. Bei seiner Höhe könnte es sonst eng werden…
Hastig überfliegt er wieder die Instrumente. Fuck! Warum immer alles auf einmal! Das GPS ist auch tot! Jetzt kann er seine Position nicht mal mehr schätzen!
Irgendwie aus diesem scheiß Unwetter
raus, schießt es ihm durch den Kopf!
Leo reißt das Steuer zu sich heran und gibt Vollgas.
Plötzlich ein Blitz vor seinen Augen…. Ein endlos weißes Licht bemächtigt sich seiner vollends…
New York Times, 27. August 2010
“Juneau, Alaska
Der Multimilliardär und ehemalige Vorstandsvorsitzende der McAllister-Enterprises, Leonardo McAllister, kam gestern mit seinem Flugzeug bei einem Zusammenprall mit einem Berg ums Leben.
Das Unglück ereignete sich in der Alaska Range, zwischen Glenallen und Fairbanks.
Die Ursache ist vermutlich das schwere Unwetter, das sich zu dieser Zeit in diesem Gebiet ereignete.
Die Behörden gehen davon aus, dass sich die Bergung der Trümmer und der sterblichen Überreste McAllisters als schwierig erweisen könnte, da sich die Absturzstelle auf mehrere Quadratmeilen erstreckt.
Mit Leonardo McAllister ging einer der innovativsten und kreativsten Köpfe der amerikanischen Industrie und, vor allem, Hochtechnologie, von uns.
In unserer nächsten Ausgabe widmen wir
diesem außergewöhnlichen Amerikaner einen ausführlichen Nachruf.“