Beitrag zum Forumbattle 32 - Die LÜGE
vorgegebene Worte
SCHEIN
KERZENWACHS
HAHN
FLÜGEL
FEDER
SEPIA
ZWEIDEUTIG
WIRTSCHAFT
ÜBERDRUCK
LINSE
FALLSCHIRMSEIDE
Fußball unterm Zuckerhut
Samtige Nacht liegt über Rio de Janeiro, feucht-heiße 33 Grad lassen den Mond schwimmen.
Zusammengekauert, die Knie an den schmächtigen Körper gezogen, hockt Antonio in einer Ecke der kleinen Hütte. Der Schein der Kerze reicht kaum, um den winzigen Raum zu erhellen. Traurig blicken seine dunklen Augen auf die zuckende Flamme und verfolgen die kleinen Kerzenwachsrinnsale, die am Schaft herab laufen, sich über den Rand des winzigen Kistentischchens schlängeln, um dann gleichmäßig auf den
kühlen Lehmfußboden zu tropfen, tropf - tropf - tropf. Verstohlen wischt Antonio eine verräterische Träne weg. Nein, nur nicht weinen, echte Männer weinen nicht. Auch nicht, wenn große Träume, bunt und schillernd, am Ende wie Seifenblasen platzen.
Dabei hatte alles so schön angefangen.
„Antonio“, hatte die Mutter gerufen, „ geh` bitte zu Jose hinunter und hole den Hahn, den mit der rotbraunen Feder am Kopf. Er weiß Bescheid.“
Einen Hahn? Was wollte denn die Mutter mit diesem Federvieh? Antonio verstand seine Mutter nicht. Wehmütig gedachte er der kleinen Blaustirnamazone mit dem gebrochenen Flügel. Der zeternden Mutter
zum Trotz hatte er das Tierchen liebevoll gesund gepflegt. Der Papagei wurde sein bester Freund, doch Mama hatte ihn vertrieben, Federnallergie, wie sie behauptete. Gibt es denn so etwas überhaupt?
Der Elfjährige trabte leichtfüßig die Hänge des Corcovado hinab, der kaum etwas von seiner Schönheit eingebüßt hatte trotz des Geschwürs beständig wachsender Favelas, die sich gleich den Tentakeln einer Sepia zu seinem Gipfel empor rankten, den Segen Christus erheischend, der als Heilsbringer über ihnen allen auf der Kuppe des Berges prankte.
In Joses Laden herrschte um diese Mittagszeit kaum Andrang.
Ein Mann am Tresen musterte Antonio. Der Fremde trug, trotz der Hitze, einen hellen Anzug.
Selbst die Krawatte in den Nationalfarben grün, gelb und blau hatte er nicht abgelegt. Lediglich der helle Leinenhut lag achtlos neben ihm auf dem mit Krümel übersäten Tisch.
„He, du“, rief er den Jungen zu sich. „Du siehst kräftig und sportlich aus. Möchtest du Fußballspieler werden, ach was, Fußballstar, dein Land bei der Weltmeisterschaft vertreten?“
Antonio blickte argwöhnisch auf den Fremden. „Ich? Das kann ich doch gar nicht.“
„Alle Jungs können Fußballspielen, und was noch dazu gehört …, dabei werde ich dir helfen.“
Und er erzählte Antonio vom Training bei einem begnadeten Trainer, von Mannschaften mit großen Namen, von all den Stars, dessen Namen der brasilianische Junge selbstverständlich kannte und vom Geld, vom vielen, vielen Geld. Antonio bekam vor Aufregung ganz rote Wangen, seine Augen leuchteten. Dann muss Mama nicht mehr Tag für Tag mit den schweren Kaffeekannen losrennen und fragen, wer ihren guten Kaffee trinken möchte. Vorbei die Bettelei, immer reichlich Reals, die auch für ein gutes Stück Fleisch reichen.
Antonio war begeistert, sein kleines Herz
begann vor Erregung wild zu klopfen. Endlich reich sein, endlich weg vom Berg, endlich ein neues Leben weitab der Favelas. Und er, Antonio, würde es schaffen, für Mama und für Brasilien.
Wenig später brachte der Fremde Antonio zu einem Mann namens Franco. Franco war der Boss über die Fußballjungen, ihm gehörte ein kleines Stadion und die Kneipe an der Ecke. Hier trafen sich allerlei zwielichtige Gestalten, Antonio betrachtete verunsichert Francos „Freunde“. Doch Franco war der Mann, der den Jungen das richtige Fußballspielen beibringen würde, also kam Antonio Tag für Tag ins Stadion.
Ein größerer Junge leitete ihre
Übungsstunden. Von früh bis spät abends hieß es ab sofort trainieren, trainieren, trainieren. Die Schule war für Antonio und die anderen Jungs unwichtig geworden. Ausgelaugt, die Beine wie Watte, schleppte sich der Junge spät am Abend zurück in seine Hütte. „Mama, bald wird es uns besser gehen.“, murmelte er, schon fast im Einschlafen. „Ach, Antonio! Du solltest besser zur Schule gehen. Nur mehr Wissen wird dir helfen.“
Die Mutter stellte die leeren Kaffeekannen zur Seite. Vom Wirtschaftsboom war hier nichts angekommen, sie würde auch morgen wieder mit den vollen Kannen durch die Straßen von Rio laufen.
Antonio setzte sich ruckartig im Bett auf.
„Mama, ich werde Fußballstar!“ rief er laut und empört. Es schien, als öffne sich ein Überdruckventil in ihm, so aufbrausend stieß er den Satz hervor. Die Mutter strich ihrem Sohn liebevoll über den strubbeligen Haarschopf.
„Natürlich glaub ich an dich, schlaf jetzt schön.“ Ihre letzten Worte mischten sich schon mit den ruhigen Atemzügen des Kindes.
Antonio trainierte eisern, mit zusammengebissenen Zähnen holte er das Letzte aus seinem Körper heraus, denn Franco mochte keine Weicheier. Die bekamen schon mal seine starke Rechte zu spüren oder er schickte sie gleich nach
Hause. Klar Profifußball ist ein hartes Brot, erklärte er ihnen immer, der duldet keine Pfeifen. Antonio aber gehörte zu den Siegern. Er war der beste Stürmer seiner Übungsgruppe.
„Wann werden wir in richtige Mannschaften aufgenommen?“ fragte Antonio Franco eines Tages schüchtern. „ Bald, wenn ich es für richtig empfinde.“ Und dann erzählte er wieder von seinen Erlebnissen mit den Fußballstars. Berauscht hörte der Junge ihm zu, nur hin und wieder den Qualm der dicken Zigarre mit der Hand wegwedelnd. Wer wie Franco Fußballstars in so großer Anzahl förderte, der durfte auch die besten Zigarren rauchen!
Kurz vor Neujahr tauchte erneut der Fremde
in Francos Kneipe auf. „Nanu, bist ja immer noch hier mit diesen kleinen Ganoven? Hast wohl noch nicht genug bekommen?", fragte er Franco und machte eine zweideutige Handbewegung.
Antonio, der im Nebenraum gerade im Begriff war, seinen Rucksack zu packen, um nach Hause zu gehen und mit Mama das neue Jahr zu feiern, drückte sich hinter den Vorhang aus blauer Fallschirmseide und lauschte der Unterhaltung. Kaum wagte er zu atmen.
„Im Januar überweisen sie erst die letzte Rate für dieses Rumspielen hier. Ach, ich bin eben sooo wohltätig! Aber dann setz ich mich ab, meine Yacht auf Barbados wartet schon. Rio
ist zwar ganz schön, aber so korrupt, du verstehst …..“ Er lachte dröhnend und der Fremde stimmte mit ein, wobei er sich kräftig auf die Schenkel klopfte.
Antonio stand wie versteinert in seinem Versteck. Schlagartig wurde es ihm bewusst. Lüge, es war alles nur eine Lüge, von Anfang an ging es dem Stadionbesitzer nur ums Geld.
Der Junge hielt sich die Ohren zu. Er wollte das Lachen nicht mehr hören, dieses Lachen, das ihm soeben seinen Lebenstraum zerstörte, das ihn wieder zurück schleuderte in die Favela, in die ärmliche Hütte, die sein zu Hause war, zu Jugendgangs und Drogen. Das Leuchten am Himmel, es hatte für ihn nur
einen Augenblick gewährt.
Minutenlang stand er regungslos da, dann griff er nach dem Rucksack. Er ging ohne Abschied und ohne einen Blick auf seine traumhaft schöne Stadt mit Zuckerhut und Corcovado, die Jahr für Jahr Motive für die Linse von Millionen Touristen sind.