I
Muriel ist nicht etwa ein süsses, kleines Mädchen mit blonden Locken; nein, Muriel ist eine gestandene, bereits etwas in die Jahre gekommene Dalmatinerhündin.
Die schwarzen Punkte auf dem weissen Fell sehen lustig aus, erinnern irgendwie an einen Marienkäfer in falscher Farbe. Muriels Fell ist zwar nicht mehr glänzend und prächtig wie es einmal war, es sieht mittlerweile etwas matt und abgestumpft aus. Die blühenden Jahre sind vorbei, passé. Eigentlich traurig.
Im Park draussen fühlt sich Muriel trotzdem noch wunderbar, vor allem liebt
sie die gemütlichen Spaziergänge mit Frauchen. Sie gehen ein paar Meter, um bald wieder Halt zu machen und sich auf einer Parkbank auszuruhen. Gemütlichkeit macht ihren Alltag aus, Hektik kennen die Beiden kaum.
Wie gerne sie die stolzen Mütter mit ihren Sprösslingen beobachten oder einfach mal einen kurzen Schwatz mit Bekannten halten, das gibt dem Leben die gewisse Würze! Was für eine Freude, wenn sie zusammen den Kindern auf der Wiese zusehen, wie sie rennen und sich balgen, das erinnert Muriel an ihre Welpenzeit.
Was hat das Spass gemacht, die kleinen Racker in die Ohren zu kneifen und Verfolgungsjagd aufzunehmen, um
schliesslich im warmen, heimeligen Nest einzuschlafen. Eine Zeit voller Unbekümmertheit.
II
Der Frühling ist im Anmarsch. Die Temperaturen werden wieder angenehmer, Muriel ist gottenfroh. Ihr steifer Gang wird in der Sonne viel eleganter und es macht ihr weniger Mühe, am Morgen aus ihrem behaglichen, kuscheligen Korb zu kriechen. Ein schönes Gefühl!
Frau Rieder geht es nicht viel anders, die Sonnenstrahlen tun ihr gut. Sie leidet zwar seit einiger Zeit an Gelenkschmerzen und die Ärzte haben bei ihr vor fünf Jahren
Alzheimer diagnostiziert, trotzdem ist das Leben noch sehr lebenswert, ein grosses Geschenk, zusammen zu altern und den Tag zu zweit zu verbringen. Keine grossen Taten, einfach nur da sein und wissen, dass da noch ein Anderer ist, der gebraucht wird.
Leider hat sich der Gesundheitszustand von Frau Rieder drastisch verändert. Am Anfang waren es nur kleine Dinge, die Frau Rieder vergessen hat, aber mittlerweile muss sie täglich betreut werden.
Muriel wird von einer Hundesitterin ausgeführt, sagen doch die Ärzte, dass es falsch wäre, Frau Rieder jetzt den Hund
wegzunehmen.
Die Zeit ist jedoch von kurzer Dauer. Die Bekannten und Verwandten sehen den Hund als eine zusätzliche Belastung im Haushalt und ein Mitgrund, des Geldes wegen die Hundesitterin einzustellen.
III
Muriel wird deshalb zu Frau Rieders Nichte Sofie gebracht, sie ist unkompliziert und tierlieb, ein kleiner Goldschatz, die sich liebevoll um Omas alte Hündin kümmert.
Trotzdem ist Muriel schlapper den je und die täglichen Ausflüge ins Grüne bereiten ihr viel Mühe. Alles geht ihr zu schnell, alles ist ihr zu laut. Alles ist anders
geworden.
Frau Rieder ist mittlerweile ins Altersheim gezogen, sie sitzt den lieben langen Tag auf dem kleinen, dunkelgrünen Sofa und späht zum Fenster hinaus. Sie spricht nicht mehr und wenn ihr eigener Sohn sie besucht, kennt sie ihn nicht mehr, traurig aber wahr.
Es sieht so aus, als würde sie warten, warten bis das Leben sich dem Ende neigt. Niemand weiss, was sie denkt, was sie fühlt.
Die Zeit vergeht, das Leben geht weiter.
Muriel wirkt dünn, es geht ihr nicht gut. Der Tierarzt meint, dass die Futterverweigerung nur eine Trotzphase ist
und der Hund sich bald an die neue Umgebung gewöhnen wird. Fehlalarm! Muriel verweigert weiterhin das Essen und verliert täglich an Gewicht. Muriels Augen waren einst so keck und trotz des Alters konnte man hin und wieder einen kleinen Schalk darin erkennen, etwa dann, wenn Muriel an einem Baum den interessanten Duft eines jungen Rüden erschnüffelte oder wenn die gefrässige Dame unter einer Parkbank die Resten eines Butterbrotes verschlang. Jetzt sind ihre Augen mit einem Schleier überzogen und es bereitet Sofie Mühe, Muriel aus dem Haus zu bringen, um Gassi zu gehen. Sofie macht sich Sorgen.
IV
Heute entscheidet sich Sofie spontan, Oma zu besuchen. Sie hievt das armselige Tier in ihr Auto und fährt los. Nach einer halben Stunde Autofahrt ist sie da. Muriel liegt immer noch unverändert im Kofferraum.
Sofie hebt Muriel aus dem Auto und leint sie an. So trotten sie gemeinsam dem weissen Gebäude zu.
Da sitzt sie, die alte, gebrechliche Frau auf dem Sofa. Frau Rieder schaut kurz auf, um daraufhin wieder in ihre Welt zu tauchen.
Muriels Nase reckt und streckt sich und dann; wie ein Pfeil rennt sie los. Sofie
lässt vor Schreck die Leine fallen.
Frau Rieder sieht das bunte Tier und ein Lächeln macht sich auf ihren Lippen breit. Eine Träne folgt der anderen. Wie ein glückbringender Marienkäfer ist Muriel gelandet, sanft und leise.
Muriels Kopf liegt in Frauchens Schoss und wird von einer blassen Hand gestreichelt, immer und immer wieder. Dann, nach langen Minuten macht sich eine leise, zittrige Stimme bemerkbar.
"DANKE, dass du da bist! Jetzt kann ich gehen."