Mein Schädel brummte, als hätte ihn jemand mit einem Vorschlaghammer bearbeitet, bis nicht als Mus übrig war. Ich war kaum richtig wach, als ich schon das tote, vom Exzess des Vorabends überfahrene Tier auf meiner Zunge, das dort gerade verwesen musste, schmeckte und roch. Draußen schien die Sonne. Ihre Strahlen rotzen mir ihr zynisches »Guten Morgen!« direkt ins Gesicht. Nach blauen Abenden erwartete man irgendwie einen grauen, verregneten Morgen, der zu nichts anderem einlud, als mit einer Tasse dampfenden Kaffees am Fenster zu stehen und dem Regen dabei zuzuschauen, wie er vom Himmel fiel,
während man selbst über die eigene Blödheit nachdachte. Bekam man stattdessen zum ohnehin noch zu genüge blauen Morgen einen blauen Himmel gratis dazu, fühlte man sich doch irgendwie kräftig verscheißert - wenigstens, was mich betraf.
Mit mehr Schwung, als ich mich eigentlich aufzubringen in der Lage fühlte, warf ich meine Beine aus dem Bett. Der Lattenrost unter mir knarzte, als wollte er meine Kopfschmerzen in schiefe Töne verwandeln. Mit den Händen wollte ich mich abstützen, um dann wie die älteste russische Rakete der Welt von meiner durchgelegenen Matratze aufzusteigen, als ein stechender
Schmerz in meinen rechten Arm schoss. Was zum Henker hatte ich jetzt schon wieder angestellt? Ungläubig betrachtete ich meine rechte Hand, oder das, was davon übrig war. Ein mächtig geschwollener Klumpen Fleisch mit malträtierter Haut überzogen, aus dem fünf Finger wuchsen, die mit dicken Kratzern und getrocknetem Blut gesprenkelt waren.
Ich atmete laut aus und versuchte, im Kopf irgendwie wieder klar zu werden. Vielleicht konnte ich ein paar Puzzleteile zusammensetzen, auch wenn am Ende als Motiv doch nur »Berlin bei Nacht mit Stromausfall« herauskommen würde. Mein Schädel dröhnte weiter brav
im Zweivierteltakt, als wäre mein überfordertes Herz direkt von der Brust in den Kopf verlegt worden. Verschissenes Ballerzeug aber auch! Warum wirkte Abendplanung mit einer Kanne Tee, Keksen und einem fetten Bestseller-Thriller immer nur am Morgen danach besser als die absolvierte Kneipentour, während der man abgesoffen war wie die Titanic zur besten Stunde?
Okay, Bestandsaufnahme: Ich hatte gegen acht die Bude verlassen, alles klar soweit. Das Portmonee hatte ich in weiser Voraussicht zu Hause gelassen und stattdessen wie immer ein paar Scheine in die Gesäßtasche meiner Jeans
gestopft. Sollte ich wetten, wie viel davon noch übrig war? Bei Steffen dürfte ich eine halbe Stunde später angekommen sein. Von da aus waren wir per S-Bahn auf die Warschauer gedüst. In der ersten Spelunke hatten wir ein paar Bier gekippt, auch soweit kein Problem, alles noch da. Ich hatte mir die versifften Erdnüsse in den Mund gestopft, die da immer in kleinen Schälchen auf den Tischen herumstanden, dann waren wir irgendwann weitergezogen. Aus Bier wurde irgendwo auf unserer Tour Gin, und irgendwann war ich allmählich im Wodka abgesoffen. Ich erinnerte mich, dass Steffen zwei Mädels überredet
hatte, zu uns an den Tisch zu kommen. Irgendwie hatte er sich besser im Griff gehabt als ich mich. So war es eigentlich immer in letzter Zeit: Ich soff mich unter den Tisch, damit er mir am nächsten Tag erzählen konnte, dass ich wieder neben der Spur gewesen sei. Stolz war ich da nicht drauf, und unter der Woche kam es schon mal vor, dass ich im Büro hockte und ein klarer Gedanke mir zuflüsterte, dass ich mit der Scheiße mal lieber aufhören sollte, bevor es zu spät war ... Nennen wir das Kind beim Namen: bevor ich ein echtes Alkoholproblem bekam. So langsam sei es ja wohl auch genug, auch ich müsste allmählich mal so weit durch sein, um die alten Dämonen ruhen zu
lassen, flüsterte Kollege Klarer Gedanke, doch spätestens am Freitag nach Feierabend machte Klarer im Überfluss den klaren Gedanken ziemlich milchig und dann mundtot.
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn es wehtat, und zwang mich zur Konzentration. Da waren die beiden Mädels gewesen, und irgendwie hatte ich sie von Anfang an nicht gemocht. Vielleicht war es ihr Lächeln gewesen, das mir irgendwie abschätzig vorgekommen war, vielleicht war es die Tatsache, dass sie gekleidet waren, als hätten sie gerade ihre Schicht auf der Kurfürstenstraße beendet, vielleicht ... ach scheiße, ich wusste ja nicht mal
mehr, was sie getragen hatten, wie sie überhaupt ausgesehen hatten, geschweige denn, ob sie tatsächlich gelächelt oder gegrinst hatten, whatever. In meiner gefärbten Erinnerung war Steffen mit zwei Strohpuppen an unseren Tisch zurückgekommen, denen irgendein parkinsonkranker und völlig irrer Maler so was Ähnliches wie Gesichter aufgemalt hatte. Und das sagte wahrscheinlich alles über mich, meinen Geisteszustand und mein Verhältnis zu Frauen aus. Wahrscheinlich war ich hinterher aus der Haut gefahren, befürchtete ich jedenfalls, während ich meine Hand von allen Seiten betrachtete wie eine verschmähte Trophäe, und
hatte, bevor ich abgedampft war, auf irgendeine Wand eingedroschen oder Schlimmeres ...
Gott, ich hoffte, dass es nur eine Wand war. Vielleicht sollte ich einfach Steffen anrufen und nachfragen, dachte ich kurz, wand mich dann aber wie ein Aal unter dem erdrückenden Gedanken hervor, dass ich grundlos irgendwem die Fresse poliert haben könnte - vielleicht sogar einer der beiden, die Steffen angeschleppt hatte.
»Fuck!«, schrie ich so laut, wie ich mich traute, ohne befürchten zu müssen, dass irgendein Nachbar die Bullen rief. Ich versuchte, mich zusammenzureißen und stand endlich auf. Meine Knochen
knarzten wie ein altes Segelschiff, und mit jeder Bewegung wurden die Kopfschmerzen schlimmer, doch das machte mir nichts mehr aus. Himmel, ich hoffte einfach nur, dass ich meine Hand lediglich in eine Wand gerammt hatte. Denn falls nicht ... so wie meine Patsche aussah, hätte ich andernfalls mehr angerichtet, als jemandem den Gesichtskühler zu verbeulen.
Mein Herz schlug deutlich zu schnell, und mir war ziemlich bewusst, dass das nicht nur am zu hohen Blutdruck lag, den mir das Besäufnis von gestern beschert hatte. Ich verließ mein Schlafzimmer und torkelte hinüber ins Wohnzimmer. Unterwegs sammelte ich
verstreute Klamotten ein. Offenbar hatte ich zuerst meine Hose verloren, dann die Socken in irgendeine Ecke gepfeffert, hinterher das Shirt abgeworfen und war dann wie ein Stein ins Bett gefallen. Na das kannte ich ja schon. Immerhin hatte ich hier kein weiteres Chaos angerichtet und Zeug durch die Gegend geschmissen, das war wenigstens etwas.
Ich sah mich um, als wäre ich zum ersten Mal hier. Auf dem Wohnzimmertisch lag noch mein Portmonee. Ganz friedlich ruhte es da, wie ein Relikt aus einer fernen Galaxie, in der die Welt noch ein Stück weit mehr in Ordnung war als die, in die ich nach meinem Saufkoma mit anschließendem
Tiefschlaf gestolpert war. Ich klappte die Geldbörse auf. Ausweis, Führerschein, Plastikkarten, alles da - logisch, schließlich hatte ich sie nicht mitgenommen. War eher ein Reflex. Sogar das beschissene Foto, das ich längst hätte herausnehmen sollen. Ich legte mein Portmonee zurück auf den Tisch, prüfte noch kurz die Tasche meiner Jeans, fand aber lediglich ein bisschen Klimpergeld. Entweder hatte ich also alles versoffen, war beklaut worden, oder hatte beim Nachhausetaumeln alles verloren. War mir jetzt aber auch scheißegal, schließlich war das Resultat dasselbe: Der Zaster war weg und basta.
Außerdem hatte ich gerade ganz andere Sorgen.
Ich sah mich um, hielt Ausschau nach meinem Smartphone. Verdammt, hatte ich das Ding gestern etwa verloren? Wehe mir! Nummer sperren, Kontakte weg, die ganze Scheiße! Ich ging durch meine Wohnung, ohne deswegen allzu sehr in Panik zu geraten, als mir die einzig logische Idee kam. Im Wohnzimmer griff ich zum Festnetztelefon und wählte meine eigene Mobilfunknummer. Gut, dass ich die auswendig kannte. Immer schön, wenn man wenigstens die unwesentlichen Dinge des Lebens im Kopf behielt. Ich wartete, bis ein Freizeichen kam, und
immerhin kam eines, dann lauschte ich in die Stille. Irgendwo vibrierte hier was. Na bitte, das Ding lag also hier herum. Wie ein Raubtier schlich ich durch meine Bude, immer dem verdächtigen Geräusch nach. Im Bad fand ich mein Handy schließlich unter dem kleinen Schränkchen, das unterm Waschbecken stand. Wie kam das Teil bitte hierher? War ich nach dem Ausziehen noch mal ins Bad gewankt und hatte irgendwelchen ... Leuten ... irgendwelche kryptischen Botschaften geschrieben, die nur andere Besoffene wirklich verstanden?
Ich schaute aufs leuchtende Display, das mir mitteilte, dass ich sieben Anrufe verpasst hätte. Sieben!
Mein Herz pumpte wieder wie wild. Fuck! Ein Anruf war zwar von mir selbst, aber Steffen würde doch nicht versucht haben, mich sechsmal anzurufen?! Ich merkte, dass meine Finger zitterten, kraftlos waren, und das lag nicht am Hunger, während ich versuchte, mich in die Anrufhistorie hineinzunavigieren. Steffen, Steffen, Steffen, Steffen, Steffen, Steffen! Scheiße! Was, zum Henker, hatte ich angestellt, dass mein bester Kumpel mich so oft anrief, wie eine ... hysterische Ehefrau? Das war absolut gar nicht seine Art. Obwohl mir die Frage den großen Bruder von Unbehagen bereitete, schaute ich noch in die Liste der versandten
Kurznachrichten. Nichts - immerhin!
Mit einem mehr als flauen Gefühl in der Bauchgegend betätigte ich das Rückrufsymbol. Ein kleines Bildchen von Steffen und mir erschien auf dem Display, irgendwann in besseren Zeiten bei ihm zu Hause aufgenommen, darunter ein bedrohliches »Wird gewählt ...«. Ich hielt das Telefon ans Ohr und wartete auf das Freizeichen. Ich glaubte schon, die Zeit würde stillstehen, als es schließlich doch klingelte. Und ich wusste nicht, ob ich froh darüber sein sollte oder nicht. Es klingelte ein zweites Mal. Und ein drittes. Steffen, geh ran, wenn ich mich schon hierzu durchringen kann, dachte ich. Ein viertes Mal noch,
ein fünftes, dann legte ich auf. Irgendwie sogar erleichtert. Doch verdammt, wo war der Kerl? Der Mut fiel von mir ab wie farbiges Herbstlaub von einem Baum, und ich fürchtete, noch mal würde ich ihn wohl nicht aufbringen. Zu gemütlich hatte ich es mir in meiner kleinen Nische der Unwissenheit bereits gemacht.
Ich ging zum Wäschekorb hinüber, um die Klamotten vom Vorabend hineinzuschmeißen. Als ich mein zerknülltes, nach Rauch, Suff und altem Schweiß müffelndes Shirt in den Korb stopfen wollte, fiel mir ein Fleck auf, der da nicht hingehörte. Ich breitete das Shirt vor mir aus, und mein Puls
schnellte erneut nach oben. Jeder Schlag hallte in meinem Kopf nach, bis ich dachte, im nächsten Moment müsste meine Schädeldecke bersten. Da waren rote Spritzer drauf, eindeutig kein Ketchup, keine Bloody Mary. Obwohl bloody es doch ziemlich gut traf. Das war Blut, und höchstwahrscheinlich nicht mein eigenes. Zwar war meine Hand Schrott, und ich würde die nächsten Wochen sicher nicht vernünftig am Computer arbeiten können, aber da war keine größere Wunde, und auch sonst hatte ich mir nichts zugezogen.
Verdammter scheiß Drecksfilmriss! Wütend stopfte ich alle Klamotten in den Wäschebehälter. Ich wollte nichts mehr
sehen, wollte den Stoff, der nach allem stank, was eine durchzechte Nacht ausmachte, und der von irgendjemandes Blut besudelt war, nicht in meiner Nähe haben. Ich schaltete das Licht im Bad aus und ging in die Küche. Meine Pumpe lief immer noch unter Volllast, dass mir war, als müsste im nächsten Moment der Kessel explodieren. Im Kühlschrank wartete eine schöne Flasche Korn auf mich. Nicht, dass ich jetzt Lust hatte, mich zu besaufen, im Gegenteil: Allein der Gedanke krempelte mir den Magen um, aber ich brauchte jetzt, verdammt noch mal, irgendwas, das mich beruhigte. Und eines war klar: Ein Stück Schokolade würde da nicht
ausreichen.
Während ich ein Glas mit Klarem füllte, kamen mir die beiden Strohpuppengesichter wieder in den Sinn, mit denen Steffen an unseren Tisch gekommen war. Was war da noch so gelaufen? Hatten wir uns gestritten? Hatte ich einer von ihnen tatsächlich ... Ging Steffen deshalb nicht ans Telefon? Aber das war Unsinn, schließlich hatte er vorher versucht, mich etliche Male anzurufen. Wahrscheinlich hatte er sich's mit seinem iPad auf dem Klo gemütlich gemacht und blieb da heute den halben Tag.
Ich wusste ja, dass ich ungemütlich werden konnte, wenn ich zu viel
getrunken hatte, vor allem, wenn ich innerlich unausgeglichen war - und ich war in letzter Zeit die Personifizierung der Unausgeglichenheit. Ich wusste, dass ich dann manchmal herumbrüllte. Eine Fernbedienung hatte bereits dran glauben müssen, als ich sie mit meiner Wohnzimmerwand kollidieren ließ. Ja, auch selbst hatte ich, zumindest im Suff, bereits auf eine Wand eingedroschen, aber nie, wirklich niemals, hatte ich jemanden geschlagen. Und schon gar keine ... Frau? Aber das Blut auf meinem Shirt, die Verletzung an der Hand. Ich schaute mir die Kratzer noch mal an. Könnten Spuren von Zähnen sein, so viel war klar. Die Kopfschmerzen wurden
schlimmer, je länger ich darüber nachdachte, was ich vielleicht angerichtet hatte. Doch ich konnte nicht damit aufhören, und mit jeder Sekunde wurde klarer, dass ich irgendwem was angetan hatte. Und das alles nur wegen ...
Ich nahm am Tisch Platz und trank einen kräftigen Schluck. Igitt, am liebsten hätte ich das Zeug augenblicklich wieder ausgespuckt. Doch es dauerte nicht lange, vielleicht war es auch Einbildung, aber was zählte, war schließlich das Resultat, und die Kopfschmerzen ließen nach. Aber die Angst, etwas ... diesmal etwas wirklich Schlimmes getan zu haben, die hielt mich
weiter in ihren Klauen. Diesmal war es mehr als ein schlechtes Gewissen. Und selbst so was hatte ich in meinem Leben nicht oft gehabt. Gut, einmal als Kind, als die alte Frau Heinemann, die gute Seele des Plattenbaus, die uns oft besuchen gekommen war, im hohen Alter gestorben war. Meine Mutter hatte sie blau angelaufen in der Badewanne gefunden. An und für sich gut, schließlich gab es schlimmere Tode, als an Altersschwäche zu sterben, während man ein Vollbad genoss. Zumindest hatte ich mir das eingeredet, um das schlechte Gewissen darüber zu überspielen, dass ich nicht traurig sein konnte. Es hatte mich einfach nicht berührt, und warum,
das hatte ich nie herausgefunden. Das zweite Mal war der Tod unseres Wellensittichs Mister Pietrie gewesen, den ich verpasst hatte. Mein Vater hatte mir erzählt, er habe noch ein paar Runden im Wohnzimmer gedreht, bevor er wie ein Meteorit zu Boden gestürzt und dort liegen geblieben sei. Ich war zu der Zeit als Einziger nicht anwesend gewesen, weil meine Freunde und ich Fußball gespielt hatten. Und heimlich geraucht. Wahrscheinlich war das schlechte Gewissen vom Rauchen gekommen, aber vielleicht hatte ich auch einfach mein Problem mit dem Tod an sich. In meiner Rübe waren öfter mal Dinge falsch
verdrahtet.
»Dafür hast du ihn mir aber oft genug an den Hals gewünscht«, sagte meine ... Exfrau. Erschrocken schaute ich von meinem Glas auf, und da saß sie. Mir gegenüber am Tisch hatte sie lautlos Platz genommen, um mich vorwurfsvoll aus schwarzen Löchern heraus anzustarren, in denen mal die grünen Augen einer Schlange gelauert hatten. Ihre Haut war aufgedunsen, das früher mal blonde Haar war ausgeblichen und dünn und hing wie aufgeweichte Glasnudeln von ihrem teigig weißen Schädel herab.
»Du … bist ...«, stammelte ich. Sie legte den Kopf schräg, als könnte sie
mich nicht richtig verstehen. Das rechte Ohr löste sich von ihrem Schädel ab, zog dünne, schleimige Fäden hinter sich her und fiel dann zu Boden, wo es mit einem nassen Klatschen aufschlug.
»Tot?«, beendete sie meinen Satz. Ein breites Lächeln schlich sich auf ihren rissigen Mund, der davon aufplatzte wie Wurstpelle und das mich noch viel mehr erschreckte als ihre scheußliche Erscheinung. »Du wolltest mich doch so, oder nicht? Wie oft hast du mir den Tod an den Hals gewünscht? Dass ich von der Brücke springe und im Fluss ersaufe? Gefalle ich dir jetzt nicht? So, wie ich bin?«
»Das war so nie gemeint«,
verteidigte ich mich. Ich wusste, sie konnte nicht hier sein. Sie konnte nicht hier sitzen und mit mir reden. Wie hätte sie hier hereinkommen sollen, ganz zu schweigen davon, dass ... dass sie nicht tot war, obwohl sie es ganz offensichtlich ja doch war. War es soweit mit mir gekommen, dass ich mich jetzt mit einer Leiche unterhielt? War ich total irre geworden?
»Ich habe dir nie den Tod an den Hals gewünscht«, sagte ich und trank mein Glas leer, als würde das jetzt noch helfen.
»Ja, gönn dir ruhig einen kräftigen Schluck. Flüchte, wie du es immer schon gemacht hast«, sagte die
Wasserleiche, die ich einmal anders gekannt hatte. »Macht die Erkenntnis erträglicher, dass du nun vor dir hast, was du selbst erschaffen hast, nicht wahr?« Sie spie ein lautes Lachen durch ihren zahnlosen Mund. Ein fauliger Wind stieg mir in die Nase. Am liebsten hätte ich sofort auf den Tisch gekotzt, doch die wiederkehrenden Kopfschmerzen, die nun schlimmer waren als zuvor, lenkten mich ab.
»Hör zu«, begann ich, damit sie aufhörte zu lachen. » Hör einfach zu, ja? Ich ... ich wollte nicht, dass du stirbst. Wollte ich nie, wirklich. Ich wusste nur nie, wie ... wie ich damit umgehen sollte, dass es vorbei war. Dass es dir
besser ging als mir. Du ... du warst die, die sich in der Sonne aalte, während ich auf der anderen Straßenseite im Schatten stehen und Scheiße von links nach rechts schaufeln musste. So fühlte sich das an. So ... Das war einfach ...«
»Nicht fair?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.
»Genau, nicht fair.«
»Und deswegen ziehst du jetzt los, besäufst dich und tust dir ...«, sie deutete auf meine kaputte Hand, »... das da an?«
»Das war was ganz anderes«, knurrte ich. »Mit dir hatte das ganz und gar nichts zu tun.«
»So? Dabei dachte ich, hm, ich sei
die Wurzel allen Übels. Gedacht hast du das oft genug, nicht? So wie du mich oft genug genau so wolltest, wie ich nun vor dir sitze. Und nun ist es dir auch nicht recht? Seltsam.«
»Hör auf!«, zischte ich. »Du ... du hast kein Recht, mir irgendwelche Vorwürfe zu machen. Du hast mich verlassen, du hast mich in dieses Drecksloch gestoßen, in dem ich jetzt sitze. Du ganz allein!«
»Das mit uns war längst vorbei, und das wusstest du. Was kann ich dafür, dass dir der Mut fehlte, das ... Notwendige zu tun? Es war dir zu unbequem, nicht wahr? Einfach, weil du es so gern bequem
hast.«
»Ich war glücklich!«, warf ich ein.
»Sicher, ja.« Wieder dieses Lachen, von dem ich nichts sehnlicher wollte, als dass es aufhörte. »So glücklich, dass wir uns mehrfach wöchentlich heiser brüllen mussten.«
»So war es nicht. Du übertreibst«, sagte ich.
»Ich bin sicher, dass du das sogar glaubst. Weil es zu dir passt, weil es eine weitere kleine Flucht ist, ganz für dich allein. So, wie du dich in das Zeug da flüchtest und dann ... Dinge tust, hm?«
»Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Ach nicht? Was ist denn bitte mit
deiner Hand passiert? Und woher kommen die Blutflecken auf deiner Kleidung? Willst du nichts mehr von wissen, hm? Vielleicht schaust du auch mal in den Gefrierschrank. Eventuell hast du da ja einen abgeschnittenen Frauenkopf ... aufgehoben. Oder mal in deinen Kofferraum geschaut? Bisschen was zu entsorgen? Geh und lös die Knoten von den schwarzen Müllsäcken, in denen die Teile der beiden Frauen von gestern Abend liegen. Alles schön sauber verpackt. Schnell, bevor ein anderer sie findet.«
»LASS DAS!«, schrie ich sie an. »Das ist nie passiert! Nichts davon!«
»Und genauso bin ich auch nicht
tot, richtig? Ich habe nur die Stadt verlassen und erfreue mich bester Gesundheit, während es mir in meiner Beziehung gut geht. Aber ... vielleicht ist es ja auch anders. Bin ich etwa doch hier bei dir?«
»Du ... fehlst mir«, flüsterte ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, ob es gut war, so etwas auszusprechen.
»Vielleicht solltest du doch im Kofferraum nachsehen«, sagte sie und überging meine Bemerkung völlig.
»NEIN!«, brüllte ich. »WAS WILLST DU ÜBERHAUPT?«
»Dass du Verantwortung übernimmst. Für dich, für dein Leben. Da muss doch mehr sein als diese
Wasserleiche, die du mit dir herumschleppst. Da ist mehr. Hör endlich damit auf!«, sagte sie und deutete erneut auf meine Hand und das leere Glas, das daneben stand. »Hör mit so vielem auf, fang mit anderem an. Und komm vor allem endlich mal klar.«
»ICH KOMM KLAR!«, schrie ich, so laut, wie ich nur konnte und ließ die Faust auf den Tisch donnern. Ein unerträglicher Schmerz schoss in meinen Kopf. Ich schrie. Jetzt war meine Hand völlig hinüber. Ich sah auf und ... nichts. Sie war weg. Weil sie natürlich nie da gewesen war. Weil sie schon vor so langer Zeit fortgegangen war. In irgendeiner Wohnung über oder unter mir
brüllte ein Baby. Ob ich es geweckt hatte?
Mein Handy klingelte. Ich zog es aus der Tasche und hielt es vor mir wie einen gammligen Fisch. Steffen! Wenn ich es klingeln ließ, würde er irgendwann aufgeben. Wir könnten genauso gut später reden, oder morgen, dachte ich. (Komm vor allem endlich mal klar.) Ich drückte die große grüne Schaltfläche auf meinem Telefon.
»Jepp?«, sagte ich bemüht locker, während mein Herz fast durch die Brust sprang.
»Meine Fresse, endlich erreich ich dich mal!«, sagte Steffen aus einer anderen Welt. »Hast du die ganze Zeit
gepennt, oder was?«
»Ähm, klar. Musste ja ein bisschen was an Schlaf nachholen, oder nicht?«
»Na keine Ahnung. Weiß ich doch nicht, was du noch so getrieben hast«, antwortete er.
»Wieso? Was soll ich denn getrieben haben?«, fragte ich gespielt beiläufig, doch jedes Wort wog so schwer, als müsste ich Backsteine hochwürgen.
»Sag mal, kannst du dich echt an nichts mehr erinnern?«, fragte Steffen, der beschwingte Ton in seiner Stimme machte mich wütend, doch ich ließ mir nichts anmerken.
»Na ja, nicht so richtig«, gab ich
schließlich zu. »Klär mich mal auf.«
»An die beiden Ladys erinnerst du dich schon noch, oder?«
»Bisschen«, sagte ich.
»Die wollten sich mit dir unterhalten, na ja, oder vielleicht auch nicht. Aber egal, du warst sowieso so stinkbesoffen, dass von dir kein verständliches Wort mehr kam. Und als wir uns dann, na ja, so'n bisschen drüber lustig machten, musstest du unbedingt aufspringen und rausrennen. Echt wie von der Tarantel gestochen, Junge, Junge.«
»War das so?«, fragte ich kleinlaut. Eigentlich wollte ich den Rest nicht mehr hören, aber da war immer noch meine
Hand, und da waren die ... Blutflecken.
»Ganz genau so war das. Ich bin dann hinterher und konnte gerade noch sehen, wie du dich unbedingt aufs Maul hauen musstest. Dann hast du ziemlich heftig auf den Boden eingedroschen, als ob der was dafür konnte. By the way: Wie geht's deiner Hand überhaupt?«
»Die ist Müll. Dick wie'n Boxhandschuh«, sagte ich, während ich spürte, dass die Anspannung von mir abfiel. »Aber ... ich hab mich hingehauen? Wie kommt es, dass ich heute Morgen kein Blut im Gesicht hatte? Kann mir nicht vorstellen, dass ich noch duschen war.«
»Na denkst du, ich lass dich so
nach Hause gehen? Ich bin mit dir noch mal zurück in die Bar, hab dir das Gesicht aufm Klo gewaschen und dann mit dir gewartet, bis das Nasenbluten aufhörte. War ziemlich heftig, und ich glaub, dein Shirt kannst du wegschmeißen.«
»Schon gesehen«, sagte ich.
»Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir anschließend nach Hause. Die Geschichte mit den beiden Miezen hatte sich da eh schon erledigt. Hab dich noch zur Tür gebracht, und wie's aussieht, bist du dann ja wenigstens gleich ins Bett gefallen.«
»Ja, scheint so. Geht mir trotzdem nicht so dolle
heute.«
»Glaub ich glatt. Mach nächstes Mal ein bisschen weniger«, sagte Steffen. »Und hau dich jetzt mal wieder aufs Sofa. Du hast es nötig, glaub ich.«
»Das kannst du aber annehmen«, sagte ich und hätte gelacht, wenn ich mich nicht so elend und ... schuldig gefühlt hätte. »Ich meld mich die Tage, okay? Und danke noch mal.«
»Kein Ding«, sagte Steffen und legte auf.
Ich legte das Telefon weg und blieb noch einen Moment lang sitzen. »Komm vor allem endlich mal klar«, sagte ich. Klarkommen. Klar, was für ein klarer Gedanke. Keine Ahnung, wie man mit so
was anfing, aber ein guter Start fiel mir ein. Ich nahm die Flasche und kippte den Rest ins Spülbecken. Der klare Gedanke hatte über den Klaren gesiegt. Wenigstens dieses eine Mal, wenigstens heute. Vielleicht kaufte ich morgen neues Zeug, vielleicht zog ich am Freitag wieder los, keine Ahnung, aber heute war mal Schluss! Stattdessen machte ich erst mal Kaffee. Ich trank die ganze Kanne und fühlte mich ... besser. Ich ließ mich auf die Couch sinken und dachte nach. An die Wasserleiche in meinem Kopf, die mich besucht hatte. Klarkommen ... Wie ging das weiter? Ich legte mich auf den Rücken und starrte die weiße Zimmerdecke an. Und während
die Sonnenstrahlen durchs Fenster fielen und meine Nase kitzelten, wartete ich darauf, dass die Trauer endlich über mich kam.