7.Kapitel
Zitternd stand Aeneas neben seinen Vater auf dem großen Platz. Er befand sich in der Mitte des riesigen Burghofs und war der Ort, an dem die Hinrichtungen vollzogen wurden.
Der Scharfrichter hatte sich ebenfalls eingefunden und stand neben Azazel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Der Werwolf hatte Angst. Angst um sein Leben und Angst um seinen besten Freund.
Und dann kam Luzifer aus seinem Schloss, die tiefschwarzen Flügel leicht ausgebreitet, was ihn noch bedrohlicher erscheinen
ließ.
Er verschwendete keinen Blick an die Werwölfe und wandte sich sofort an den Scharfrichter.
„Geh! Es gibt hier nichts zu tun! Das Unrecht wurde aufgeklärt! Na los!“ Er machte eine scheuchende Handbewegung und der Scharfrichter sowie die Schaulustigen zerstreuten sich.
Luzifer bedeutete Azazel, ins Schloss zu gehen und warf Aeneas einen kurzen Seitenblick zu. Doch dieser kurze Blick reichte aus, um ihn die schreckliche Wahrheit erkennen zu lassen.
Er spürte kaum, wie sein Vater ihn packte und mit sich zog. Seine Gedanken waren nur bei Luzius, wie er im Schloss
lag und dem Tod erlegen war.
Ich habe ihn umgebracht. Ich habe den Mann, den ich liebe umgebracht.
Der Gedanke beherrschte ihn, ließ ihn nicht mehr los. Verzweifelt riss er sich los und stürmte zum Schloss, in den Raum wo er ihn alleine gelassen hatte.
Er roch das Blut, sah das Bett und die reglose Gestalt.
„Nein!“
Der Schrei kam aus den Tiefen seines Herzens und er wollte auf das Bett zustürmen.
Zwei starke Arme legten sich um seine Mitte und hielten ihn fest.
„Lasst mich zu ihm!“ Weinend schlug der Werwolf um sich, wollte nur nach
vorne. Doch Luzifers Arme waren wie Schraubstöcke und hielten ihn fest.
Aeneas sah in die blicklosen Augen Luzius und spürte, wie sein Herz in unendlich kleine Stücke brach.
Azazel sah den Werwolf bedauernd an und zog die weiße Decke über den Leichnamen. Hellrote Flecken erschienen an der Stelle, an der die Wunde sein musste.
Zitternd sackte er in Luzifers Armen zusammen. Der Engel legte seine Flügel um ihn und umhüllte sie beide.
„Bring Luzius weg, Azazel. Wir werden ihn später... beisetzen.“
Azazel nickte. Er konnte den Schmerz seines Freundes beinahe fühlen. Den
Tränen nahe nahm er Luzius auf seine Arme und trug ihn nach draußen.
Beruhigend strich Luzifer über Aeneas Kopf, wie er es zuvor bei seinem Sohn gemacht hatte.
„Ist gut, Junge. Ist gut. Ich weiß, es tut weh. Du hast ihn geliebt, nicht?“
Schluchzend nickte Aeneas und vergrub das Gesicht an Luzifers Brust. In diesem Moment war es ihm egal, dass sein Vater ihn wegen seines Ungehorsams schlagen würde oder das er sich bei dem Fürsten der Finsternis ausweinte.
Alles was zählte, war der Schmerz in seiner Brust.
Etwas berührte seinen Geist, strich an ihm entlang wie eine stumme
Frage.
Widerstandslos ließ er zu, dass Luzifer seinen Geist um ihn legte. Er ließ dem Schmerz freien Lauf und spürte, wie Luzifer zitterte, als er den Schmerz des Jungen aufnahm.
Stundenlang saßen die beiden so da, bis Aeneas keine Tränen zum Weinen mehr hatte und der Schmerz aus ihm gewichen war.
Schniefend blickte er zu Luzifer auf und sah die tiefen Schatten unter seinen Augen.
Das Lächeln misslang dem Höllenfürsten gründlich.
„Geh Kleiner. Dein Vater wartet schon. Ich rufe dich, wenn... wenn mein Sohn
beerdigt wird.“
Der Werwolf nickte und erhob sich schwankend. Raschelnd glitten Luzifers Flügel zurück und er sah dem Werwolf mit einem Ausdruck unendlichen Leids im Gesicht hinterher.
Ein seltener Wind fegte über das ausgetrocknete Land hinweg, auf dem die kleine Gruppe versammelt stand.
Luzius Leichnamen war in einen dunklen Holzsarg gelegt worden. Der Deckel war vernagelt, sodass keiner einen Blick hinein werfen konnte.
Das Grab war tief, vier Meter oder mehr. Es gab keine großen Abschiedsworte, keine große Rede. Jeder ging nach vorne,
kniete kurz neben dem Sarg nieder und flüsterte ein paar Worte.
Mit ausdruckslosem Gesicht trat Aeneas vor, kniete nieder und flüsterte ein paar Worte.
Luzifer betrachtete die Szene aus dem Augenwinkel und fragte sich, ob es richtig gewesen war, dem Jungen der Schmerz zu nehmen.
Seitdem empfing er kein Gefühl mehr von dem Jungen, nur eine stumpfe Leere.
„He.“
Verwirrt drehte Luzifer den Kopf und blickte den Dämonen an, der ihm Schatten einer toten Eiche stand.
Er hatte lange, schwarze Haare, die im leichten Licht einen violetten Stich
hatten. Zwei verschiedenfarbige Augen musterten den gefallen Engel kritisch, aber nicht ängstlich.
„Was ist? Wer bist du?“
Der Dämon blickte mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht zu dem Sarg hin.
„Nun, du wirst mir nicht glauben. Aber hast du schon jemals davon gehört, dass es Seelenwanderer gibt?“
Luzifer nickte. Hatte man einen Seelenwanderer zum Feind, war mein sein ganzes Leben lang beschäftigt. Starb ein solcher Wanderer, schlüpfte seine Seele einfach aus seinem sterbenden Körper und nistete sich woanders ein, und vertrieb die Seele, die
den Körper vorher bewohnte.
„Man kann sie leicht mit Seelenseher verwechseln, da sie auch Auren sehen können.“
Die Stimme des Dämons war zu einem Flüstern geworden und er lehnte sich haltsuchend an den Baumstamm.
„Aber sie sind es nicht. Sie sind schlechter, können sie doch nicht wählen in welchen Körper sie schlüpfen.“
Der Dämon schloss die Augen und Luzifer betrachtete ihn eingehend. Etwas an seiner Art kam ihm bekannt vor.
„Luzifer, dass hier ist grausam. Du hast mich für einen Seelenseher gehalten, aber in Wahrheit bin ich eines der Monster, die Seelen zerstören. Und du,
du musst es mir vererbt haben. Bist du auch einer? Ein Wanderer?“
Zischend zog Luzifer die Luft ein. Freude mischte sich mit Unglaube, als er den Dämon ansah und seinen Sohn erkannte.
„Luzius. Du bist ein Wanderer?“
Er nickte und sah seinen Vater wieder an. Luzifer war von den zwei Farben verwirrt. Das linke Auge war schokoladenbraun und strahlte eine Wärme und Güte aus, die man sich bei einem Gott wünschte. Das rechte jedoch war eisblau und gletscherkalt.
„Ich kann es nicht glauben. Aber wie?“
„Der Dämon war schon hier und ich habe jede Erinnerung mitgenommen. Und
dann sah ich dich und wollte mit dir reden. Nur damit du weißt, dass ich lebe.“
Luzifer warf einen Blick über die Schulter. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sein totgeglaubter Sohn stand vor ihm und war mit den Nerven am Ende.
Zögernd streckte er den Arm aus, um ihn zu berühren, doch Luzius wich zurück und musterte ihn misstrauisch.
„Du solltest mit Aeneas reden. Der Junge mag dich sehr und ist ziemlich mitgenommen.“
Der Höllensohn nickte nur und warf einen Blick auf die Trauernden.
„Du verstehst mich nicht. Aeneas mag
dich. Mehr als du denkst. Und ich bin nicht auf das Freundschaftliche aus, ja?“
Keine Überraschung spiegelte sich in seinen Augen. Es war wie bei dem Werwolf, keinerlei Gefühle.
Luzifer schauderte und wandte sich ab.
„Es ist deine Entscheidung, wann du es ihm sagst. Bis dahin bist du für mich einer der Dämonen, die ich noch nicht kennen gelernt habe und die in meinem Reich leben. Entscheide selbst, was du tust.“
Luzius blickte seinem Vater mit diesen blicklosen Augen hinterher und war sich sicher, dass er Aeneas die Wahrheit lieber verschweigen
würde.