„Du hast sie umgebracht. Einfach so!“
Mit geballten Fäusten,Tränen in den Augen und zitternd vor Wut steht die Nachbarstochter vor mir. Aus jeder Faser ihres Körpers schreit mir abgrundtiefe Verachtung entgegen.
„Das darf man nicht. Du bist eine Mörderin!“
Ich bin erschrocken. Immerhin habe ich nicht damit gerechnet, dass mich jemand beobachtet. Ich war mir ganz sicher, dass niemand mich stört. Eigentlich bin ich um diese Zeit immer ganz allein hier. Und das ist gut so. Denn ich genieße die himmlische Ruhe in unserer Straße, wenn alle Nachbarn zur Arbeit gefahren und ihre Kinder in der Schule oder im Kindergarten
sind.
Sichtlich verwirrt lasse ich meine Hand, in der ich noch immer den Spaten umklammert halte, sinken.
„Aber natürlich darf ich das, Schätzchen“, rede ich beruhigend auf das Mädchen ein. Meine Stimme zittert etwas. Aus welchem Grund auch immer - mich überkommt das schlechte Gewissen.
Ich lege den Spaten beiseite. Langsam nähere ich mich dem Gartenzaun, wo Lina steht und mich aus ihren kleinen blauen Augen böse anblitzt. „Das hier ist nämlich mein Grund und Boden. Und wenn sie einfach hier herein kommen, dann darf ich mich wehren“, erkläre ich.
Lina tritt einen Schritt vom Zaun zurück.
Sehe ich Angst in ihren Augen?
„Das darfst du trotzdem nicht“, beharrt sie keine Spur von Angst - und verschränkt ihre kleinen Arme vor dem Kullerbauch.
„Doch“, sage ich nun mit fester Stimme. „Es kann doch nicht sein, dass ich mir immer so viel Arbeit mache und dann kommen die, machen alles kaputt und nehmen mir alles weg.“
„Du darfst das nicht machen. Du darfst sie nicht einfach umbringen!“
Linas Meinung steht fest. Sie hat ihr Urteil über mich schon gefällt genau in dem Augenblick, in dem ich den Spaten fest in den Körper der Eindringlinge gestoßen habe.
Nun doch etwas schuldbewusst schaue ich hinter mich auf die Opfer meiner Attacke. Leblos liegen sie da, mitten in meinem Garten. Zwischen Blumen und Salat.
Ich hocke mich an den Gartenzaun, damit ich Lina in die Augen schauen kann.
„Was meinst du? Warum darf ich das nicht einfach so?“, frage ich sie.
„Weil Gott sie gemacht hat“, erklärt das Mädchen. Lina sieht schon nicht mehr ganz so wütend aus.
„Und was meinst du, soll ich dann tun, wenn sie mich in meinem Garten überfallen?“, frage ich.
„Schick sie doch einfach woanders hin“, antwortet Lina.
„Wie soll das denn gehen, Lina?“, frage
ich. „Sie können mich doch gar nicht verstehen.“
Das Mädchen schaut mich mit großen Augen an. „Warum können sie dich denn nicht verstehen?“
„Ich glaube, die haben gar keine Ohren“, überlege ich.
Einen kurzen Moment herrscht Schweigen zwischen uns. Dann dreht Lina sich einfach um und rennt davon. Ich bleibe zurück auf meiner Seite des Gartenzaunes und sehe ihr verdutzt hinterher.
Als ich nach ein paar Minuten beschließe, mich jetzt einfach wieder um meine Arbeit zu kümmern, steht Lina plötzlich hinter mir. In ihrer kleinen Hand hält sie einen roten Eimer. In der anderen eine kleine
Schaufel in derselben Farbe.
„Dann helfe ich dir, sie woanders hin zu bringen“, murmelt das Mädchen und hockt sich zwischen die Pflanzen.
Vorsichtig, fast andächtig, schiebt sie die kleine Schaufel unter die braunen schleimigen Dinger in meinem Beet und legt sie behutsam in den Eimer. Ich nehme meine Pflanzschaufel und mache es ihr nach.
Als der kleine rote Eimer halb voll ist, sehen wir uns zufrieden an. Lina lächelt.
„So“, sagt sie, „das waren alle.“ Sie erhebt sich, nimmt mich bei der Hand und zieht mich mit sich hinaus aus meinem Garten in Richtung des kleinen Wäldchens hinter der großen Wiese.
„Dort können sie doch bleiben, oder?“ Lina sieht mich mit großen fragenden Augen an.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich denke schon“, erwidere ich.
Als wir am Wäldchen angekommen sind, hocken wir uns auf den Boden. Genauso vorsichtig, wie wir sie vorhin in meinem Garten eingesammelt haben, holen wir sie jetzt wieder aus dem Eimer heraus und legen sie auf den moosigen Waldboden. Bevor wir uns auf den Rückweg machen, schauen wir noch einen kurzen Augenblick zu, wie sie sich langsam, aber sicher auf den Weg machen.
Abends, als es schon langsam kühler wird, sitze ich in meinem Garten und sehe
sie schon wieder kommen. Ob es die gleichen sind, die wir am Vormittag in den Wald gebracht haben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sie nicht umbringen darf, weil auch sie Geschöpfe Gottes sind. So hat es mir Lina noch einmal auf dem Rückweg erklärt. Und ich habe es ihr versprochen. Also laufe ich in meinen Schuppen, hole einen kleinen Eimer und die Schaufel, sammle sie hinein und trage meine unliebsamen Besucher zum zweiten Mal an diesem Tag hinüber zum Wald.