TARASKISCHE ROSEN - Auszüge
Mintzita, das Indiomädchen gab es wirklich. Sie kam von einer Rancheria, so nennt man die winzigen Siedlungen im Staat Michoacan. Als echte Taraskenfrau war sie fleißig und zuverlässig; Analphabetin zwar, aber mit einem hervorragenden Gedächtnis und einem ebensolchen Erzähltalent ausgestattet. Einige Jahre hat sie als Dienstmädchen bei uns gearbeitet und in der Zeit viel von ihrem Leben in der Abgeschiedenheit und dem in der unbarmherzigen Großstadt erzählt.
Ihre lebendigen Schilderungen waren
interessant, fremdartig und auch sehr traurig. Als ich ihr vorschlug, alles aufzuschreiben, was sie mir erzählt hat, war sie überglücklich. Ich vermute, dass sie daraufhin ab und an ihrer Fantasie die Zügel hat schießen lassen.
Ich hielt Wort und schuf aus ihrer Schilderung den Roman ‚Taraskische Rosen.
Er zeigt das primitive Leben in einer Rancheria im Herzen der mexikanischen Provinz Michoacan. Die Menschen vermissen die Errungenschaften moderner Zivilisation nicht. Sie leben ganz im Einklang mit der Natur und nach strengen moralischen Regeln. Sie beten zu der Jungfrau Maria und
verehren dennoch ihre alten Götter. Die Männer sorgen für die nötige Nahrung, die sie den Feldern und Wäldern abringen. Die Frauen kümmern sich um die Familie und fertigen kunstvoll traditionelle Stickereien, vorwiegend schwarze Rosen auf weißem Grund, die sie in der nahen Provinzstadt verkaufen.
Für die junge Mintzita, Tochter einer kinderreichen Familie, war ein anderes Leben nicht vorstellbar. Sie träumte davon, mit ihrem Emilio eine Familie mit vielen Kindern zu haben. Aber das Schicksal bestimmte es anders. Als sie schwanger wurde, jagte der Vater sie davon. Das Kind wurde ihr nach der Geburt weggenommen. Man gaukelte ihr
vor, es sei gestorben. Mintzita blieb nur der Weg in die Hauptstadt. Auf sie wartete ein Leben, auf das sie in keiner Weise vorbereitet war. Es bescherte ihr einen langen Leidensweg, einen zweiten Sohn, den man ihn nahm. Endlich schaffte sie den Sprung in ein menschenwürdiges Leben, aber glücklich machte es sie nicht. Es blieben die Sehnsucht nach der Rancheria und Emilio, die Trauer und Suche nach ihren Söhnen und der Wunsch, sich mit dem Vater zu versöhnen.
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Auszug Nr. 1 aus Taraskische Rosen:
MINTZITA.
Mintzita betrat die Hütte. Als sie die Mutter gewahrte, blieb sie stehen und erwartete ihre Anweisungen. Da diese ausblieben, setzte sie sich auf einen Schemel und vertiefte sich in ihren Lieblingstraum um Emilio.
Mutter Auxilio betrachtete forschend die Gesichtszüge der Tochter: Das war nicht ihre Mintzita. Sie hatte sich verändert, war nicht mehr das übermütige Kind, immer für einen Spaß zu haben und weit entfernt von der Ernsthaftigkeit ihrer Geschwister. Schon Mintzitas Geburt war ungewöhnlich leicht verlaufen. Die Einzige, bei der die Großmutter
anwesend war. Sie hatte einen verstehenden Blick auf dieses Kind geworfen und orakelt: ‚Ein besonderes Menschenkind, obwohl nur ein Mädchen.
Auch Vater Juan schien von diesem Baby überrascht. Zunächst hatte er nur einen Blick darauf geworfen, wie er es stets bei einem Neugeborenen tat, dann aber trat er noch einmal näher an den hölzernen Kasten, schaute hinein und griff nach dem Säugling. Auxilio stockte der Atem. Nie zuvor hatte Juan eines seiner Kinder in diesem zarten Alter auch nur berührt. Und nun hielt er das Bündel so sicher, so behütend, als wollte er sagen: „Hab keine Angst“.
Auxilio tauchte auf aus ihrem Traum.
Noch immer stand Mintzita unbeweglich, so fremd und doch so vertraut. Die Mutter konnte den Blick nicht von ihr wenden, von der hübschesten ihrer Töchter, der einzigen mit ihrer stattlicher Gestalt und der helleren Haut. Die hohen Backenknochen und die leicht schräg stehenden Augen wiesen sie als Taraskenfrau aus. Und das pechschwarze Haar, das sie jeden Tag neu zu einem dicken Zopf band, glänzte wie Samt. Voller Stolz stellte Auxilio fest: „Sie ist ganz meine Tochter.“
Mintzita fing den Blick der Mutter auf, verlegen strich sie mit der Hand über den Rock. „Ich weiß, ich sollte nicht in
Kleidern schlafen. Jetzt sehe ich unordentlich aus“, räumte sie ein. Mutter Auxilio belächelte diese Bemerkung und war zufrieden, dass Mintzita ihre Gedanken nicht erraten hatte. Es wäre unklug, sich etwas auf ihr Aussehen einzubilden.