5.Kapitel
Stöhnend betastete Luzius seine blutende Nase und drehte sich auf den Bauch. Über sich hörte er den Lärm des täglichen Straßenverkehrs. Die Schreie waren verstummt, für ihn nicht mehr hörbar.
Aeneas kniete neben ihm und wischte sich das Blut vom Gesicht. Noch immer blutete sein Ohr.
„Alles in Ordnung?“
Die Frage war eher dazu gedacht, sein klopfendes Herz zu beruhigen, als sich wirklich nach dem Befinden des Werwolfes zu erkundigen.
„Ja, ja. Aber was in deines Vaters Namen
hast du mit ihm gemacht?!“
„Er hat drum gebeten!“ Sofort verteidigte Luzius seine Tat und kam auf die Beine.
Aeneas schenkte ihm einen Blick, der deutlich sagte, dass er seinen Worten keinen Glauben schenkte.
„Schoßhund!“, fauchte Luzius in einem plötzlichen Anfall von Wut und rannte die Treppe der alten U- Bahn Station hinauf. Zitternd mischte er sich in die Menge und verfluchte im Stillen den Werwolf. Welches Recht hatte er, seine Worte anzuzweifeln?
Der metallische Geschmack von Wut lag auf seiner Zunge und knurrend warf er den Kopf zurück. Einige Passanten sahen
ihn erschrocken an und schlugen einen Bogen um ihn.
„Ruhig Gweledydd, sonst verrätst du dich noch.“
Luzius zuckte zusammen und drehte den Kopf.
Der Mann, der neben ihm herlief, reichte ihm gerade mal bis ans Kinn. Sein Naturhaar musste schwarz sein, aber damit hatte der Träger sich nicht zufrieden gegeben. Das Deckhaar war rot gefärbt worden und blonde Strähnen blitzten unter dem Ganzen auf.
Die Augen, die Luzius musterten waren rot wie seine, die Pupillen recht klein und von einem weißen Ring umgeben.
„Ich bin Breac. Und ich bin ein
Gweledydd, genau wie du.“
Luzius presste die Lippen zusammen und funkelte Breac an.
„Könnte jemand vielleicht die Güte haben, mir zu verraten, was das sein soll? Oder ist das wieder etwas, was mein Vater mir nicht beigebracht hat, weil ich ihm egal bin?“
Breac warf seinem Gegenüber einen verwirrten Blick zu.
„Über deine Familienverhältnisse weiß ich nichts, aber ich weiß, was ein Gweledydd ist. Ein Seelenseher, wie es manche Krieger der Kelten waren und immer noch sind. Menschen mit der Begabung, die Seelen, das Innerste selbst von jemandem zu sehen. In Form von
Farben versteht sich.
Im Kampf unendlich nützlich, aber so, heute ist es eher lästig. Denn wo bleibt die Überraschung in diesem trostlosen Dasein? Du hast Interesse an einem Mädchen, und kaum erblickst du sie, weißt du, wie ihre Vergangenheit aussieht und ob sie an dir interessiert ist. Es ist wahrlich nicht schön.“
Luzius zog die Schultern hoch und wandte den Blick ab.
„Ich nutze meine Gabe nicht.“
Das Flüstern war so leise, dass sein Gegenüber die Worte fast überhört hatte.
„Bitte? Es ist deine Gabe! Du musst sie nutzen! Es ist deine Bestimmung!“
Breac blieb stehen und packte Luzius an
den Schultern. Die Sterblichen um sie herum blieben stehen und sahen die beiden mit Neugierde im Blick an.
„Ich will nicht. Lass mich damit in Ruhe. Ich will nicht im privaten Leben der Sterblichen rumwühlen.“
Ungeduldig schnalzte Breac mit der Zunge und zog die dunklen Augenbrauen zusammen.
In seinen Augen lag beinahe das gleiche Glühen wie das in Luzifers.
„Es ist nickt wirklich rumwühlen. Nennen wir es aufmerksames beobachten.“
Das entlockte dem Höllensohn nun doch ein Lächeln.
„Gut. Aber was hast du vor, und warum
redest du mit mir?“
„Weil mir langweilig war und ich nichts besseres zu tun habe. Nein, ich bin ein Späher. Ich halte Ausschau nach den Gweledydds und sammle sie ein. Und du bist einer, also habe ich dich eingesammelt.“
Breac zog eine dünne Pergamentrolle hervor und hielt sie Luzius hin. Vorsichtig rollte dieser sie auf und blickte auf die schwarzen Buchstaben. Es war Irisch, und er las die Sprache fließend wie seine Muttersprache.
„Ihr wollt, dass ich mir euch komme. Nach Irland. Und da soll ich mit euch kämpfen?“
Breac nickte und grinste von einem Ohr
zum anderen.
„Wir brauchen dich. Wir werden immer weniger. Und die Engel...“
„Moment! Engel?“
Breac zuckte vor dem plötzlichen Ausbruch Luzius zurück und musterte ihn misstrauisch.
„Ja, Engel. Sie bedrängen uns. Wir müssen uns wehren. Hilf uns!“
Luzius kaute nervös auf seiner Unterlippe und blickte die Straße hinauf.
Ungern wollte er alles zurücklassen und gegen die Engel vorgehen. Aber was erwartete ihn schon in der Hölle? Ein leidender Vater, ein beleidigter Werwolf. Da war das Angebot Breacs viel
verlockender.
„Gut. Ich komme mit. Wann brechen wir auf?“
„Sofort.“
Aeneas wusste nicht, was in seinen Freund gefahren war. Kopfschüttelnd stieg er die Stufen zur Hauptstraße hinauf. Luzius hatte schon immer unter Stimmungsschwankungen gelitten, aber nie so stark, dass er seinen besten Freund als Schoßhund beschimpfte.
Sterbliche drängten sich in den Straßen und stießen mit dem Werwolf zusammen. Von Luzius war keine Spur zu sehen.
Unbemerkt zog Aeneas etwas von seinem wölfischen Inneren an die Oberfläche
und versuchte, die Spur seines Freundes aufzunehmen. Autoabgase, der Geruch nach verbranntem Essen und Parfum stiegen in seine Nase. Aeneas verzog das Gesicht und schnaubte. Mussten Sterbliche sich dieses Zeugs überkippen oder gleich darin baden? Schöner wäre doch ein dezenter Duft, der nicht gleich in der Nase brannte.
Ein leiser Hauch wehte zu dem Werwolf herüber und er wandte den Kopf. Der Duft war dunkel, nicht aufdringlich und ihm so bekannt wie sein eigener.
Mit erhobener Nase folgte er der Duftspur und ignorierte die Blicke der Passanten.
Plötzlich war noch ein anderer Geruch
da, der ihm fast das Herz in der Brust stehen bleiben ließ.
„Breac.“ Er knurrte den Namen und blickte sich gehetzt um. Luzius würde doch niemals auf den Dunkelelfen hereinfallen. Viele Seelenseher waren diesem Betrüger schon zum Opfer gefallen. Panisch rannte der Werwolf los. In menschlicher Gestalt hätte er nie eine Chance. Unbemerkt schlüpfte er in eine der unzähligen Seitengassen und löste seine menschliche Fassade.
Haut wich dichtem schwarzen Fell, die Augen wechselten von golden zu orange und ein lautes Knurren erklang, als Aeneas auf vier Pfoten fiel.
Pfeifend sog er die Luft ein und sprang
aus der Gasse hinaus. Verschreckt schrien die Menschen durcheinander, als ein riesiger schwarzer Wolf aus dem Schatten sprang und über den Bürgersteig hetzte.
Die Krallen gaben ein kratzendes Geräusch von sich, als sie auf den Asphalt trafen.
Es war für Aeneas eine Freude, so zu laufen. Der Wind im Fell und die Augen auf das Ziel gerichtet. Doch nun war der Lauf von der Angst um seinen besten Freund bestimmt. Denn nicht nur Freundschaft war es, was Aeneas an seinen Freund band. Seit er ihn zum ersten Mal gesehen hatte, schien sein Herz nur noch für ihn zu schlagen. Auch
wenn er wusste, dass Luzius nur für sein Schattenmädchen schwärmte und nicht einmal mitbekam, was mit seinem besten Freund los war.
Schlitternd rannte er um die nächste Ecke und kam auf den verlassenen Bahnhof, von dem er wusste, dass Breac ihn als Versteck nutzte. Und da stand er, die gefärbten Haare leuchteten in der Sonne und sein überhebliches Lachen hörte man weit über den Platz hinweg. Ohne zu denken, nur seinem Instinkt folgend, sprang Aeneas den Dunkelelfen an.
Kurz bevor seine Krallen sich in seine Schultern graben und blitzende Zähne dem elendigen Leben ein Ende setzen
konnten, traf etwas hartes seinen Kopf und schleuderte ihn zu Boden. Jaulend rollte er sich herum und kauerte sich zusammen. Der trübe Blick des Werwolfes suchte nach dem Angreifer und traf auf die vertrauten roten Augen Luzius.
Etwas schien das Herz des Werwolfes zu zerreißen. Sein bester Freund griff ihn an. Ein leises Winseln drang aus dem Maul des Wolfes.
„Siehst du meinen neuen Helfer, Aeneas? Er ist ein guter Fang. Und so talentiert im Kämpfen!“
Der Dunkelelf warf den Kopf zurück und lachte.
„Um mich zu besiegen, musst du an ihm
hier vorbei. Und du weißt, was das heißt.“
Aeneas war klar, dass er Breac töten musste, um Luzius von dem Bann zu befreien. Doch sein Freund sah nicht aus, als würde er das zulassen.
Der Höllensohn hielt einen langen Stab in der Hand, seine Muskeln angespannt.
Wachsam huschte sein Blick über den verlassenen Bahnhof.
Verzweiflung breitete sich in Aeneas aus, als er sich aufrappelte und zwischen Luzius und Breac hin und her blickte.
Es blieb ihm nur eine Möglichkeit: er musste Luzius ausschalten und Breac umbringen. Der Werwolf konnte nur hoffen, dass Luzius sich lange genug an
das Leben klammer würde, bis Aeneas ihm zur Hilfe eilen konnte.
Mit gefletschten Zähnen sprang Aeneas auf seinen langjährigen Gefährten zu. Geschickt duckte er sich unter dem heranfliegenden Holz weg und schnappte nach Luzius Arm. Doch sie hatten nicht umsonst so lange miteinander trainiert. Jeder kannte die Schwäche des Anderen.
Aeneas beschwor einen Teil seiner menschlichen Fassade herauf und knurrte: „Warum kehrst du nicht zurück? Zu deinem Vater und mir?“
Luzius antwortete mit einem wilden Kampfschrei und schwang den Stock hoch über seinen Kopf. Die Erde unter den Pfoten des Werwolfs vibrierte, als
das Holz knapp neben ihm aufschlug.
„Was ist mit Azazel und Asmodis?“
Auch diese beiden interessierten Luzius nicht genug, um gegen den Bann anzukämpfen. Diesmal streifte die Waffe Aeneas Hinterhand und er jaulte auf.
„Lesley!“
Es war ein Wort, dass er vor Verzweiflung ausstieß. Luzius erstarrte, den Stock zu einem weiteren Schlag erhoben. In seinen Augen spiegelte sich Verwirrung, und Aeneas nutzte seine Chance.
Tief grub er die Pfoten in die Erde und sprang auf den Höllensohn zu. Seine Pfoten legten sich auf seine Schulter und Zähne drangen in die verletzliche Haut
des Halses ein.
Stöhnend brach Luzius zusammen. Blut lief aus der tiefen Wunde und bedeckte schnell den Boden. Mit einem tiefen Knurren in der Kehle wand der Werwolf sich zu Breac um, Wahnsinn in den Augen.
„Und nun zu dir.“