Die Wohngemeinschaft
Es war vor langer Zeit, da lebten die Fantasie, die Realität, die Lüge und die Empathie gemeinsam in einem großen Haus.
In der ersten Etage wohnte die Realität. Sie war die Hüterin des Hauses. Wenn es an der Tür läutete beäugte sie die Besucher ganz genau. Sie allein konnte entscheiden, wer hinein durfte.
Die Fantasie wohnte in der zweiten Etage. Wenn sie sich etwas vorstellte hinterließ es sofort Spuren in ihrer
visuellen Wahrnehmung. Sie sorgte in der Wohngemeinschaft für Harmonie, rückte die Möbel zurecht und gestaltete alles sehr gemütlich.
Über der Fantasie lebte die Empathie. Sie konnte ihren Mitbewohnern in die Herzen schauen. Ihre Selbstwahrnehmung löste oft einen Hilfsimpuls aus. Sie war die Seele der Wohngemeinschaft.
Unter dem Dach wohnte die Lüge. Niemand konnte mit ihr wirklich warm werden. Mit allem was sie sagte, wollte sie einen Vorteil erlangen. Trotz allem akzeptierten die anderen Mitbewohner
die Lüge, sie gehörte dazu wie die Luft zum Atmen.
An schönen Sonnentagen saßen sie gemeinsam im Garten. Die Fantasie malte ein Bild in bunten Farben. Die Realität hielt das für überflüssig, die Zeit konnte besser genutzt werden. Die Farbkleckse gaben ihr nichts. Die Empathie fühlte, dass es der Fantasie gut damit ging und unterstütze sie nach Kräften. Die Lüge schmeichelte der Malerin, lobte das Ergebnis in den höchsten Tönen.
An langen dunklen Abenden hingegen erzählte die Lüge wundersame
Geschichten und alle hingen gebannt an ihren Lippen. Selbst die Realität vergaß, dass die Lüge niemals die Wahrheit sprach und hörte interessiert zu. Einzig die Empathie fühlte das Unrecht in den Erzählungen deutlich. Die Fantasie schwebte über allem. Sie lebte in ihrer eigenen Welt und konnte die Lüge nicht durchschauen.
Sie waren so unterschiedlich und doch hatten sie etwas gemeinsam, auch wenn sie abends die Wohnungstüren abschließen. Sie liebten und akzeptierten sich, eine war ohne die andere verloren.
Eines Tages saßen sie wieder gemeinsam im Garten. Die Lüge sah Wolken am Himmel, die sich verdüsterten. Es würde regnen oder stürmen, aber trotzdem schwärmte sie vom Sonnenschein und der stabilen Wetterlage. Die Realität hörte zu und dachte sich ihren Teil. Die Fantasie plante sofort ein großes Gartenfest und suchte fleißig nach exotischen Blumen und Früchten. Die Empathie hörte zu, sagte aber nichts.
Auf einmal hörten sie die Fantasie laut um Hilfe rufen. Eilig liefen sie zu ihr und erstarrten vor Schreck. Die Fantasie war einen Hang hinab gestürzt. Sie wollte eine besonders schöne Blume pflücken und hatte sich zu weit nach
vorn gebeugt. Die Drei standen oben und wussten nicht was sie machen sollten. Donnergrollen ertönte aus der Ferne. Die Sonne versteckte sich hinter dicken grauen Wolken.
Die Empathie wollte nach unten klettern, aber die Realität hielt sie davon ab. Sie würde genauso stürzen und damit wäre nichts gewonnen. Die Lüge blieb ganz ruhig. Sie rief ganz laut.
„Klettere doch hoch, dir wird nichts passieren.“
Die Fantasie fing laut zu weinen an. Sie hatte große Angst, in ihrem Kopf waren
schreckliche Bilder entstanden, so dass ihre Hände zitterten und sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.
So vergingen die Minuten und die Lage wurde immer bedrohlicher. Einzig die Realität hatte ihren klaren Kopf behalten.
„Nur gemeinsam können wir ihr helfen. Wir müssen ihr unsere Hände reichen, aber da das nicht wirklich geht, schicken wir ihr alle gedanklich Mut und Stärke. Kraft unserer Gedanken wird sie unbeschadet nach oben klettern."
So bauten sie eine Regenbogenleiter,
sprachen der Fantasie Mut zu und auf den Sprossen dieser geballten Energie konnte die Fantasie nach oben steigen. Ganz langsam Schritt für Schritt. Oben angekommen fielen sie sich in die Arme. Selbst die Lüge hatte geholfen. War sie auch oft leichtfertig, so wollte sie nicht am Verderben schuldig sein.
Die Empathie hatte über allem geschwebt und Mut aufgebaut. Sie spürte die Angst deutlich.
Schnell liefen sie nach Hause. Sie mussten sich beeilen und schafften es gerade noch rechtzeitig vor dem Unwetter. Am nächsten Morgen
beschlossen sie alles umzubauen. Aus vier Wohnungen würde eine werden. Jede hatte ihr persönliches Zimmer, sein eigenes Reich, aber im Wohnzimmer hatten sie alle gemeinsam Platz. Sie hatten in der Not erkannt, dass jedes Herz Empathie, Realität und Fantasie in sich trug. Auch die Lüge gehörte dazu.
Wenn sie das akzeptierten, stand einer lebenslangen Wohngemeinschaft nichts mehr im Wege.
©geliammann2014