Der Vorfall vor einigen Tagen war wie weggeblasen. Ich hatte ein paar Tage frei bekommen, was mir auch sicherlich gut tat. Es war ein Freitagmorgen. Markttag. Der Tag an dem man die Armut im Land am besten sah. Alle Bewohner des Landes strömten an diesem Tag in den Marktbereich im Teil der Karrori. Säuberlich getrennt von der eigentlichen Stadt der Reichen. Am heutigen Tag wurde, wie an jedem Freitag, das Essen verteilt, das eigentlich von den Käufern selbst geerntet worden war. Jedoch hatten die Karroris einzig und allein
den Anspruch auf die Ernte der jeweiligen Teile. Sie bestimmten, wie viel Geld sie dafür zahlten und dadurch auch die Armut oder den Reichtum einer Fraktion. Die Zarisma waren die Ärmsten und darum hatten sie auch kein Ansehen bei den anderen Gruppen. Sie waren wie gewöhnliche Bauern, nicht so wie die Lipafme, die auf Jagd gingen und kostbares Fleisch den Karroris bieten konnten oder die Sawarejo, die für den Fisch verantwortlich waren. Sogar die Mosumi konnten mit wertvolleren Produkten aufwarten, Obst und Früchte, aus denen man köstlichen Wein machen konnte oder einfach nur seine süße Lust stillte. Einmal einer Kaste zugeordnet, konnte man nicht mehr entfliehen. Einzige Lösung.
Gewalt, Aufstand, Tod, Morde. Genau um solche Dinge zu vermeiden, genau um diese Hierarchie, diesen Kreislauf, weiterfließen zu lassen, wurden wir Valdir eingesetzt. Zettelte wer einen Aufstand an, wurde er umgebracht. Verfolgte wer einen Plan, um eine andere Gruppe zu stürzen, wurde er umgebracht. Hörte man auch nur eine Kleinigkeit, die dazu veranlasste, dem Menschen nicht mehr zu vertrauen, dass er seiner Fraktion treu blieb, wurde er umgebracht. Nur so konnte der Frieden gewahrt werden. Ich saß auf der hohen Mauer, die den Marktteil von der Stadt trennte. Mein Haar wurde durch den leichten Wind zurück geweht
und so sah ich zu, wie die armen Bewohner durch ein Tor auf den Platz strömten. Ich wusste genau, welche Menschen zu welcher Gruppe gehörten. Innerlich fragte ich mich, warum ich überhaupt hier her gekommen war? Damit ich sah, wie es anderen schlecht ging? Damit ich mich daran amüsieren konnte, wie zerrissen ihre Kleidung war und welch schöne Robe ich anhatte? Damit ich die Familienmitglieder meiner Mordopfer und ihre traurigen Gesichter sehen konnte, weil ich wusste, dass ich mit meinen Attentaten Schuld an dieser Traurigkeit war? Langsam griff ich zu der Außentasche meiner hellbraunen Jacke. Sie war schwer und klimperte beim
Gehen. Natürlich wusste ich warum ich da war. Doch eigentlich hätten es, als Valdir, die anderen Gründe sein müssen. „Xanya! Xanya!“, rief eine kindliche weibliche Stimme nach mir. Sofort sprang ich von der Mauer, in den Teil wo das Essen verkauft wurde, duckte mich und versteckte mich hinter dem nächstgelegenen leeren Stand. Die Frage, warum nicht alle mit holzverkleideten Anrichten mit Essen aufgefüllt waren, kam mir erst gar nicht in den Sinn. Meine Gedanken füllten sich mit etwas anderem. Ich hatte meine Familie schon länger nicht mehr gesehen und war geschockt, dass meine kleine Schwester mich immer noch auf
Anhieb erkannte. Jelia war jetzt 12 Jahre alt und erst 5, als ich die Familie verlassen hatte, um das Training bei den Valdirs zu starten. Von meinem Beruf wussten sie nichts. Ich musste ohne irgendeinen Abschied, Zarisma bei Nacht auf der Stelle verlassen. „Xanya?“, die großen braunen Rehaugen sahen um die Ecke des Standes. „Verschwinde!“, befahl ich ihr sofort ohne sie auch nur anzublicken. Ich wusste nicht was ich hier tat und auf der Stelle kam mir mein Vorhaben sofort falsch vor. Eine Valdir half den armen Menschen nicht. Eine Valdir dachte nicht an die Familie und eine Valdir hatte keine Freunde. „Du hast auf uns gewartet. Ich hab deinen Blick durch die Menge schweifen sehen“,
redete Jelia trotzdem weiter und ich war so überwältigt von ihrer Intelligenz und ihrem Mut. „Ich dürfte nicht hier sein“, erwiderte ich nur. „Dich wird keiner sehen. Hier sind wir geschützt.“ Ich belächelte ihre Aussage. Es war töricht, dass sie das glaubte. Jelia kam näher auf mich zu, was mich veranlasste sie scharf anzusehen. Meine Augen verengten sich und das Smaragd fing an zu Funkeln. Ich unterdrückte meinen Instinkt sie anzufallen und sie zu verletzten. „Komm nicht näher!“, fauchte ich sofort, um sie vor mir zu schützen. „Warum nicht? Ich habe dich schon lange
nicht mehr gesehen“, verstand sie meinen Einwand nicht, „Hast du uns nicht vermisst?“ „Nein!“, kam es direkt aus meinen Mund. Sie blieb stehen. Ich sah wie Tränen in ihren Augen hochstiegen. Ich war ihr Vorbild gewesen, als ich noch zu Hause war. Ich war ihre große Schwester, die sie vor alles beschützt hatte und jetzt war ich eiskalt. Fern von allen geschwisterlichen Emotionen. Sie unterdrückte ein Schluchzen und blieb stark. Das bewunderte ich. „Uns wird es schon bald besser gehen, Xanya. Koro sorgt dafür. Er hat schon Pläne, wie wir…“ „Schweig!“, unterbrach ich ihren Redewall. Ich konnte es nicht. Ich konnte ihr nicht zu hören, wie sie von zu Hause berichtete. Wie
sie unseren Bruder Koro erwähnte, der 3 Jahre älter war als ich und dem das Privileg ein Valdir zu werden, nicht gestatten worden war. Gahoff hatte mir das von seinem Antrag bei den Auftragsmördern erzählt. Warum er nicht genommen worden war, war für mich noch immer ein Rätsel. „Du bist so anders“, entgegnete meine kleine Schwester mir leise. „Ich bin böse, Jelia!“ „Das bist du nicht!“ „Doch, das bin ich! Ich mache Dinge, die… Nein. Ich will Dinge machen, die man nicht für gut hält. Es liegt in meiner Bestimmung“, erklärte ich ihr und wusste genau, dass sie es nicht verstehen würde. Niemand verstand, dass man das Bedürfnis
hatte, jemanden zu verletzten oder sogar zu töten. Dass man Blut liebte und dafür alles tat, um es fließen zu sehen. Ich war böse und ich liebte es. „Ist Mutter auch da?“, wollte ich die Unterhaltung wieder auf einen anderen Punkt steuern und griff automatisch zu meiner Jackentasche. „Ja, sie stellt sich schon an der Gemüsereihe an“, antwortete Jelia mir. Sie blickte zur Seite und lehnte sich an dem Holz des Standes an. Ich hatte auch die Mauer vor uns im Visier. Irgendwie wollte ich, dass ich meine Mutter sah, doch im gleichen Moment kam in mir dieses Egal-Gefühl wieder hoch. „Habt ihr viel geerntet?“, blieb ich bei dem
Smalltalk. „Die Dürre macht uns zu schaffen. Wir haben nicht genug Wasser, dass wir die ganzen Felder hätten bewässern können und darum haben wir diesmal auch sehr viel weniger Geld für unsere Arbeit bekommen. Mutter macht sich sorgen, dass wir nicht genug haben, um Essen für die ganze Woche zu kaufen. Schon wieder“, erzählte meine Schwester einfach aus dem Bauch heraus. „Schon wieder?“, dieses Gefühl, dass man Mitgefühl nannte, brannte in meiner Magengegend. Ich hasste es so zu fühlen und schüttelte heftig meinen Kopf, um es los zu werden. „Schon die Woche davor hatten wir damit kämpfen
müssen.“ Das wurde mir alles zu viel. Es war genug, was ich über meine Familie gehört hatte. Normalerweise sollte ich gar nichts wissen, sollte ich mich gar nicht interessieren. Ruckartig steckte ich meine Hand in die Jackentasche und holte ein Bündel voller Geld hervor. Ich schmiss es Jelia vor die Füße. „Nimm!“, forderte ich sie auf. „Nur vom hinsehen, weiß ich, dass das viel zu viel ist. Es wird ihnen auffallen.“ Sie hatte Recht. Wenn sie mit zu viel Essen zu Hause ankommen würden, würden sie überfallen werden, vielleicht sogar getötet. Auch wenn ich kurz darüber nachdachte, war es mir im Endeffekt egal. Ich tat was Gutes
und es machte mich fertig. Vielleicht war ein Tod durch meine Hilfsbereitschaft genau der passende Ausgleich. „Du bist intelligent, dir wird schon etwas einfallen!“, sagte ich zum Abschluss, hüpfte auf die Mauer und verschwand auf die andere Seite.