Das Paket
Es war dunkel im Zimmer. Nur der Schein einer dicken Kerze schenkte der Nacht ein kleines Licht. Kerzenwachs tropfte langsam aber stetig die bauchige Glasflasche entlang, welche der Lichtquelle als Ständer diente.
Plötzlich hellwach schlug Sabine die Augen auf. Schweißgebadet warf sie mit nervöser Hand die Bettdecke zur Seite und legte die andere aufs Herz. Sabine spürte ihren Puls bis zum Hals schlagen. Der Überdruck im Körper fühlte sich äußerst unangenehm an. Mit Erschrecken stelle sie fest, dass sie nach Luft ringend zu schnell einatmete und dabei das Ausatmen schwer fiel. „Nicht schon wieder“, schoss es ihr durch den Kopf,
während sie sich aufsetzte. Ein kurzer Blick auf den Wecker bestätigte ihre Befürchtung; es war erst ein Uhr nachts. Mit der freien Hand tastete sie fahrig die Nachttisch-schublade nach der kleinen Tüte ab. Als Sabine die Folie zwischen den Fingern spürte, hob sie es heraus, faltete das Tütchen auf und hielt sie mit beiden Händen geöffnet vor ihr Gesicht. Nun musste sie sich konzentrieren: Einatmen, ausatmen, ein- atmen und ausatmen. Nach einer Weile entspannte sich ihre Atmung und nebelgleich legte sich auf jeden Teil ihres Körpers eine wohltuende Decke der Beruhigung. Sabine hasste diese nächtlichen Anfälle von Hyper-ventilation, denn sie raubten ihr sämtliche Kraft. Vorsichtig kletterte sie aus ihrem Bett,
öffnete das kleine Fenster, schlurfte lang- samen Schrittes zum Bad und in die Küche, um dann mit einem Glas Tee zurück zu kommen. Bevor sie sich erneut schlafen legte, setzte sie sich wie üblich auf die Bett- kante, trank etwas vom heißen Tee und betete. Sie bat den lieben Gott, ihr zu helfen, dass sie wieder zur Ruhe kommen und durch-schlafen möge. Sie flehte ihn an, er möge ihr Kraft schenken, damit sie am kommenden Tag gestärkt und ausgeruht zur anberaumten Sitzung mit führenden Entscheidungsträgern der Regionalagentur erscheinen könnte. „Bitte!“, flüsterte sie in die Nacht hinein. Sabine kroch schnell unter die noch warme Bettdecke, positionierte ihre Hände auf der Brust und achtete auf eine langsame und
stetige Atmung.
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„Die derzeitige allgemeine Wirtschaftslage verlangt von uns Verantwortlichen effektive Maßnahmen zur Eingliederung der Arbeits- losen in den ersten Arbeitsmarkt. Wir müssen uns der schwierigen Herausforderung stellen und neue Konzepte installieren, um erfolg- reich Einfluss auf die überaus schwierige Lage zu nehmen. Also haben wir ein aus- gefeiltes Maßnahmen-Paket geschnürt, um die Zahl der Antragssteller deutlich zu reduzieren und die Kommunen erheblich finanziell zu entlasten. Ich freue mich also sehr, ihnen mitteilen zu können, dass es uns,
wie ich glaube, gelungen ist, eine für alle Beteiligten moderate Strategie zu entwickeln. Mit dem Titel „Erfolgreich zum neuen Job – moderne Bewerbungshilfe“ ist uns ein inter-disziplinäres, äußerst effektives Paket mit verschiedenen Maßnahmen für positive Veränderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt gelungen. Es wird Arbeitslose nachhaltig auf dem ersten Arbeitsmarkt integrieren und neben der Kostensenkung auch das Arbeits-volumen unserer Mitarbeiter wesentlich reduzieren.“
Oberamtsrat Dr. h.c. von Sepia stand bereits eine dreiviertel Stunde hinter dem Redner- pult. Seinem Vortrag über kommende Änderungen im Rahmen der Durchführung des SGBII Gesetzes lauschten interne
Mitarbeiter der ERGA aus verschiedenen Regionen. Doch leider waren die Aussagen von Oberamtsrat Dr. h.c. von Sepia bislang nur Zweideutig. Als Leiter der über- regionalen Agentur hatte er zwar sehr viel gesagt, aber noch immer keine konkreten Durchführungsanweisungen zum neuen Projekt von sich gegeben.
Es war nicht die erste Sitzung dieser Art, an welcher Sabine teilnahm. Nachdem sie viele Jahre lang erfolgreich als Coach und Fall- manager für ihren Arbeitgeber tätig war, hatte man sie zur Gruppenleiterin ernannt. Somit hatte sich vor ca. einem Jahr ihr Auf- gabengebiet enorm erweitert, eben auch um die enge Zusammenarbeit mit vorgesetzten
Entscheidungsträgern. Ungeachtet dessen war sie heilfroh, dass auch ihre Kollegin, langjährig als Gruppenleiterin geübt, an- wesend war. Einige der anderen im Sitzungs- saal anwesenden Frauen kannte Sabine bereits: ihre Abteilungsleiterin und die Zweigstellenleiterin ihrer örtlichen ERGA Filiale. Außerdem eine weitere Abteilungs-leiterin und zwei Kolleginnen aus einer anderen Kommune. Die Anderen kannte sie nicht. Sabine fiel auf, dass Oberamtsrat Dr. h.c. von Sepia offensichtlich `Hahn im Korb` war, denn um den Konferenztisch herum saßen nur Frauen. Sie fragte sich, woran es liegen mochte, dass der Vortrag so ewig lange dauerte? Warum kam er nicht zur Sache? Hatte es mit seiner Begeisterung, mit
einem ausgeprägten Geltungsbewusstsein oder vielleicht doch mit einem unter-schwelligen Bedürfnis der Rechtfertigung zu tun? Sollte Letzteres der Fall sein, würde sie ihm zu gerne einen Wink der Skepsis gegen- über dem, ach so herrlich geschnürten, neuen Maßnahmen-Paket geben. Das jedoch würde das Ende ihres Jobs bedeuten, ganz gleich, was ihre Vorgesetzte denken würde.
Allmählich wurde es unruhig im Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kon- ferenztisches wurden flüsternde Stimmen laut. Die Zweigstellenleiterin schob ihre Papiere und Unterlagen zusammen, drapierte auffällig den Füllfederhalter obenauf und
verschränkte die Arme vor der Brust. Direkt neben Sabine hantierte ihre Kollegin Marion umständlich mit der Aktentasche, um ein Taschentuch hervor zu holen und sich lautstark die Nase zu schneuzen.
Da endlich konnte Oberamtsrat Dr. h.c. von Sepia die allgemeine Unruhe nicht mehr ignorieren und verkündete: „Meine verehrten Damen, bevor wir also zum nächsten Tages-ordnungspunkt übergehen, legen wir jetzt eine Mittagspause ein. Bitte seien sie im Interesse eines reibungslosen Sitzungsver- laufs pünktlich in einer Stunde wieder an ihren Plätzen! Vielen Dank! Nach der Pause wird dann meine Kollegin Amtsrätin de Temp im Einzelnen auf die konkreten Aspekte des
neuen Maßnahmen-Pakets eingehen und ihnen die jeweiligen anstehenden Schritte zur Durchführung erläutern. Ich wünsche ihnen eine schöne Pause!“ Die Mehrheit der Sitzungsteilnehmer erhob sich zügig von ihren Plätzen. Die Ersten stießen laut alle Türflügel auf und hakten diese am Fest- steller ein, um der frischen Luft Einlass zu gewähren. Einige Wenige verblieben im Saal und tuschelten über das zu Beginn der Besprechung ausgeteilte Handout. Sabine verließ in Begleitung von Marion den Saal.
Zwei Etagen tiefer entdeckten sie vor der Kantine das Ankündigungsschild, auf dem stand: „Mittagsmenü HEUTE: Linsenbratlinge an Kerbelschaum mit Radieschensprossen
und Rapunzelsalat in Rote Bete Kartoffel Dressing - zum Dessert: Vanilleflan an Rhabarberkompott, Erdbeerspalten und frische Minze“.
Marion schaute Sabine an. „Na, das nenne ich mal ein vorzügliches Menü. So langatmig wie die Besprechungen immer sind, aber der Koch hier ist wirklich genial. Da lohnt sich so ein Tag wie heute doch!“ Freundschaftlich stupste sie Sabine ermutigend an und reihte sich in die Schlange vor der Ausgabestation. Sabine mochte zwar keine Erdbeeren, doch ansonsten las sich das Mittagsmenü sehr vielversprechend. Mit ihren Tabletts in den Händen suchten sich die beiden Frauen einen netten Platz am Fenster. Während Sabine sich ein Stück vom Linsenbratling
abschnitt, begann Marion das Gespräch. „Ich muss schon sagen, der Herr von Sepia macht es heute aber besonders spannend. Ich befürchte, dass bedeutet nichts Gutes für uns. Na ja, warten wir es ab! Sabine, wie läuft es denn in deiner Gruppe?“ Dezent nahm sie sich eine Messerspitze vom Kerbelschaum. Sabine kaute ihren Bissen zu Ende. „Na ja, insgesamt läuft es ganz gut. Leider war es schwieriger als gedacht, die neue Mitarbeite- rin einzuarbeiten. Ich glaube aber, inzwischen hat sie sich damit arrangiert, dass manche Kunden tatsächlich sehr schwierig sind.“ „Wie sind denn die Kunden in deiner Gruppe so drauf? Können sie den Maßnahmen deiner Abteilung etwas Positives abgewinnen?“, fragte Marion. Sabine schluckte den Bissen
schnell herunter. „Ach, weiß du, manchmal habe ich den Eindruck, sie wollen sich ein- fach nicht helfen lassen! Ein Mann mittleren Alters zum Beispiel, für den ich zuständig bin, gibt mir permanent zu verstehen, dass unsere Angebote überflüssig seien. Und das, obwohl ich nach tagelangen Telefonaten mit allen umliegenden Firmen sogar einen ganz passablen Probearbeitsplatz für ihn ge- funden hatte!“ Marion sah Sabine fragend an. „Warum `hatte`? Hat der Arbeitgeber einen Rückzieher gemacht?“ Die Erregung war ihrer Mitarbeiterin förmlich anzusehen, und beinahe hätte sich Sabine an einer Sprosse verschluckt. „Nein! Der Mann hat sich einfach kurzerhand krank schreiben lassen, direkt am ersten Tag! Was soll ich
denn da dem Arbeitgeber sagen?!“ Ärgerlich schob Sabine den Hauptspeisenteller bei- seite und widmete sich dem Nachtisch. Zielsicher spießte sie die Erdbeerstücke mit der Gabel auf und deponierte sie auf dem halbvollen Teller. Dann kostete sie vom Vanilleflan. „Aber Sabine, dass kennen wir doch schon! Manche Leute wollen eben nicht arbeiten!“, ihre Kollegin war um Beschwichti- gung bemüht. „Wir haben es doch in den letzten Jahren immer wieder erlebt, da kann man eben außer Sanktionen nichts machen!“ Während Marion nun auch vom Dessert löffelte, entgegnete Sabine; „Ja natürlich. Aber mal ehrlich! Fragst du dich nicht auch manchmal, ob sie es auch tun würden, wenn es sich um einen festen unbefristeten
Arbeitsplatz handeln würde?!“ Sabine hatte gerade ihre Frage beendet, als die Ab- teilungsleiterin mit geschlossener Faust auf den Tisch klopfte und zum Aufbruch mahnte.
Zurück im Sitzungssaal nahmen alle Betei-ligten wieder ihre Plätze rund um den großen Konferenztisch ein. Amtsrätin de Temp ver- teilte ein weiteres Skript, während Oberamts- rat Dr. h.c. von Sepia die Anwesenden da- rüber informierte, dass die verbliebene Zeit von seiner Kollegin moderiert werden würde, da er selbst noch auswärtige Termine wahr- zunehmen hätte. Er verabschiedete sich überschwänglich und wünschte einen guten Tag.
„Meine sehr geehrten Damen, wie sie ja
bereits wissen, ist mir aufgetragen worden, ihnen das neue Maßnahmen-Paket und die entsprechenden Anordnungen zur Durch-führung vorzustellen. Letztendliches Ziel ist es, die Zahl der Antragssteller auf Leistun- gen nach dem Sozialgesetzbuch II zu re- duzieren. Das neue Paket bedeutet für sie als Mitarbeiter einen wesentlich strengeren und konsequenteren Umgang mit jeglicher Art von Verstoß gegen die gesetzlich ver- ankerte Mitwirkungspflicht im Rahmen des bestehenden SGBII Gesetzes als bisher.“
Sabine und Marion sahen sich an. Ohne eine Miene zu verziehen, wusste jede, was die jeweils andere gerade dachte.
„Die Genialität des neuen Projektes besteht darin, dass antragswillige Personen bereits
vor Antragsannahme und dessen Bearbei- tung, direkt ab dem kommenden Werktag eine mehrtägige Maßnahme für Bewerbungs-management zu absolvieren haben! Hiervon lassen sich bereits die ersten Antragssteller abschrecken und verfolgen den Antrag nicht weiter. Für diejenigen antragswilligen Per- sonen, welche der Teilnahme am Bewer-bungsprojekt Mithilfe der Eingliederungs-vereinbarung zustimmen, gilt dann Folgendes: Wer nicht pünktlich, regelmäßig, aktiv oder erfolgreich teilnimmt oder teil- genommen hat, dessen Antrag wird dementsprechend mit dem Verweis auf fehlende Mitwirkungspflicht verzögert bearbeitet und / oder die Leistungen wegen Sanktionen entsprechend
reduziert.“
Mit den letzten Worten der Amtsrätin machte sich eine merkwürdige Stille im Saal breit. Der überwiegende Teil der Zuhörerschaft schaute mit fassungslosem Blick über das Rednerpult hinweg. Einige Frauen schenkten der Rednerin zustimmendes Kopfnicken.
„Oberamtsrat von Sepia und die Mitarbeiter meiner Abteilung für Maßnahmeentwicklung gehen davon aus, dass wir die Erfolge des neuen Projekts bereits im Laufe der ersten vier Monate verzeichnen können. Selbst-verständlich ist jeder für dieses Projekt tätige Mitarbeiter angewiesen, sich strickt an diese Vorschriften zu halten. Es ist dringend notwendig, dass jeder minimale Verstoß eines Antragsstellers dokumentiert und mit-
einander kommuniziert wird, damit das neue Maßnahmen-Paket ein Erfolg wird. Gibt es hierzu noch Fragen?“
Fast zeitgleich mit einigen Sitznachbarinnen schüttelte Sabine den Kopf. Für sie gab es keine Fragen mehr. Die Abteilungsleiterin nahm ihre Unterlagen in die Hand und hob samt den Papieren ihren Arm. „Ich hätte da noch eine Frage! Mich interessiert, wann genau das Projekt starten soll?“ Allmählich wurde es laut im Sitzungssaal. Einige Teil- nehmerinnen hoben ihre Stifte auf, um offensichtlich das Datum zu notieren. Rund- herum jedoch packten andere schon unruhig ihre Sachen zusammen.
„Der Beginn ist auf den fünfzehnten des kommenden Monats festgelegt. Sie sollten
sich innerhalb ihrer Teams kurzfristig zu- sammensetzen, um alle an der Maßnahme Mitwirkenden einzuweisen. Weitere Infor- mationen entnehmen sie bitte den ausge-händigten Unterlagen. Sollten sie dann doch noch Fragen haben, können sie mich jederzeit anrufen. Ich wünsche uns allen viel Erfolg!“
*****
An diesem Tag kam Sabine erst spät abends von der Arbeit nach Hause. Nachdem sie sich ihrer Bürokleidung entledigt und lange ge- duscht hatte, fühlte sie sich allmählich wieder besser. Der Tag war sehr anstrengend gewesen. Nach der Besprechung war sie zum
Büro gefahren. Dort hatte sie zunächst einen Gesprächstermin mit einem ihrer Kunden wahrgenommen. Danach hatte sie eine kurze Sitzung mit den Mitarbeitern ihrer Gruppe abgehalten. Natürlich hatte sich Keiner für das neue Paket begeistern können. „Endlich Feierabend“, dachte Sabine, während sie sich einen warmen Tee machte, die dicke Kerze auf der bauchigen Glasflasche anzündete und sich mit ihrem Schreibbüch- lein und ihrem Lieblingsstift auf das weiche Bett setzte. Genüsslich lehnte sie sich gegen die mit einem dicken Kissen gepolsterte Rückwand. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Einer inneren Eingebung folgend nahm sie den Stift und kritzelte etwas in das kleine Büchlein. Nach einer langen
Weile und vielen Schlückchen Tee war ihr kurzer Text fertig. Sie legte alle Utensilien auf den Nachttisch, setzte sich wie üblich auf die Bettkante und betete. Sie bat den lieben Gott, er möge ihr helfen, ihren Job so gut wie möglich zu machen. Weiter flehte sie ihn an, er möge Wunder geschehen lassen und Lügen mit Wahrheit strafen. Danach knipste sie die Nachttischlampe aus und kuschelte sich unter die warme Bettdecke.
Auf dem Nachttisch konnte man im Schreibbüchlein lesen:
Dies ist mein Beitrag zum 32. Forumsbattle.
Das Thema ist: „Die Lüge“
mit folgenden vorgegebenen Wörtern:
Hahn
Feder
Linse
Sepia
Flügel
Schein
Erregung
Überdruck
Wirtschaft
Zweideutig
Kerzenwachs
Fallschirmseide
**An dieser Stelle möchte ich der Jury des 32. Forumbattles für die Mühe und den Einsatz DANKEN.**
Gabriele Busch