Ich bin aufgeregt an diesem Februarmorgen, unglaublich aufgeregt, richtig kribbelig.
Meine Unruhe überträgt sich auf meine kleine Tochter, die an meiner Hand hin- und her hopst, sich auf Zehenspitzen stellt, um besser zusehen, doch es heißt noch warten.
Meine Gedanken eilen voraus, schlagen Purzelbäume, wandern dann wieder Jahre zurück.
Mein indischer Brieffreund wird mich nicht begrüßen, heute, da ich zum ersten Mal indischen Boden betrete. Wie viele Jahre haben wir uns geschrieben? Während meiner Oberschulzeit trafen aller 6 Wochen die dünnen Briefe mit den bunten Marken ein, auf
die ich ungeduldig wartete. Auch während des Studiums schrieben wir uns häufig. Er wohnte im Bundesstaat Tamil Nadu, ganz im Süden des Subkontinents, studierte Botanik und leitete die Studentenbewegung seiner Uni. Mehrere Male lud er mich ein, war er doch mit einem deutschen Mädchen auf einem kleinen See in der Nähe seines Heimatdorfes gerudert. Wie sollte ich ihm erklären, dass dies jetzt nicht möglich sei, da ich es ja selbst nicht verstand. Vielleicht später einmal, so wie Horst, mein Englischlehrer, wenn ich auch den richtigen Beruf hätte. Als in Tamil Nadu Unruhen ausbrachen, endete auch unser Briefwechsel.
Nun stehe ich also in Mumbai, dem früheren Bombay.
Mumbai und Horst er war meine erste große Liebe. Andere 17 jährige finden die Jungs aus der Parallelklasse süß, sie schwärmen von Schauspielern und Rocksängern. Von Lehrern seltener. Ich war so verliebt, dass ich
innerhalb kürzester Zeit von einer mittelmäßig begabten Schülerin im Fach Englisch zur Klassenbesten mutierte.
Mittlerweile hatte ich die 18 erreicht und ganz nebenbei festgestellt, dass unsere Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Und er pflanzte eine fast schmerzlich Sehnsucht nach Indien in mich.
Horsts Unterricht war indes einmalig. „Kommt, macht schnell mit, die alberne Grammatik muss sein“, forderte er uns auf, „dann erzähl ich euch wieder was.“ Er war 4 Jahre an verschiedenen Schulen in Bombay, Kalkutta und Delhi Deutschlehrer gewesen.
Schnell warf er uns 10,12 unbekannte Vokabeln an die Tafel und entführte uns mit seinen Erlebnissen und Geschichten ins ferne
Indien, dem Land der 1000 Gegensätze. Gebannt hingen wir an seinen Lippen, um nur ja kein Detail zu verpassen. Und so ritten wir auf Elefanten am Fuße des Himalaja, sahen in der Ferne den Mount Everest, lernten Bollywood und seine Filme kennen, beobachteten einen Fakir, der seinen Herzschlag auf ein viertel reduzierte, hörten alte Grammofonplatten mit Originalmusik des Vielvölkerstaates, erlernten die schwere Kunst des Teppichknüpfens oder waren bei Leichenverbrennungen dabei. Jede Schulstunde ein Abenteuer. Noch nach Jahren bei Klassentreffen waren wir uns einig, nie haben wir besser gelernt.
Die Veränderungen im Herbst 1989 brachten ihm das sofortige „aus“ als Lehrer. Wer in
Indien lehren durfte galt als zu staatsnah. Da halfen auch keine Proteste der Schüler und Eltern. So nahm mit 55 Jahren einer von seinem Beruf Abschied, der ihm mehr Berufung denn Arbeit war.
Uns beide verband jedenfalls über Jahre eine feste Freundschaft. „Ich pass auf dich auf“, hatte er mir versprochen, als ich zum Studium ging. Als an einem Sonnabend das Telefon klingelte und ich von seinem viel zu frühen Tod erfuhr, schien für einen Moment die Erde stillzustehen.
Nun stehe ich hier, am Gate of India, jenem Tor, durch das der Prince of Walse 1911 Bombay betrat, seitdem Wahrzeichen der Stadt, und von dem Horst auch berichtete. Bombay, auf Sümpfen errichtet, beherbergt heute 18 Millionen Einwohner und täglich kommen 250 Familien dazu, 60.000 Menschen im Monat. Es ist eine der
bedeutendsten Städte Indiens.
1996 erhielt es wieder seinen alten Namen MUMBAI.
Wir kommen an drei gewaltigen, auffälligen Hochhäusern vorbei, ja , auch sie sind mir bekannt. Die Parsen, jenes Volk, das die Erbauer von Mumbai wegen ihrer hohen handwerklichen und künstlerischen Fertigkeiten holten, dürfen ihre Toten weder verbrennen noch in der Erde bestatten. Sie schaffen sie auf die Dächer der drei Häuser und die Geier vollenden dann das Werk
Zur Mittagszeit halten wir vor dem 5-Sterne-Hotel Tai Mahal. Zwar bietet die angenehme Kühle der Klimaanlagen im Inneren eine willkommene Auszeit zur feuchten Hitze, die jetzt unbarmherzig auf die Lungen drückt und fast den Atem verschlägt. Doch dieser Anblick von Gold und Halbedelsteinen an den Wänden, die kostbaren Teppiche auf dem
Fußboden lassen den Gegensatz zur Vielzahl der bettelnden Kinder davor noch viel krasser spürbar werden. Jahre später werden die Bilder des Hotels als Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen um die ganze Welt gehen.
Den bettelnden Kindern kann man kaum ausweichen, sie bedrängen die Touristen,
verfolgen sie. Krampfhaft halte ich meine Jüngste fest. Es zieht mir das Herz zusammen. In der Handtasche sind Bonbons für Maria, auch einige Dollarscheine. Doch ich weiß schon von Horst, dass ich nichts geben darf. Auch der Dolmetscher weist darauf hin, nichts geben, auch, wenn es noch so schwer fällt. Man kann Indiens Millionen Bettlern nicht allein helfen.
Der Dolmetscher zeigt auf die Villen des vornehmen Indiens, von außen heruntergekommene Häuser. Der Reichtum erschließt sich erst im Inneren, keiner darf es wissen.
Plötzlich stehen wir vor der Schule, an der Horst deutsch unterrichtete. Schulkinder in blau-weißer Schulkleidung begrüßen uns scheu. Ich frage einen älteren Herrn, ob er sich etwa an den deutschen Lehrer erinnert. Unbekannt sei ihm der Name nicht. Ist es Höflichkeit dem Gast gegenüber oder wirkliche Erinnerung? Egal. Er hat sicher
Spuren hinterlassen.
Wir begegnen einem Schlangenbeschwörer, der eine Kobra aus seinem Korb hervorlockt. Neben ihm, auf einem Rollbrett sitzt ein dunkelhäutiger Mann ohne Beine. Seine Augen blicken starr geradeaus. Er nimmt die Touristen nicht wahr. Eine Frau steckt ihm eine Tüte Erdnüsse zu, er bedankt sich nicht, vielleicht ist er schon im Nirvana.
In einem wunderschönen Park kommt das anstrengend quirlige Mumbai, dessen achtspurige Straßen fast immer verstopft sind, zur Ruhe. Eltern und ihre Kinder spielen hier in einem überdimensionalen Stiefelhaus. Die meisten Sträucher sind zu Skulpturen geschnitten.
Meine Tochter verfällt wieder in dieses eigenartige Trippeln. Sie muss zur Toilette, wo sollen wir bloß hin? Hinter einen Strauch? Ziemlich durchsichtig, und … ob in Indien so etwas gestattet ist? All die Bücher, die ich über Indien las, beschrieben das Toilettenproblem nicht.
Am Ende des Parks finde ich endlich eine stinkende Latrine, egal, da muss sie jetzt durch.
Ein junger Mann tritt uns entgegen, sehr dunkle Haut, pechschwarze Augen, orangefarbener Arbeitsanzug. Er ist der Latrinenwärter. Als ich ihn ansehe senkt er den Blick. Er sieht hübsch aus, eigentlich intelligent mit hoher Stirn und ernstem fragendem Blick. Doch ich weiß, er gehört zur
Kaste der Unberührbaren., ausgestoßen aus der Gesellschaft. Einer jener Menschen, die gerade noch gut genug sind, derartige Arbeiten zu verrichten. Läge er morgen am Straßenrand, jeder würde über ihn hinwegsteigen wie über ein weggeworfenes Bündel Müll. Er wird nie eine Chance bekommen.
Mir fehlen die Rupien, ich besitze nur einen Dollar, den ich ihm gebe. Auf Wechselgeld warte ich natürlich vergeblich. Gut so, dieser Dollar ermöglicht es ihm sicher, ein oder zwei Tage weiter zu leben. Von den täglich 250 ankommenden Familien in Mumbai gehören nicht wenige zur untersten Kaste. Sie alle leben auf der Straße.
Gandhis Wohnhaus bildet den Abschluss und
Höhepunkt meines Streifzuges durch diese Stadt.Hier begann auch sein Wirken als Anwalt. Und was wäre Indien ohne diesen wunderbaren Mann.
Mumbai, das war nur ein Splitter von Indien, einem Land zwischen Gestern und Übermorgen. Ich durfte einen Hauch davon
spüren an einem einzigen Tag. Ich bin dankbar dafür, doch die Sehnsucht ist geblieben.