Ich fand ihn auf dem Bürgesteig vor, wo er mit halb geschlossenen Augen in sich zusammengesunken lag. Wahrscheinlich war er so sediert, dass er mich nicht einmal bemerkte. Neben ihm lag eine kleine Tasche, in der sich wohl alles befand, was er noch besaß. Ohne groß zu überlegen las ich ihn vom Boden auf, hing mir seine Tasche um die Schulter und machte mich mit ihm auf den Weg nach Hause. Während ich ging, gab er von Zeit zu Zeit ein paar Laute von sich, die ich versuchte zu ignorieren. Ich kam vorbei an einer Bank auf der zwei alte Herren saßen und sich unterhielten; als sie mich kommen sahen, unterbrachen sie ihr Gespräch und musterten mich interessiert. "Wo haben sie den denn aufgegabelt?", fragte der dickere der Beiden. "Hab' ihn gefunden, lag auf dem Bürgersteig", antwortete ich, blieb stehen und legte mein Fundstück auf den Boden, um einen Moment lang zu verschnaufen. "Na, sehr munter wirkt der ja nicht", sagte der Andere. Ich setze mich zu den
Herren auf die Bank. "Ne, das stimmt. Hab' versucht ihn aufzuwecken, aber er hat nich' drauf reagiert." Der Dicke runzelte die Stirn. "Jaja, so is' das oft mit denen. Wird sicher nich' einfach, den wieder aufzupäppeln." Irgendwo in der Ferne hupte ein Auto. "Glaub' auch. Aber man kann's ja versuchen.", sagte ich. Der dünnere der Beiden nickte während er auf den Boden starrte. Nach einer Weile, in der keiner ein Wort sprach, stand ich auf, nahm mein Gepäck und verabschiedete mich. Die Sonne begann bereits unterzugehen obwohl es erst früh am Abend war und ich beeilte mich, nach Hause zu kommen, um rechtzeitig zum Abendessen zu erscheinen, das meine Frau sicher schon fertig hatte. Als ich die Haustür aufschloss, konnte ich schon das Essen riechen; es roch nach gebratenem Fleisch und ich bemerkte, wie hungrig ich war. "Da bist du ja endlich", sagte meine Frau als ich eintrat und betrachtete, was ich mitgebracht hatte. Ich legte ihn auf den Boden, behutsam, um keinen Schaden
anzurichten, sagte "Ja, da bin ich.", und zog meine Jacke und meine Schuhe aus. Meine Frau hob die Augenbrauen. "Immer schleppst du irgendwas an. Musst wohl einen Helferkomplex haben." Ich lächelte. "Vielleicht. Aber konnt' ihn doch nicht da liegen lassen. Was gibt's zu essen? Riecht gut.", "Rumpsteak, mit Kartoffeln." Das Essen wurde serviert und ich aß ; es schmeckte genauso gut, wie es roch. Als ich, satt wie ich war, zum Abschluss eine Zigarette anzünden wollte, tippte meine Frau mir an die Schulter, sagte, "Du, was machen wir mit nun mit ihm? Er wird doch sicher auch Hunger haben", worauf ich erwiderte, dass sie ihm die Flasche mit Milch geben solle, zündetete meine Zigarette an und bließ den Rauch ins Zimmer. Sie setzte sich zu ihm auf den Boden und gab ihm die Flasche; sofort nuckelte er begierig, rülpste, und jammerte als sie die Flasche wieder wegnahm und sagte, "Nana, nicht so gierig."; sie setzte die Flasche erneut an, nun konnte er sich mäßigen, und sie
blickte lächelnd zu mir auf. Ich stellte das Radio an und laute Musik dröhnte aus dem Lautsprecher; "Psst!" machte meine Frau und ich drehte eilig am Lautstärkeregler. Draußen war es bereits dunkel geworden und ich war müde, wie immer nach einem guten Essen. "Sollen wir ihm nicht einen Namen geben?" fragte sie. Gute Idee, dachte ich, doch sagte nichts. Nach einer Weile erhob ich mich, ging durch das Zimmer, die Hände auf dem Rücken verschränkt, blieb stehen und sah sie an. "Wie wär's mit Peppi?", "Ne, das passt nicht. Ich dachte eher an sowas wie Pieksi." Die Musik dudelte leise im Hintergrund. "Ja, Pieksi ist gut", sagte ich. Meine Frau stand auf, strich ihren Rock glatt und legte die Stirn in Falten. "Wo wird er heute Nacht schlafen?", fragte sie, und ich antwortete, dass wir ihn wohl erstmal auf dem Boden liegen lassen sollten, weglaufen würde er schon nicht, woraufhin sie nickte. Ich schaltete das Radio aus, löschte das Licht und wir gingen zu Bett.
Am nächsten Morgen betrat ich die Wohnstube und sah, dass Pieksi nicht mehr an seinem Platz lag. Zuerst befürchtete ich, er sei wohl doch ausgebüchst, doch dann sah ich ihn; er hatte sich unter den Tisch gekauert der an der Wand stand und blickte ängstlich von dort unten zu mir auf. "Pieksi", rief ich sinnlos, er verstand mich ja doch nicht, und versuchte, ihn unter dem Tisch hervorzulocken. Doch statt zu mir zu kommen, kauerte er sich noch tiefer unter den Tisch. Ich überlegte kurz und nahm dann einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch und hielt ihn ihm hin; Pieksi starrte ihn an und blickte dann fragend zu mir auf. Ich lächelte ihm zu; "Ein leckerer Apfel", sagte ich mit sanfter Stimme, legte den ihn vor mir auf den Boden und machte ein paar Schritte zurück. Pieksis Neugier schien nun entfacht; vorsichtig wagte er sich ein kleines Stück vor, blickte immer wieder ängstlich hoch, kroch dann noch ein Stück weiter und beschnupperte das Geschenk. Seine Scheu legte
sich langsam, wie ich erleichtert bemerkte. Eilig ging ich zu meiner Frau ins Schlafzimmer, weckte sie, und erzählte ihr, dass Pieksi Fortschritte machte, woraufhin sie nur gähnte, und mich darum bat, sie doch bitte noch ein Stündchen schlafen zu lassen. "Ja ja, ist schon recht, ich freute mich ja nur", sagte ich und trat aus dem Zimmer. Gegen Mittag klingelte es an der Tür und mir fiel ein, dass wir heute ja Besuch erwarteten, was ich im Trubel der Ereignisse ganz vergessen hatte. Als ich öffnete, grüßte mich mein Bruder und trat ein; bei ihm war sein Hund, ein Mischling, der noch jung und sehr verspielt war. "Fast hatte ich vergessen, dass du heute kommen wolltest.", sagte ich nachdem ich seinen Gruß erwiderte und kniete mich nieder, um den Hund zu streicheln. Mein Bruder setzte sich auf einen Stuhl und nahm seinen Hut ab. "Na, das kann ja jedem mal passieren." Der Hund lief schwanzwedelnd umher und
beschnüffelte das Haus. Ich setzte mich hin, zündete mir eine Zigarette an und bot meinem Bruder auch eine an, welche er dankend ablehnte. "Sag mal", begann er, "wo ist denn deine Frau?" "Ach", sagte ich, "die ist gerade einkaufen gegangen. Kommt aber sicher gleich zurück. Wird sich sicher freuen, dich mal wieder zu sehen." Er nickte. Der Hund begann zu bellen und wir sahen zu ihm hinüber; er stand vor dem Esstisch, unter dem sich Pieksi wieder versteckt hatte und nun zu wimmern begann. "Aus!", rief mein Bruder und stand auf. Das Bellen verstummte augenblicklich. Pieksi hingegen wimmerte noch immer und kauerte sich ganz nah an die Wand. Mein Bruder ging in die Hocke und spähte unter den Tisch. "Was ist denn das da?" "Ach, den hab' ich gefunden, auf dem Bürgersteig. Dachte, er wird nicht durch den Winter kommen, so wie der aussah, also hab' ich ihn mitgenommen. Haben ihn Pieksi getauft." "Pieksi", sagte er und kratzte sich an der Stirn.
"Könntest ihm vielleicht 'nen Unterschlupf bauen. Da wird er sich bestimmt wohler fühlen. Der ist ja ganz verängstigt." Ich dachte kurz nach. "Hm, gute Idee, werd' ich machen.", sagte ich schließlich. Und das tat ich dann auch. Ein paar Tage später besorgte ich mir Holz beim Schreiner und baute eine Hütte für Pieksi, die ich draußen im Garten aufstellte. Erst wollte er nicht in die Hütte rein; ich musste ihn sogar dazu zwingen, sie sich doch wenigstens mal anzuschauen. Dann schnupperte er kurz am Holz, und wich wieder eilig von ihr weg, als ob ihr Geruch ihm signalisierte, dass sie gefährlich wäre, ein lebendiges Wesen vielleicht, das es auf ihn abgesehen hatte. Zu meiner Erleichterung wagte er sich jedoch in den nächsten Tage immer öfter zur Hütte, blieb vor ihr stehen und schaute sie an. Dann stand er da, ganz regungslos, und wartete; auf was er wartete, konnte ich nicht sagen, war sein Verhalten doch für mich nicht recht verständlich. Jeden Tag wagte
er sich ein Stück weiter, bis er soweit war, dass er seinen Kopf in die Hütte hineinsteckte, sich rasch umschaute, und dann einen Satz zurückmachte, so als hätte er sich erschreckt, und schließlich vor ihr stehenblieb. Meine Frau riet mir, dass ich etwas zu Essen in die Hütte legen sollte, vielleicht ein paar Äpfel, die er ja so gerne mochte; dass ich vielleicht den Boden mit Heu auslegen könnte, so dass er es gemütlich hatte, vielleicht würde das helfen. Und so tat ich es. Die Idee meiner Frau war ausgesprochen erfolgreich; so traute sich Pieksi nach einer Weile nicht nur in die Hütte hineinzugehen, nein, er konnte sich auch dazu überwinden, eine kurze Zeit in ihr zu verweilen, während er die Äpfel aß, die ich ihm dort hingelegt hatte. Schmatzend saß er dann da, auf dem weichen Heuboden, und sah ganz so aus, als sei er recht zufrieden. Irgendwann hatte ich ihn soweit, dass er nachts in seinen Unterschlupf schlief und nicht mehr jammerte, wenn ich am Abend raus in den Garten
schickte, wie er es zuvor getan hatte. "Pieksi", hatte ich eines Abends zu ihm gesagt, "Du kannst ja morgen früher wieder ins Haus, es ist doch nur für die Nacht. Du hast doch dein eigene schönes Häuschen", woraufhin er mich so ansah, als ob er mich verstünde, was mich überraschte, und sofort aufhörte zu jammern. Der Winter war recht lang und kalt, doch Pieksi erholte sich prächtig; man konnte fast mit ansehen, wie er von Tag zu Tag zunahm und lebhafter wirkte. Immer öfter gab er ausgelassene Laute von sich, während er im Haus herumtollte. Ich hatte ihm einen kleinen Ball aus Gummi besorgt, den er sofort in sein Herz schloss und mit dem er zu fast jeder Gelegenheit spielte; er warf ihn gegen die Wand des Zimmers, fing ihn wieder auf, und fiepste jedesmal vor Glück. Mittlerweile akzeptierte er seine Hütte, ja, er fing sogar an, sie zu mögen und hielt sich oft tagsüber freiwillig in ihr auf, um etwas Ruhe und Abgeschiedenheit zu haben. Meine Frau hatte ihn
so in ihr Herz geschlossen, dass sie ihm manchmal aus freien Stücken einen Kuchen backte, meistens einen Rührkuchen mit Schokostreuseln, den er gierig verschlag. Wenn sie ihm zusah, wie er ihn aß, schaute sie mich oft verträumt an und lächelte mir zu. Doch nichts währt ewig und der Tag des Abschieds war unausweichlich. Als der Winter zuende ging, war uns Beiden klar, dass wir ihn nicht für immer bei uns behalten konnten, dass er wieder sein eigenes Leben führen musste, von dem wir so wenig wussten. Pieksi schien dies auch zu ahnen; je näher der Frühling kam, desto lebhafter und unruhiger wurde er, so als könnte er es kaum erwarten, endlich wieder raus in die Wildnis zu kommen, zu seinen Freunden und dem vertrauten Umfeld. Und dann kam er, der Frühlingsbeginn. Meine Frau war ganz traurig, dass Pieksi uns nun verlassen würde, und ich selbst konnte auch nicht bestreiten, dass ich mich mittlerweile so sehr an
den kleinen Racker gewöhnt hatte, dass ich mir einen Alltag ohne ihn nur noch schwer vorstellen konnte. Pieksi saß vor seiner Hütte und schaute erwartungsvoll in die Ferne als ich mich am letzten gemeinsamen Tag zu ihm gesellte. "Pieksi", sagte ich, "siehst du die Bäume im Park dort drüben?", und deutete in eine bestimmte Richtung. "Würde es dir dort gefallen? Ich kann dich dort hinbringen, wenn du willst." Er schaute mich kurz verständnislos an; dann schien er zu nicken und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Sonne stand hell am Horizont und tauchte diesen Tag in ein hoffnungsvoll erscheinendes Licht. Vögel zwitscherten in den Lüften und auf den Bäumen und sangen ihr nie verendendes Lied. "Gut", sagte ich und stand auf. Ich forderte Pieksi mit Blicken auf, mir zu folgen und begann zu gehen. Nach kurzem Zögern folgte Pieksi mir.
rolandreaders Eigentlich dachte ich, dass du am Schluss auflöst, um wen es sich bei dem Überwinterungsgast gehandelt hat. Alles spricht natürlich für einen Igel. Aber haben Igel Taschen, in denen sie ihre Habseligkeiten aufbewahren? Ist etwas verwirrend. Aber trotzdem gut geschrieben. L.G.Roland. |
Superfant Hi, danke für den Kommentar. Ja, sollte ein wenig offen bleiben, was genau der Überwinterungsgast ist. Die Lage in der er aufgefunden wurde und die Tasche deuten ja darauf hin, dass es wohl ein Typ ist. Und in der Hinsicht ist der Name Pieksig dann auch zweideutig. :E Gruß |