Die Lüge oder Oskar ist Verschwunden
"Mimi du musst unbedingt ganz schnell mitkommen", rief Jona mir durch die offene Haustür zu.
"Wieso das denn?", fragte ich verwundert und auch genervt, während ich die Blätter meines Kopfsalates wusch. Was wollte Jona denn nun von mir? Er wusste doch, dass ich ihn nicht mehr leiden konnte. Außerdem musste ich Zuhause helfen. Meine Mutter hatte mal wieder keine Zeit dazu, da sie unsere Hühner pflegen musste. Wir lebten auf den Land und besaßen, wie viele hier, einen kleinen Bauernhof, sofern man das so nennen konnte.
Heute war mal wieder der Tag, an dem allen unseren Hühnern die Flügel gestutzt wurden. Also eigentlich war dieser Tag schon gestern gewesen, doch da hatte meine Mutter das nicht hinbekommen, da sie aus unerfindlichen Gründen den ganzen Tag von einem Baumarkt zum nächsten gefahren war und nach Fallschirmseide gesucht hatte. Was genau sie damit wollte, hatte sie nicht sagen wollen aber vermutlich war es mal wieder für irgendein seltsames Kunstprojekt.
Das war der eigentliche Grund, warum wir damals aufs Land gezogen waren. Meine Mutter war der Meinung, hier ihre Künstlerseele entfalten zu können. Dazu brauchte man natürlich gleich einen ganzen
Bauernhof, damit man sich wirklich wie auf einem Bauernhof fühlte und dem ganzen Trubel aus der Stadt, mit seiner Wirtschaft, dem stinkenden Abgasen, dem Leistungsdruck und den Hochhäusern wirklich entkommen war.
Stattdessen hieß es jetzt Landwirtschaft, Hahn, Hühner und Sepias. Denn meine Mutter, wäre nicht meine Mutter, wenn nicht irgendetwas hätte anders sein müssen. Jeder normale Bauernhof hatte ein paar Hühner, einen Hahn und vielleicht noch ein paar Schafe oder eine Kuh. Meine Mutter hatte ein Meerwasserbecken voller Tintenfische, oder Sepias, wie man sie auch nannte. Und warum? Weil sie den Farbton auf den Fotos so liebte, hatte sie einmal gesagt. Was das
jetzt allerdings mit den stinkenden Fischen zu tun hatte, wusste ich auch nicht. War mir irgendwie auch egal. Das meine Mutter irgendwie ein bisschen spann, war mir schließlich schon lange klar. Ich verbrachte ja schon mein ganzes Leben mit ihr.
"Mimi kommst du jetzt", riss mich Jona aus meinen Gedanken und so legte ich dann seufzend den Salat auf die Arbeitsplatte und kam in den Flur, wo Jonas schon auf unserem Teppich stand, der immer noch den Flur voll krümelte, da meine Mutter ihn mal gebatikt hatte. Dabei hatte sie Kerzenwachs drauf gegossen. Das hatten wir noch nicht wirklich wieder rausbekommen und so krümelte unser Teppich bei jedem Ausklopfen wieder. So langsam sollte
eigentlich alles verschwunden sein, schließlich war es schon fast zwei Jahre her, dass meine Mutter in mit Kerzenwachs begossen hatte um ihn dann zu batiken.
"Was ist denn los?", fragte ich Jona, der sich davor schon seit Wochen nicht mehr bei mir gemeldet hatte.
"Oskar ist verschwunden."
Oskar? Wer war Oskar? Ich kannte keinen Oskar und wusste deshalb auch nicht, wen Jona meinte.
"Wer ist Oskar?"
"Unser neuer Hahn", erklärte Jona mir und sah mich flehend an. "Er ist seit heute morgen weg und da wir auf dem Weg in den Wald viele Federn von ihm gesehen haben, dachte ich er wäre vielleicht dort hinein
gegangen."
"Und was habe ich jetzt damit zu tun", wollte ich wissen und verschränkte genervt meine Arme vor der Brust. Früher einmal, waren Jona und ich unzertrennlich gewesen, doch das war gewesen, bevor er mich angelogen hatte. Seitdem, hatte ich kaum noch mit ihm geredet und er hatte das irgendwann auch akzeptiert.
Für seine Lüge, er hatte mir wochenlang verschwiegen, mit wem er sich traf, wenn er keine Zeit hatte, hätte ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen. Jona wirkte immer so freundlich und nett, doch damals hatte ich gemerkt, dass der Schein trug. Doch das war jetzt nicht wichtig. Ich wollte mich hier nicht in meiner Vergangenheit verstricken.
Viel wichtiger war, warum Jona nun ausgerechnet zu mir kam.
"Du musst mir suchen helfen. Du weißt doch, dass ich im Wald eine Scheißangst habe", erklärte Jona mir und sah so aus, als meine er das tatsächlich ernst.
"Du bist 19 Jahre alt Jona. Du wirst mir doch nicht erzählen, dass deine alten Kinderängste jetzt wieder hervortreten", rief ich empört aus."Hör doch verdammt nochmal endlich auch, mich immer anzulügen."
"Ich habe wirklich Angst Mimi."
"Ganz sicher nicht. Das kann doch gar nicht sein. Oder glaubst du etwa, wenn du deinem verflossenen dort begegnen solltest, dass er dich dann vor seine Linse nimmt und dann quält. Er wohnt zwar im Wald, aber vor dem
brauchst du doch keine Angst zu haben. Mehr als dich fotografieren kann der doch gar nicht."
Empörung hatte von mir Besitz ergriffen und so sah ich Jona mit funkelnden Augen an. Ich konnte gar nicht fassen, dass er es wagte, mich so dreist an zu lügen. Ich wusste ganz genau, dass er im Wald keine Angst hatte. Oft genug hatten wir dort warme Sommernächte verbracht, als wir 11 oder 12 gewesen waren.
"Doch kann er. Das weiß ich aus erster Hand", grinste Jona nur und ich wunderte mich, wie er s schnell wechseln konnte. Zweideutige Bemerkungen hatten hier einfach nichts zu suchen. Ich wusste genau, dass Jona wusste, wie sehr ich solche
Sprüche hasste. Ich hatte ihn deswegen ja schon oft genug zusammengeschissen.
"Jaja schön für ihn das ist mir trotzdem egal. Es beweist einfach mal wieder, was für ein elender Lügner du bist." Die Wut wurde immer größer, und ich wusste, dass ich kurz davor war, Jona so richtig an zu schreien. Die ganze Wut auf ihn hatte sich in den vergangenen drei Jahren gesammelt und wollte nun raus. Ein kleiner Stoß gegen das noch zugedrehte Ventil und die Wut würde aus mir herausschießen wie aus einem Fahrradreifen mit Überdruck, aus dem man die Luft hinaus ließ. Überdruck den hatte ich auch. Oder besser gesagt: Überwut.
Jona sah mich nur stumm an, während ich wütend zurück funkelte, vor Wut kochend. All
die Gefühle von damals kamen nun wieder hoch geschossen und das machte es mir nicht ganz einfach, dem Drang zu widerstehen und ihm keine zu klatschen.
"Hilfst du mir bitte trotzdem Oskar zu finden?", fragte Jona leise und zögerlich und sah mich bittend an.
"Und was wenn das auch eine Lüge ist? Was wenn er gar nicht verschwunden ist? Du lügst doch sowieso über alles."
Betreten und traurig sah Jona auf den Boden und plötzlich tat mir meine Bemerkung leid. Klar hatte er viel gelogen, vor allem diese eine Lüge war schlimm gewesen, aber trotzdem war er immer für mich da gewesen. Wie von selbst verrauchte meine Wut und ich wurde versöhnlich
gestimmt.
"Na gut ich komme mit. Dann muss ich wenigstens nicht mitbekommen, wie meine Mutter unsere armen Hühner foltert."
"Die Leben noch?", fragte Jona erstaunt. "Deine Mutter hat doch wirklich fast alles ausprobiert, was jedes normale Huhn umbringen würde."
"Ja die Leben seltsamerweise noch", entgegnete ich vergnügt und band mir meine Schuhe.
Gemeinsam liefen Jona und ich nebeneinander her zum Wald, in dem er Oskar vermutete.
Tatsächlich lagen da ein paar Federn, die einem Hahn gehören
könnten.
"Bist du sicher, dass er da rein ist?", fragte ich skeptisch. "Also ich würde da nicht hineinwollen als Hahn."
Nachdem Jona und ich zwei Stunden durch den Wald gelaufen waren, hatten wir immer noch keinen Oskar gefunden. Mich wunderte das überhaupt nicht, da ich als Hahn niemals aus dem schönen und großen Stall der Fallers abgehauen wäre aber andererseits, jemand mit dem Namen Oskar, musste ja auch irgendwie seltsam sein.
"Gehn wir wieder, das hat sowieso keinen Sinn", schlug ich Jona vor, der sich gerade auf einen Baumstumpf hatte fallen lassen.
" Ich muss dir noch etwas erzählen Mim",
sagte er leise.
"Was denn?", fragte ich und setzte mich neben ihn auf den großen Baumstumpf, auf dem Platz für 5 gewesen wäre.
"Das war auch eine Lüge", murmelte Jona leise.
"Was?", ich glaubte nicht richtig gehört zu haben.
"Ich habe gelogen, als ich gesagt habe, Oskar ist verschwunden", sagte Jona dieses Mal lauter. Eigentlich haben wir ihn schon heute morgen wieder gefunden direkt am Waldrand aber als ich dabei an eurem Haus vorbei bin, habe ich dich so vermisst, dass ich irgendwas tun musste, um wieder was mit dir zu machen. Ich weiß doch selbst, dass das blöd war aber verdammt man es musste
eben sein."
"Oh." Mehr brachte ich erst einmal nicht hervor. Diese Lüge musste ich erst einmal sacken lassen.
"Es tut mir wirklich leid, was damals passiert ist und ich verspreche, ich werde dich wegen so etwas nie wieder anlügen Mim aber bitte sei doch wieder normal. Verdammt man, ich vermisse meine beste Freundin."
Bildete ich mir das jetzt nur ein, oder bildeten sich da Tatsächlich tränen in seinen Augen? Da kurz darauf die ersten Tränen aus seinen Augen tropften, bestätigte sich meine Vermutung. Er tat mir leid. Trotzdem ging das nicht so einfach.
"Ich muss erstmal nachdenken", murmelte ich und stand
auf.
Ich lief aus dem Wald hinaus, vorbei an Oskars Federn, die immer noch am Waldrand lagen. Schon wieder eine Lüge.