Geld um jeden Preis.
Gloria zieht ein letztes Mal den Kamm durch ihr langes, schwarzes Haar, um es dann zu zwei ordentlichen Zöpfen zu flechten. Während ihre Finger die Haarsträhnen miteinander verschlingen, gleitet ihr Blick zur Mutter auf dem niedrigen Lager. Ihr Gesicht gleicht einer Maske. Hart spannt sich die feucht glänzende Haut über den Backenknochen. Die Augen liegen tief in den Höhlen, der Mund steht ein wenig offen. Stoßweise entweicht der Atem. Gloria wirft den geflochtenen Zopf über die Schulter. ‚Wie lange wird Mutter sich
diesmal plagen müssen?, denkt sie und wendet sich schaudernd ab.
Der Vater betritt die Hütte. Unter dem Arm trägt er einen leeren Pappkarton. Salzkekse 1 kg steht darauf gedruckt. In der Hand hält er eine Tequilaflasche. Gonzalo füllt eine henkellose Tasse gut zur Hälfte mit Agavenschnaps. Vorsichtig schiebt er seinen Arm unter den Oberkörper der Frau, hebt sie leicht an und flüstert: „Trink!“
Wie ein Kind klammert sie sich an seinen Arm, trinkt und lässt sich stöhnend zurück gleiten.
„Bist du fertig, Tochter?“, flüstert der Vater, „denk dran, du musst verkaufen. Du musst Geld bringen.“
„Um jeden Preis?“
„Ja, um jeden Preis“, wiederholt er ein wenig zu laut.
Die Mutter schlägt die Augen auf und haucht: „Gib auf dich Acht, Gloria.“.
Das Mädchen atmet auf, als es die stickige Hütte verlässt. Die Sonne kriecht gerade über die Baumwipfel. Dennoch drückt die feuchte Hitze und lässt das Bündel mit jedem Schritt schwerer werden. Sicher setzt Gloria die nackten Füße hügelabwärts.
Während die ersten Gäste aus Acapulcos Nobelhotels auftauchen, erreicht auch Gloria den Strand. Sie nimmt zwei der mit bunten Blumen bemalten Holzteller in die Hand. Langsam schleicht sie an
den Hotelgästen vorbei und ruft mit weicher Stimme: „Lackteller, billig.“ Dabei fixiert sie jeden Gast, als könnte sie ihn hypnotisieren. „Lackteller“, ruft sie und trottet weiter. Die Ausläufer einer Welle umspülen ihre Füße.
„Lackteller.“ Niemand beachtet sie.
Inzwischen hat Gloria die Hotelkette hinter sich gelassen. Sie liebt dieses stille, meist menschenleere Stück, wo der Strand ganz schmal wird. Hier fühlt sie sich geborgen.
Ein Mann kommt ihr entgegen. Struppig ist sein weißes Haar, das blaue Hemd flattert über einer bis zu den Knien aufgerollten Hose. Schnurstracks läuft er auf sie zu, dabei ziehen seine
wasserhellen Augen ihren Blick zwingend an.
„Kaufen Sie!“ Das Mädchen hält den bunten Teller hoch vor ihr Gesicht. Der Mann senkt ihre Hand, er mustert sie und spricht sie an. Seine Stimme klingt kräftig, freundlich, aber in einer unbekannten Sprache. Er fischt einen Geldschein aus der Hosentasche, hält ihn ihr hin. Gloria greift danach, während der Fremde ihren Arm packt und sie mit sich über den Strand zieht. Schneller und länger werden seine Schritte. Gloria stolpert hinter ihm her.
‚Geh nie mit einem Mann, hatte die Mutter mehrmals gewarnt. Und Gloria weiß trotz ihres jungen Alters genau,
warum sie nicht mitgehen soll. Der Geldschein knistert in ihrer Hand.
Noch eh das Mädchen weiß, wie ihm geschieht, haben sie ein eingeschossiges Haus erreicht. Triumphierend schaut der Mann Gloria an, beschreibt eine einladende Verbeugung und schiebt sie in einen hellen, luftigen Wohnraum. Gloria wagt vor Angst kaum zu atmen, sie ist unfähig zu denken, sich zu wehren.
Eine in Rosa gekleidet Indiofrau nimmt sie Empfang wie ein Paket, vor dem sie sich ekelt. Glorias Bündel mit den Tellern wirft sie in eine Ecke, streift ihr das Kleid vom Leib und taucht sie in eine Wanne. Sie schrubbt ihren Körper,
wäscht und trocknet ihr die Haare. Gloria lässt alles mit sich machen. Erst als die Frau mit einer dicken, duftenden Puderquaste ihren Körper bestäubt, wagt sie mit zitternder Stimme zu fragen: „Warum?“
„Weil deine Haut glänzt wie eine Schweineschwarte..“
Sie wird auf eine gepolsterte Liege gebettet, ihr Haar über Schultern und Oberkörper drapiert und eine rote Hibiskusblüte an ihrem rechten Ohr befestigt.
Fremde Laute dringen an ihr Ohr. Gloria schreckt zusammen. Jetzt erst gewahrt sie den Alten, der sie wie ein Stück Strandgut aufgelesen hatte. Halb
versteckt steht er hinter einer Staffelei und macht ihr hin und wieder mahnende Zeichen, still zu halten.
So sitzt sie Stunde um Stunde. Der Mann, von dem Gloria nur die behaarten Beine und Füße in ausgetretenen Leinenschuhen sieht, lässt hin und wieder ein Geräusch hören, das bestenfalls als Grunzen gedeutet werden kann.
Endlich klatscht er in die Hände. Das Dienstmädchen erscheint und führt Gloria hinaus. Sie gibt ihr ihre Habseligkeiten zurück und reicht ihr einen weiteren Geldschein.
Der Aufstieg zu ihrer Hütte ist mühsam,
der Sack scheint an Gewicht zugenommen zu haben. In der rechten Hand knetet sie die beiden Geldscheine. Es ist weit mehr, als ihr der Verkauf der Teller eingebracht hätte. Sie erreicht die baufällige Hütte, als ihr Vater diese verlässt. Unter dem Arm trägt er den Kasten vom Morgen. Salzkekse 1 kg -. In der anderen hält er einen Spaten. Gloria erbleicht.
„Vater?“
Er klopft leicht gegen den Karton. „Komm mit!“
„Und Mutter?“
„Sie schläft.“
Achtlos lässt Gloria ihr Bündel vom Rücken gleiten und folgt dem Vater zum
nahen Friedhof. Gonzalo gräbt ein Loch, nicht tief, nicht breit. Er stellt den Karton hinein, nimmt den zerfransten Strohhut vom Kopf und verhält einen Augenblick in stiller Andacht, bevor er hastig Erde in das Loch schaufelt.
Mit raschen Schritten und ohne auf Gloria zu achten, verlässt er den Friedhof. Erschöpft lehnt er sich gegen die Friedhofsmauer.
„Und du, Tochter, hast nichts verkauft?“
Vater hatte also mit einem Blick festgestellt, dass das Bündel so dick war wie am Morgen.
„Kein Geld?“, fügt er hinzu, was wie eine müde Feststellung klingt.
„Doch“, Stolz leuchtet in Glorias Augen,
„hier.“ Sie hält dem Vater die geöffnete Hand hin.
„So ist es also“, flüstert er, „Geld um jeden Preis.“
Er dreht sich zur Mauer, hebt die Arme und lässt den Kopf darauf sinken.