Der Zaun
von Rainer Güllich
Über Nacht war er plötzlich da gewesen. Der Zaun. Er reichte, so weit das Auge blicken konnte. Jonathan hatte sich seinen Bademantel übergeworfen und war zur Tür hinausgestürzt, direkt auf die Einfriedung zu.
War massives Holz. Jonathan hämmerte mit der rechten Faust auf das Hindernis ein. Es dröhnte dumpf. Dicke feste Bohlen. Langfaseriges Fichtenholz. Es roch wie in einer Sägemühle. Angenehm. Frisch gesägtes Holz.
Der Zaun war mindesten drei Meter
hoch, zwischen den einzelnen Brettern war nicht die kleinste Lücke.
Jonathan ging ein Stück an der Abzäunung entlang. Man konnte nicht hinübersehen und nicht hinüberklettern.
Warum auch hinübersteigen? Da war nur unbebautes ödes Land. Dürres Gras und einige Bäume, deren Holz wie altes Leder wirkte. Kaum Blätter an den Ästen. Ein trostloser Anblick.
Trotzdem so abgeschnitten von der anderen Seite zu sein war schwer hinzunehmen. Ihn hatte vorher diese unwirtliche Gegend nicht interessiert. Jetzt war sie von Interesse. Er hatte vorher nicht gewusst, dass es eine andere Seite gab. Erst der Zaun hatte sie dazu gemacht.
Hilflos drehte er sich herum und ging ins Haus.
Er machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich an seinen Küchentisch und starrte blicklos an die gegenüberliegende Wand. Sein Kaffee wurde kalt.
Jonathan rührte sich erst wieder, als die Dämmerung einsetzte und es immer dunkler in der Küche wurde. Er knipste das Licht an, goss sich ein Glas Bier ein und ging ins Wohnzimmer. Hier schaltete er den Regionalsender im Radio ein. Vielleicht kam in den Nachrichten ein Bericht über den Zaun. Solch ein Ereignis war eine Nachricht wert. Doch es wurde nichts darüber berichtet.
Pünktlich um dreiundzwanzig Uhr, wie
jeden Abend, ging er zu Bett. Doch er fand keine Ruhe. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Gegen Morgen schlief er ein.
Geweckt wurde er durch die wärmenden Strahlen der Sonne, die in sein Schlafzimmer schienen. Sofort fiel ihm der Zaun ein.
Noch im Schlafanzug rannte er aus dem Haus und blieb vor der Haustür wie erstarrt stehen. Der Zaun war noch da!
Erst da wurde ihm bewusst, dass er gehofft hatte, dass die Umzäunung verschwunden wäre. Als er sich umdrehte, um in seine Bleibe zurückzugehen durchzuckte ihn ein gewaltiger Schreck. Auch hinter seinem
Grundstück befand sich ein Zaun. Identisch mit dem vor dem Haus.
Ins tiefste Mark getroffen schlurfte er ins Haus zurück, machte sich wie hypnotisiert einen Teller mit Cornflakes zurecht. Essen musste er ja was. Doch rührte er sein Essen nicht an.
Da hörte er ein Stampfen, Rütteln, Klappern, Schrillen, Tuten und Rasseln. Die Geräusche kamen von jenseits des Zaunes. Wie der Blitz war er wieder draußen. Der Lärm, der von drüben kam, war ohrenbetäubend. Sehen konnte er jedoch nichts.
Das durfte so nicht weiter gehen.
Sich waschen, anziehen war in Sekundenschnelle erledigt. Jonathan ging
in den Keller, rumorte dort in Kisten und Kästen herum, um dann triumphierend einen riesigen altmodischen Handbohrer über seinem Kopf zu schwingen.
Er spannte den größten Bohrer, den er finden konnte, in das Bohrfutter ein. Der würde ein Loch bohren, das groß genug war, um einen Blick auf die andere Seite zu werfen.
Den Handbohrer wie einen Spieß haltend stürzte er auf den Zaun zu. Er stach die Bohrerspitze so in das Holz ein, dass es dröhnte. Die Späne flogen, ruckzuck war ein Loch gebohrt.
Jonathan warf den Handbohrer zur Seite und bückte sich schnell zum Loch hinunter. Vorsichtig schob er sein rechtes
Auge vor das Bohrloch und fiel dann mit einem ‚Uurrgh auf seinen Hintern. Die Überraschung war zu groß. Damit hatte er nicht gerechnet.
Hinter der Abzäunung war eine weitere Sperre! Er konnte nichts anderes sehen als den gleichen vermaledeiten Zaun, wie er ihn schon vor sich hatte.
Den Bohrer aufraffend rannte er zu der gegenüberliegenden Holzwand und bohrte dort ebenfalls ein Loch. Es überraschte ihn nun nicht mehr, dass sich auch dort hinter dem Zaun ein weiterer befand.
Er zog sich in seine Wohnung zurück. Seine Schultern hingen herab, seine Schritte waren schleppend. Leise fiel die Tür hinter ihm
zu.
Er legte sich in sein Bett und zog die Decke über den Kopf. Bis zum nächsten Mittag konnte er den Lärm hören. Dann herrschte Ruhe.
Er blieb im Bett, aß nicht, trank nur zwischendurch etwas Wasser aus dem Wasserhahn. Am dritten Tag, noch vor Morgengrauen, trat er aus dem Haus. Er hatte einen Rucksack geschultert, trug festes Schuhwerk und einen Wanderstab in der Hand.
Den Weg genau in der Mitte der Zaungasse wählend ging er in Richtung Sonnenaufgang. Er kehrte nie zurück.