Die Rücksichtnahme, heutzutage, ist unter aller Sau. Alle haben es eilig und achten nicht darauf, wo sie hinlaufen und wen sie überrennen. Aber ich sah sie. Das kleine Mädchen. Es wurde von den herumlaufenden Erwachsenen angerempelt. Hin und her geschubst. Niemand achtete auf die Kleine. Außer ich. Ich schnappte sie mir und zog sie aus dem Getümmel. Wir liefen zum Eisladen. Ich fand, das dies der beste Seelentröster, für die Kleine, war. Zugegeben, ich war nicht ganz nüchtern. Dennoch war ich Herr der Lage. Wusste, was ich tat. Aber ich
wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Die Kleine hatte ein Eis und war erstmal zufrieden. Aber wie weiter? Ich dachte angestrengt nach. Mir fiel nichts ein. Und während ich so dasaß und nachdachte, laberte ich sie zu. Erzählte von meinem Leid. Meinem Leben, das ich verkorkst hatte. Dem Elend, auf der Welt. Ob sie mir zuhörte, weiß ich nicht. Sie sah mich an und ich bekam Sehnsucht nach einem eigenen Kind. Ich berichtete ihr von meinen gescheiterten Beziehungen. Das ich es nie schaffte, länger als zwei Wochen mit einer Frau zusammen zu sein. Deshalb auch noch Jungfrau war. Seltsamerweise, war ich der einzigste
Typ, den sie warten ließen. Denn kaum hatten sie mir den Laufpass gegeben, hatten sie schon den Nächsten an der Backe. Und so weit ich hörte, knallte es schon in der ersten Nacht. Ich fühlte mich ausgenutzt. Die kleine war einfach wunderbar. Sie sah mich an und ich hatte das Gefühl, das sie mir zuhörte. Mich verstand. Natürlich hätte ich schon längst beim Informationsstand sein sollen, damit die durchgeben konnten, wo das kleine Mädchen war. Ihre Eltern machten sich bestimmt schon Sorgen um sie. Aber das Reden mit ihr, tat mir so gut. Erleichterte mich. Ich hätte danach Bescheid geben sollen,
das ich die Kleine aufgelesen habe. Aber ich nahm sie mit zu mir. Zum ersten mal hatte ich jemanden, dem ich alles erzählen konnte. Es war so befreiend. Ja, ich weiß, das dies Kindesentführung war. In dem Moment war es mir aber egal. Dachte nicht daran. Ich war egoistisch. Sie schien sich bei mir wohl zu fühlen. Schenkte mir ein Lächeln. Ein paar Stunden wollte ich noch mit ihr verbringen. Mit ihr reden und spielen. Morgen wollte ich dann die Polizei anrufen und Bescheid geben, das ich ein Kind gefunden habe. Ich nannte sie Jane. Wie sie wirklich hieß, wusste ich nicht. Sie sprach kein
einziges Wort. Wahrscheinlich lag es daran, das sie mich nicht kannte. Bei mir dauerte es auch immer, bis ich auftaute. Jane legte ich in mein Bett. Ich verbrachte die Nacht auf dem Sofa. Es war nicht sonderlich bequem. Aber was anderes hatte ich nicht. Und der Fußboden war mir zu hart. Ich hatte mir zwar vorgenommen, die Polizei anzurufen, aber ich tat es nicht. In Jane sah ich jemanden, um den ich mich kümmern konnte. Einen kleinen Sinn in meinem trostlosen Leben. An die Eltern dachte ich dabei nicht. Keinen Gedanken verschwendete ich an sie. Wie herzlos von mir. Es war keine Absicht
von mir. Und es tut mir auch leid. Ich wollte Jane nicht wieder hergeben. Nicht so schnell jedenfalls. Trotz der Gefahr, das mir ihre Eltern über den Weg laufen und mir Jane wieder wegnehmen würden, ging ich mit ihr zum Spielplatz. Es war schönes Wetter. Sie brauchte frische Luft und Bewegung. Der Spielplatz war voller Kinder. Anscheinend waren gerade Ferien. Ich blieb in Janes Nähe. Sie schien es auch zu wollen. Denn immer wieder vergewisserte sie sich, ob ich noch da bin. Selbst dann noch, als sie mit einem anderen Kind spielte. Ich hatte das Gefühl, das mit dem Kind etwas nicht
stimmte. Sie fragte nicht nach ihren Eltern. Weder nach der Mutter, noch nach dem Vater. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Wäre nicht das erste mal, das ich mir was einbildete. Was der Wahrheit entsprach, ist, das ich eigentlich Spiegeltrinker war. Doch ihretwegen verzichtete ich auf die Droge Alkohol. Hatte kein Bedürfnis danach. Auch wenn meine Hände zitterten. In der Nacht schwitzte und mehrfach aufwachte. Entzugserscheinungen. Jane schaffte es, durch ihre bloße Anwesenheit, das ich kein Tropfen Alkohol zu mir nahm. Ich wollte voll und ganz für sie da sein. Vater sein. Mir der Zeit bekam ich immer mehr das
Gefühl, das sie meine eigene Tochter ist. Wir verstanden uns so gut. Und ich bekam heraus, warum sie nicht mit mir sprach. Sie war stumm. Deshalb meldete ich uns bei einer Schule für Gebärdensprache an. Irgendwie mussten wir ja miteinander kommunizieren. Es war schon merkwürdig, das ich noch nichts gehört habe, das jemand meine Jane vermisste. So ein liebes Mädchen musste man doch missen. Aber mir war es ganz recht. So konnte ich Zeit mit ihr verbringen. Ich liebte Jane und verdrängte den Gedanken, sie eines Tages wieder hergeben zu müssen. Wenn schon keine Frau mit mir schlafen wollte und ich deswegen keine eigenen
Kinder haben konnte, wollte ich, das Jane meine Tochter ist und bleibt. Die Tage vergingen. Endlich auch die Entzugserscheinungen. Ich war glücklich. Und mich sprachen Damen an. Alleinerziehende Mütter. Plötzlich hatte die Frauenwelt Interesse an mir. Wie ich darauf reagieren sollte, wusste ich nicht. Ich ließ sie einfach reden und mir ihre Telefonnummer geben. Ob und wann ich sie anrief, wusste ich nicht. Sie waren zufrieden, das ich sie nicht sofort in den Wind schickte, sondern Interesse heuchelte. Denn mein wahres Interesse lag einzig und allein nur bei Jane. Wie gern hätte ich in Erfahrung gebracht, ob sie von Geburt an stumm
war, oder sie es erst wurde, durch ein schlimmes Ereignis und warum ich noch nichts von ihren Eltern gehört hatte. Es waren schon einige Tage vergangen, als ich sie im Einkaufszentrum gefunden und mitgenommen hatte. Ich machte mir Gedanken darüber, wie lange ich Jane noch bei mir behalten konnte. Weder hatte ich eine Geburtsurkunde, noch hatte ich das Sorgerecht für sie. Gar nichts, hatte ich. Absolut gar nichts.Wie kam ich nur an diese Papiere ran? Ich brauchte sie dringend. Schließlich wurde Jane älter und musste eines Tages in die Schule. So, wie sie aussah, war sie drei, oder
vier Jahre alt. In spätestens drei Jahren müsste sie eingeschult werden. Aber ohne Papiere... Ein ganzes Jahr lebte ich schon mit meiner Jane zusammen, als ich den Brief erhielt. Er war von irgendeinem Anwalt. Als ich den gelesen hatte, war ich perplex. Es sah so aus, als könnte ich Jane behalten. In der Zwischenzeit waren wir ein Herz und eine Seele. Ich konnte und wollte ohne sie nicht mehr leben. Sie war meine Tochter. Auch wenn sich alles in die Länge zog und es zwischenzeitlich so aussah, als ob ich Jane wieder hergeben muss, hatte ich am Ende doch Glück. - Für kurze Zeit
zumindest. - Ich durfte Jane adoptieren. Von nun an war sie ganz offiziell meine Tochter und das feierten wir mit einem großen Stück Torte. Ein halbes Jahr zog sich die Prozedur hin. In nächster Zeit sollte ich unter strengster Beobachtung stehen. Zwei mal wöchentlich Besuch bekommen. Aber das war mir egal. Sollten sie mich mit ihren Argusaugen beobachten. In der Zwischenzeit hatte ich einiges dazugelernt. Kannte die Vorlieben und Abneigungen von Jane. Hatte sie trocken bekommen. Wusste an wen ich mich alles wenden konnte, wenn ich Fragen und Probleme hatte. Denn die meisten Mütter, die mir ihre Telefonnummer
gaben, wollten nichts von mir. Wollten mir nur helfen. Suchten jemanden, mit dem sie sich austauschen konnten. Mit dem sie reden konnten. Über sich. Ihre Partner... Dabei überkam mich manchmal eine kleine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einer Partnerin. Es war kein egoistischer Gedanke. Wenn Jane eine Mutter hätte, wären wir eine richtige Familie. Ich selbst hatte nicht das Glück, in einer intakten Familie aufzuwachsen. Kurz nach meiner Geburt trennten sich meine Eltern. Ob ich der Grund für ihre Scheidung war? Jane hieß eigentlich Sophia. Aber wir beide hatten uns schon so sehr daran
gewöhnt, das ich sie Jane nannte, das wir dabei blieben. Außerdem gab es auf dem Spielplatz nur eine Jane. Dafür mehrere Sophias. Im Kindergarten gab es nur eine Sophia. Meine. Die Erzieher waren alle vernarrt in sie. Verständlich. Sie war süß. Und das sage ich nicht nur, weil sie meine Tochter ist. Jane hieß eigentlich Sophia. Aber wir beide hatten uns schon so sehr daran gewöhnt, das ich sie Jane nannte, das wir dabei blieben. Außerdem gab es auf dem Spielplatz nur eine Jane. Dafür mehrere Sophias. Im Kindergarten gab es nur eine Sophia. Meine. Die Erzieher waren alle vernarrt in sie. Verständlich. Sie war süß. Und das sage ich nicht nur,
weil sie meine Tochter ist. Sie hatte sich ziemlich schnell eingelebt, im Kindergarten. Eine Woche lang war sie Mittagskind. Ich brachte sie hin und blieb. Nach der Woche wollte sie, das ich gehe, sobald ihre Freunde da waren. Und sie war auch kein Mittagskind mehr. Ich holte sie spätnachmittags ab, wenn ihre Freunde abgeholt wurden. Es war ihr Wunsch und den respektierte ich. Mit der Kommunikation lief es immer einfacher. Dachte ich anfangs, sie wäre total stumm, stellte sich allmählich heraus, das sie reden konnte. Ein Ereignis, kurz bevor ich sie kennenlernte, hatte dafür gesorgt, das sie
nicht mehr sprach. Deshalb ging ich mit ihr zum Kinderpsychologen und zur Logopädie. Zur Logopädie ging ich deswegen, weil mir der Kinderpsychologe dazu geraten hatte. Ich war ganz Vater. Blüte dabei auf. Hatte Freude am Leben. Das Bier, welches ich gekauft hatte, bevor sie in mein Leben trat, stand immer noch in meiner Küche. Unter der Spüle. Ich hatte kein Bedürfnis danach. Verschwendete keinen Gedanken daran, mir eine Flasche zu gönnen. Hatte sogar vergessen, das es da war. Ein Kind kann einen Mann verändern. Von einem Pessimisten, der keinen Sinn in seinem Leben sieht und alle Hoffnung
verloren hat, zu einem liebevollen Vater. Leider ließ die Erziehung zu wünschen übrig. Ich konnte nicht streng zu ihr sein. Was war schon eine halbe Stunde länger vor dem Fernseher. Sie saß selten davor, weil wir viel an der frischen Luft waren. Auch sah ich es nicht so eng, wenn sie etwas mehr Süßes aß, als sie sollte. So oft kam es ja auch nicht vor, das wir was da hatten. Denn ich achtete auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Schließlich liebte ich meine Tochter und wollte, das sie gesund bleibt. Vor ihr nahm ich vielleicht einmal die Woche feste Nahrung zu mir. Ansonsten ernährte ich mich flüssig. Meist Bier. Selten Wein. Harte Sachen
nie. Jane machte schnell Fortschritte. Schon bald konnten wir ganz normal reden. Zwischendurch benutzten wir Gebärdensprache. Wenn wir sie schon einmal gelernt hatten, wollten wir sie auch verwenden. Nie mehr verlernen. Außerdem machte es Spaß, sich auf der Straße, oder in der Bahn, mit Händen zu unterhalten. Niemand verstand ein Wort. Und es hatte ein Vorteil. In der Stadt ist es meist laut. Man versteht oft sein eigenes Wort nicht. Bei Gebärdensprache ist es egal, wie laut es um einen herum ist. Man braucht nicht das Gehör, sondern die Augen. Bei Nebel hat es Nachteile. Vor allem, wenn
er ganz dicht ist und man kaum was sieht. Ich weiß nicht, ob ich es erzählen darf. Wie ich schon erwähnte, hatte Jane ein schreckliches Szenario miterlebt. Weswegen sie ja verstummte. Ihre Mutter, die ich vor kurzem zufällig traf, hatte mir offenbart, das sie in einem Affekt ihren Mann erstochen hatte. Den Vater von Jane. Das Kind kam gerade in dem Moment, als sie auf ihren Mann einstach. „...ich war so in Rage gewesen. Nicht mehr ich selbst. Sophia hatte ich nicht mitbekommen. Bis eben hatte sie ja in ihrem Zimmer gespielt... Der Mann, den ich so sehr geliebt hatte. Für den ich
mein Leben gegeben hätte, belog mich in einer Tour. Und ich Trottel hatte ihm vertraut. Dachte, er liebe mich mindestens genauso, wie ich ihn. Mir machte er die Hölle heiß, wenn mich ein anderer Mann ansprach und er fickte jede Schlampe. Verschleuderte mein Geld...“
Das war hart. Ich empfand keine Abscheu, weil sie ihren Mann umbrachte. Vor ihrem Kind. Was ich empfand, war Mitleid. Eine treue Ehefrau darf nicht mit anderen Männern sprechen, aber der Mann darf mit anderen Frauen schlafen. Das ist doch nicht normal. Ich hatte Verständnis dafür, das sie ausgerastet war.
Ich durfte mir oft Standpauken anhören, von den Mitarbeiterinnen, des Jugendamtes. Mir ist es immer noch schleierhaft, was denen alles störte. Von überall wurde ich gelobt, wie rührend ich mit Jane umgehe. Was für ein toller Vater ich war. Doch dem Jugendamt konnte ich gar nichts recht machen. Drohten mir immer wieder Jane wegzunehmen. Zum Glück hatte ich die Mütter vom Spielplatz. Sie hielten zu mir. Ich lud sie öfter ein, wenn ich ein Gespräch mit den ungeliebten Damen hatte. Das passte denen zwar nicht. Aber das war mir egal. Es freute mich stets, wenn die Frauen ein Wortgefecht hatten.
Ich lehnte mich entspannt zurück und dachte darüber nach, was ich mit Jane unternehmen könnte, nachdem ich sie vom Kindergarten abgeholt hatte. War ich froh, als die Besuche endlich aufhörten. Wie gern hätten sie mir meine Tochter genommen. Aber meine Freundinnen ließen es nicht zu. Noch heute frage ich mich, was sie gegen mich hatten. Schließlich war ich immer nett zu ihnen gewesen. Hatte getan, was sie von mir verlangten. Ohne zu Murren und ohne Widerworte. Auch wenn ich nicht immer den Sinn dahinter verstand. Manchmal glaubte ich auch, das sie mich veralbern wollten. Kaum hatte ich aber jene Damen von der
Backe, kamen sie wieder. Irgendwer hatte was gegen mich. Und ich hatte auch schon einen Verdacht. Meine nette Nachbarin. Sie konnte Kinder noch nie ab. Hatte schon einmal dafür gesorgt, das eine liebe Familie aus dem Haus zog.