Romane & Erzählungen
Euphrasia - Die Schattengängerin

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"Euphrasia - Die Schattengängerin"
Veröffentlicht am 27. April 2014, 50 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Ich liebe es zu schreiben und zu lesen. Am liebsten im Fantasy-Bereich, aber auch normale Romanzen finde ich wunderbar. Wenn ich auf Fehler oder Logiklücken stoße, dann sage ich das auch frei heraus, wobei ich versuche dabei so nett wie möglich zu sein, aber eben auch ehrlich. Denn nur mit Ehrlichkeit kann man sich verbessern, sonst werden die Charaktere dahin welken und die Geschichte selbst eine endlose Schleife bleiben.
Euphrasia - Die Schattengängerin

Euphrasia - Die Schattengängerin

Prolog

Es ist Zeit. Komm.

Er blieb an der Tür stehen und warf einen letzten Blick auf seine schlafende Frau. Der Mond ließ ihr Gesicht bleich und anmutig wirken, die langen Wimpern warfen Schatten auf ihre leicht eingefallenen Wangen, doch sie war noch immer die Schönste für ihn und er hasste den Gedanken, sie solch einer Gefahr auszusetzen. Aber es ging nicht anders. Dieser menschenunwürdige Zustand musste verändert werden. Dragon hüllte sich in seinen Mantel ein

und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, dann verließ er das kleine Bauernhäuschen, welches er sein Zuhause nannte, und folgte dem Weg in den Wald hinein. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln und die Kälte drang immer mehr durch seine Kleider zu seiner Haut durch, aber er kehrte nicht um. Ihm wurde eine wichtige Aufgabe übertragen und das Wispern in seinem Ohr hinderte ihn daran umzukehren. Er würde es sowieso nicht können. Der Vollmond wies ihm den Weg, zeigte ihm einen Pfad, welchen er bis zu diesem Moment nicht gekannt hatte und er ging ihn, ohne zu fragen oder innezuhalten.

Es ist Zeit. Komm. Sie warten schon. Dragon beschleunigte seine Schritte und warf immer wieder einen Blick über die Schulter, suchte nach Verfolgern, doch Fortuna schien ihm und seinen Mitstreitern heute hold zu sein. Er trat aus dem Wald auf eine Lichtung und erblickte einen kleinen Steinkreis in deren Mitte. Einige Gestalten, gehüllt in lange Mäntel, standen in dem Steinkreis und schienen auf ihn zu warten, denn zwei von ihnen traten etwas zur Seite und nahmen ihn so in ihre Gemeinschaft auf. Dragon schlug seine Kapuze zurück und

sah diejenigen an, die mit ihm kämpfen würden. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viele sein würden“, murmelte ein junger Mann, der wohl gerade erst aus den Kinderschuhen raus gewachsen war. Aber seine Augen verwirrten Dragon, denn in ihnen schien sich Jahrhundertealter Schmerz widerzuspiegeln. „Es haben genau sieben Menschen den Ruf vernommen und das wird reichen, um den Pakt zu besiegeln.“ Nora, benutze den Dolch, welchen wir dir gaben. Beeilt euch, es ist nicht mehr viel

Zeit. Nora, eine ältere Frau mit roten, von silbernen Strähnen durchzogenem Haar, zog aus ihrem Ärmel einen langen, schmalen Dolch und übergab ihn an Dragon. „Du bist als Letzter gekommen, dich haben sie zu unserem Anführer erkoren. Sprich die Worte aus.“ In der Nacht gesprochen, in Einverständnis getroffen. Der Tribut gebracht, das Feuer entfacht. Ein Packt auf Leben und Tod, ihr zum Kampf erprobt.

Ohne Schande gefunden, aneinander gebunden. So stehen wir hier und schwören in ewiger Freiheitsgier: Unser Kampf ist erst vorbei, mit dem Fall der Tyrannei. Während er die Worte aussprach, schnitt er sich in die Handfläche und das Blut tropfte hinab auf den Boden, färbte den Schnee rot. Dragon reichte den Dolch zurück an Nora, die dieselben Worte murmelte, bevor sich auch ihr Blut mit dem Schnee vermischte. Nach und nach folgten die restlichen Mitglieder des sich hier schließenden

Zirkels dem Beispiel der beiden, brachten das Opfer dar, während der Wind an Stärke und Intensität gewann. Die Äste bogen sich, der Schnee wurde aufgewirbelt und die Stimmen der sieben Personen erhoben sich hoch hinauf in den Himmel: „In der Nacht gesprochen, in Einverständnis getroffen. Der Tribut gebracht, das Feuer entfacht. Ein Packt auf Leben und Tod, ihr zum Kampf erprobt. Ohne Schande gefunden, aneinander gebunden. So stehen wir hier und schwören in ewiger Freiheitsgier:

Unser Kampf ist erst vorbei, mit dem Fall der Tyrannei.“ Dunkle Wolken türmten sich über der Lichtung auf, Donner erklang und die ersten Blitze fuhren gen Erde. Die Stimmen wurden lauter, vermischten sich zu einem geheimnisvollen Singsang, der Wind riss an den Umhängen. Und dann war alles still. Die Lichtung lag so unberührt da, wie am Anfang, und nur das Rot erinnerte vage an die Zusammenkunft, doch auch dieser Beweis wurde langsam mit dem Schnee vom Regen hinfort

geschwemmt. Deacon schlug die Augen auf und starrte hinauf zur kahlen Decke. Er hatte noch nie durch Dragons Augen diese Szene gesehen. Diesen speziellen Traum hatte er zum letzten Mal mit 17 Jahren geträumt, war aber nur ein Zuschauer von außen gewesen, doch heute Nacht hatte er dazu gehört. Die Ereignisse jener ersten Nacht, in der sich der erste Widerstand gebildet hatte, vermischten sich beinahe mit seinen eigenen Erfahrungen. Er erinnerte sich nur zu deutlich an den Schwur, welchen er geleistet hatte. Dort im Steinkreis,

umgeben von Menschen, denen er vertraute und die genauso wie er dazu erwählt worden waren, ihr Leben der Rebellion zu widmen. Erwählt, dafür zu sorgen, dass die Freiheit wieder Einzug in diese Welt hielt. Dennoch war es überraschend, dass sein Großvater dieselbe Aufregung verspürt hatte, wie er selbst, als er den Schwur leistete. Noch immer konnte er sich nicht erklären, woher er die Worte gewusst hatte, doch dem war so gewesen und es war ein Moment in seinem Leben, welchen er niemals mehr vergessen könnte. Ein Blick auf den Wecker rechts neben dem Bett, verriet ihm, dass es kurz nach Sonnenaufgang war. Mit einem

grimmigen Grinsen im Gesicht warf er die Decke zur Seite und schwang seine Beine aus dem Bett, denn wieder einschlafen würde er sowieso nicht können. Also warum dann untätig herum liegen? Deacon zog sich eine schwarze Jeans an und griff gerade nach einem dunkelblauen Shirt, als eine Gestalt sich direkt vor ihm zu materialisieren begann. Überrascht zog er die Augenbrauen nach oben, während er Gabriel erkannte, der heute in Verkleidungslaune zu sein schien. Es verwirrte ihn immer wieder, wenn der Geist sich in Kleidung von vor 100 Jahren warf, als wäre er bei Hofe und nicht in einem

Rebellenhauptquartier. „Was gibt es, Gabriel?“, fragte er verwundert ob des frühen Besuches. „Es wurden Aktivitäten in Sektor Sieben verzeichnet.“ „Was? Wann und von wem?“ „Vor knapp zwei Stunden. Egal wer sich dort befindet, er hat unsere Kommunikation gestört, sodass wir erst jetzt herausgefunden haben, woher die Störung kam. Die anderen befinden sich bereits im Saal.“ Deacon nickte. „Ich komme sofort.“ Gabriel verschwand und ließ einen grübelnden Deacon zurück, der es sich nicht erklären konnte, wer etwas in Sektor Sieben zu suchen

hatte. Nachdem er sich das Shirt und seine Kampfstiefel angezogen hatte, griff er nach seiner Magnum und machte sich auf den Weg zum Thronsaal, der ihnen als Kommandozentrale diente. Auf den Gängen begegnete er unzähligen Soldaten, männliche und weibliche gleichermaßen, die ihn mit einem Nicken grüßten und er gab es zurück. Es war seltsam so viel Aufruhr am Morgen hier zu sehen, aber die Nachricht schien sich verbreitet zu haben. Energisch riss er die Tür auf und beachtete die zwei Wachposten an den Ecken der Flügeltüren nicht, denn sie interessierten ihn im Moment herzlich

wenig, auch wenn er normalerweise den einen wohl angefahren hätte, nicht so schlapp an der Wand zu lehnen, sondern gerade zu stehen. „Was genau ist los?“ Mit großen Schritten durchquerte er den Raum und blieb direkt vor dem gläsernen Tisch stehen, auf dem Selas in seiner ganzen Größe und in 3D abgebildet wurde. Maxim, einer der wenigen Menschen, denen er sein Leben anvertrauen würde, deutete auf eine Stadt, die umgeben von weitem Land war, und Deacon blinzelte ungläubig. „Ferron meinte, dass irgendetwas da herumwandert. Es gab vorhin eine

heftige Erschütterung, sodass sein Netz fast zusammengebrochen wäre, aber es hat sich schnell stabilisiert – wenn man dem Geist glauben will – zumindest in diesem Sektor. Wer auch immer da herum irrt, er hat kein Ziel.“ „Mh, das ist seltsam. Die Schutzschilder können unmöglich ausgeschaltet worden sein, dass hätten sowohl Nora als auch Ferron sofort bemerkt. Zhalia? Kannst du nachsehen gehen?“ Deacon wandte sich an die im Moment einzige Frau in der Runde. Zhalia schürzte nachdenklich die Lippen, während ihr Blick auf der Karte ruhte, dann nickte sie langsam und blickte ihn mit einem solchen Schalk in den Augen

an, wie er es schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte. „Natürlich, Chef. Ich sehe zu, dass ich keine Aufmerksamkeit auf mich lenke.“ Sie sprach es vor seiner Ermahnung aus, nach Möglichkeit unsichtbar zu bleiben, denn niemand konnte ihnen versichern, ob nicht doch die Krone ihre Finger im Spiel hatte und es eine Falle war. Deacon sah ihr nach, als sie den Thronsaal verließ und fragte sich, wie lange sie noch bei klarem Verstand bleiben würde.

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Kapitel 1

Die letzten sanften Töne von Beethovens Mondscheinsonate verklangen, während sie den Lidschatten auflegte. Ein leichtes Lächeln zierte ihre Lippen, weil diese Komposition sie immer beruhigte. Wie lange sie sie hörte, wusste sie nicht, aber sie konnte sie auswendig auf dem Klavier spielen, wahrscheinlich das einzige Lied, das sie noch hinbekommen würde. Kurz wuschelte sie sich durch das lange braune Haar, welches sie heute zu Locken gedreht hatte und die ihr rundes Gesicht mit den leicht schräg stehenden braunen Augen umrahmten. Sie liebte

ihre Haare, ihre Lippen dagegen gar nicht, weil ihre Unterlippe für ihren Geschmack etwas zu voll war. „Ach komm, du siehst doch gut aus.“, murmelte sie sich selbst zu und lächelte ihr Spiegelbild an. Die Mondscheinsonate endete und auf einmal wurde die Wohnung von schwerem Bass gefüllt, welcher ein Schock war, nachdem die Musik vor zehn Sekunden noch so ruhig gewesen war. Arisha zuckte zusammen und lachte dann begeistert auf. Stimmt, sie hatte die Klassik-CD mit ein paar härteren Liedern bestückt, um nicht nur die übliche Litanei zu hören, die sie sich schon in ihrem Unterricht zu Gemüte

führte. Sie ließ sich Zeit um ins Wohnzimmer zu kommen und die Musik leiser zu stellen, denn sie hoffte auf besonderen Besuch und sie sollte nicht enttäuscht werden. Kaum war die Lautstärke etwas herunter gedreht, hörte sie auch das Hämmern gegen ihre Tür. Leise vor sich hin glucksend ging sie zur Haustür und öffnete sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht, dabei lehnte sie sich in den Türrahmen und blickte den wütenden Mann vor sich an. Blondes, kurzes Haar, welches in alle Richtungen abstand, tiefgründige blauen Augen, die einen unweigerlich an den Himmel erinnerten und ein Mund, der im

Moment einen verkniffenen Zug aufwies, aber sonst eher zum Küssen einlud. Auf seiner leicht gekrümmten Nase – die Nasenspitze zeigte etwas nach rechts – befand sich eine Brille, deren eisblaues Gestell so dünn war, dass man auf den ersten Blick meinte, er würde nur Gläser im Gesicht haben. Er unterrichtete in derselben Schule wie sie, war Experte für englische Literatur und Sport. Die Vorliebe für körperliche Tätigkeit sah man ihm deutlich an. Er hatte breite Schultern, Arme, die mit trainierten Muskeln ausgestattet waren und einen flachen Bauch unter diesem schwarzen Shirt. Die Jogginghose saß locker auf seinen schmalen Hüften,

konnte aber nicht die Oberschenkelmuskulatur verbergen. Er sah gut aus und war nicht nur bei den Schülerinnen beliebt, aber die Leidenschaft für Shakespeare war auf den ersten Blick nicht so deutlich zu erkennen. Bis zu dem Moment, indem man ihn leidenschaftlich davon reden hörte. „Raphael, was verschafft mir die Ehre?“ In ihren Augen blitzte der Schelm und Raphael stieß die Luft aus seinen Lungen. „Wie oft habe ich dich schon gebeten, dieses Musikchaos nicht so laut aufzudrehen? Ist ja schön und gut, wenn du Klassik hören willst, aber wieso muss

du Rock oder Metall dazu mischen?“ „Ich hatte vergessen, dass es diese CD war, entschuldige.“ Ihr süßes Lächeln konnte ihn nicht täuschen und obwohl sie ihn gerade so brutal aus einer seiner kreativen Phasen geholt hatte – was der einzige Grund war, wieso er überhaupt auf ihrer Matte stand – konnte er ihr nicht wütend sein. Er hatte schon immer eine Schwäche für sie gehabt. „Ich könnte dich wegen Ruhestörung anzeigen, Kleines.“ „Stimmt, du könntest. Aber das würdest du nicht, nicht wahr?“ Raphael verengte die Augen und musterte sie. Mal von dem hübschen

Gesicht abgesehen, besaß sie einen kurvenreichen, kleinen Körper, den er nur zu gerne einmal auskosten wollte. Sie hatte ein schwarzrotes Kleid an, welches ihre Figur umschmeichelte und mehr erahnen ließ, welche Freuden ein Mann haben könnte, wenn er sie aus dem lästigen Teil heraus schälte. „Du gehst mit mir aus. Montag, nach deiner letzten Stunde.“ Überrascht starrte Arisha ihn an und er grinste zufrieden. Damit hatte diese freche Tanzlehrerin wohl nicht gerechnet. „Bis dann.“ Raphael drehte sich um und schlenderte ganz entspannt die Treppe nach unten,

um in seine eigene Wohnung zu gelangen. Arisha dagegen machte die Tür zu und lehnte sich kurz gegen das Holz in ihrem Rücken, bevor sie leise aufschrie und anfing vor Freude zu hüpfen. Raphael wollte mit ihr ausgehen! Vor Glück strahlend huschte sie in das Badezimmer und warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Ihre Wangen waren leicht gerötet, aber das war ihr egal. Am Montag würde sie mit dem Mann ausgehen, der bis jetzt immer nur eine Freundin in ihr gesehen hatte. Sie würden etwas Essen gehen und dann vielleicht ins Kino. Sie könnte es ihm ja vorschlagen. Arisha drehte sich einmal

im Kreis und lachte ausgelassen, das war einfach zu schön, um wahr zu sein. Zu sehr in ihrer Freude verloren, bemerkte sie nicht, wie ihr Spiegelbild verschwand und nur noch die Badezimmerkacheln zu sehen waren. Erst, als sie sich mit ihren Händen auf dem Waschbecken abstützte, riss sie schockiert die Augen auf und starrte auf die schwarze Masse, die sich jetzt gebildet hatte und wo vor nur wenigen Sekunden ein Spiegel gewesen war. „Was geht hier vor?“, flüsterte sie. Auf einmal begann es zu beben und panisch umfasste sie den Rand des Beckens fester, um nicht zu fallen, während sich alles um sie herum zu

drehen begann. Ein Erdbeben? Ausgerechnet hier in Freiburg? Arisha schrie auf, als das Beben stärker wurde, begann zu schwanken und landete hart auf dem Boden. Und dann war alles vorbei. Vollkommen verwirrt erhob sie sich langsam und unsicher von den Fliesen und blickte in den Spiegel, wollte sich vergewissern, dass sie sich das Phänomen nur eingebildet hatte. Aber noch immer hing da ein pechschwarzes Viereck. Perplex und an ihrem Verstand zweifelnd, hob sie die Hand und strich vorsichtig über die Oberfläche, versuchte zu verstehen, was das Ganze zu

bedeuten hatte. „Wer zum Teufel erlaubt sich solch einen Spaß mit mir?“ Sie begann nun den nicht mehr nutzbaren Spiegel abzutasten, wollte nicht glauben, was sie hier vor sich sah. Eine glatte Spiegelfläche konnte doch nicht wirklich einfach schwarz werden. Plötzlich erfasste sie ein Sog, die schwarze Fläche weitete sich aus, kroch über ihre Arme, ihre Schultern und bedeckte ihr Gesicht. Panik breitete sich in ihr aus. Sie wurde hineingezogen, direkt in ein bodenloses Loch. Ein leises Stöhnen drang aus ihrem

Mund, als sie sich dazu zwang, die Augen aufzumachen. Im selben Moment, in dem sie sich zu einer sitzenden Position aufrichtete, verfluchte sie sich für diese Entscheidung, denn in ihrem Kopf drehte sich alles. „Verdammt! Was ist nur passiert?“, brummte sie missmutig und rieb sich über die Stirn. Sie erinnerte sich daran, dass es gebebt hatte, dabei musste sie sich wohl den Kopf gestoßen haben. Anders könnte sie es sich nämlich nicht erklären, warum sie glaubte, dass ihr Badezimmer auf einmal Holzboden anstatt Kacheln aufwies. Arisha hob den Kopf und strich sich das lange Haar aus dem Gesicht, bevor sie

ihren Blick durch das Zimmer wandern ließ. Das war kein Bad, es sah viel mehr wie ein Wohnzimmer aus. Aber wie kam sie in diesen Raum? Zögerlich stand sie auf und begann sich umzusehen, um herauszufinden, wo sie sich befand, denn ihre Wohnung war das ganz sicher nicht, dafür lag hier eindeutig zu viel Staub auf dem Boden, außerdem waren die Möbel zerstört und das Zimmer an sich vollkommen verwüstet. Ob hier ein Kampf stattgefunden hat? Wenn ja, musste das ziemlich lange zurückliegen und das Haus seit jenem Tag leer stehen. Mit einem unguten Gefühl lief Arisha durch die Räume, fand eine

zertrümmerte Küche, in welcher das Geschirr auf dem Boden verstreut lag, und erblickte zersplitterte Fenster. Wenn sie sich hier so umschaute, wurde ein Kampf als Grundlage für dieses Chaos immer vorstellbarer. Jetzt blieb nur die Frage, was der Anlass für solch eine Zerstörung sein konnte. Wer oder was hatte die Wut des Angreifers auf sich gezogen oder genährt, dass beinahe alles vernichtet worden war? Ihr Herz setzte kurz aus und begann dann schneller gegen ihre Brust zu schlagen. Von einer tiefen Unruhe und unerklärlichen Panik ergriffen, kehrte sie auf dem Absatz um, verließ die

Küche und auch das Haus. Sie musste weg hier, weg von den Trümmern und dem Gefühl eingesperrt zu sein. Warmes Sonnenlicht empfing sie am Eingang und der Wind trug einen sanften Blumenduft zu ihr herüber. Tief atmete sie ein, fühlte sich freier und ruhiger. Das war eindeutig besser, als die modrige Luft im Inneren des Hauses. Sie hatte auch keine allzu große Lust das obere Stockwerk nach irgendwelchen Hinweisen zu durchsuchen, dafür war ihr die ganze Situation doch zu suspekt und verwirrend. Arisha ließ den Blick schweifen, nahm das verwilderte Grundstück und die Vernachlässigung wahr. Das Gras ging

ihr bis zur Hüfte, anscheinend stand dieses Gebäude wirklich seit sehr langer Zeit leer. Schade drum, die Fassade sah schön aus und die Veranda, auf welcher sie stand, lud geradezu zum Entspannen ein. Zumindest würde sie es tun, wenn es hier etwas sauberer wäre. Es war hier wie in einem dieser Häuser aus den alten amerikanischen Filmen, die sie so liebt. Die junge Frau drehte sich einmal im Kreis, bevor sie begann sich einen Weg Richtung Zaun zu bahnen, welchen sie gerade entdeckt hatte. Das hohe Gras juckte schrecklich an ihren nackten Beinen und sie konnte nur hoffen, dass sie nicht ausversehen mit ihren Füßen auf eines der Insekten trat, das es hier

bestimmt in unzähliger Menge gab. Als sie an ihrem Ziel ankam, schüttelte sie sich erst einmal, um das Gefühl loszuwerden, dass etwas auf ihr krabbelte. Sie öffnete das Gartentor und zuckte bei dem Quietschen erschrocken zusammen. Und dann bemerkte sie es. Es war still um sie herum. Totenstill. Arisha sah wie der Wind durch das Gras fuhr, wie es sich leicht hin und her bewegte, sah, dass er sich auch in den Kronen der mächtigen Bäume befand, aber es war kein Rascheln zu hören. Kein Vogelgezwitscher, obwohl die Sonne schien und keine Wolke den dunkelblauen Himmel

verdeckte. Moment Mal, seit wann ist der Himmel dunkelblau, fragte sie sich und beschattete ihre Augen mit ihrer linken Hand, bevor sie den Kopf schüttelte und die Luft entnervt ausstieß. „Mädchen, du bist verrückt geworden.“, murmelte sie, nur um etwas zu hören und sei dies auch ihre eigene zittrige Stimme. Sie musste herausfinden, wo sie hier war oder wie sie hier her gekommen war, aber sich sicher keine Sorgen um die Farbe des Himmels machen. Oder über diese bedrückende Stille. Dafür gab es sicher irgendeine Erklärung und sobald sie jemanden fand, würde sie diese auch

bekommen. Arisha sah nach links und nach rechts, doch da in beiden Richtungen nur das Gleiche, nämlich eine Straße mit Bäumen und zu hohem Gras, zu sehen war, entschied sie auf gut Glück nach links zu gehen. Falls in dieser Richtung nichts oder niemand zu finden sein würde, konnte sie ja immer noch umkehren. Sie warf einen letzten Blick auf ihre Füße, die einen längeren Marsch wahrscheinlich nicht standhalten würden, denn ohne Schuhe würde es schmerzhaft werden. „Ach komm schon, du wirst es überleben. Hier rumstehen kannst du genauso wenig!“ Sie setzte sich in

Bewegung und fragte sich dabei, ob sie den Verstand verloren hatte. Unsicher folgte sie der Straße, doch änderte sich das Bild nicht: Dunkelblauer Himmel, der sich über einer Reihe überaus imposant wirkender Berge in der Ferne erhob und alles war in den Glanz der Nachmittagssonne getaucht. „Eine Idylle. Es ist perfekt hier. Aber wo zum Teufel sind die Menschen, die hier eigentlich leben müssten? Wieso treffe ich niemanden, der mir sagen kann, wo ich hier bin?“ Sie empfand den Klang ihrer Stimme als tröstlich, so lächerlich sich das auch anhören mochte. Sobald sie erst einmal wusste, wo sie

sich befand, konnte sie sich Gedanken darüber machen, wie sie zurück nach München kommen würde. Und sie würde die Polizei kontaktieren. „Nein, das wäre lächerlich. Du bist schließlich nicht entführt worden. Was willst du denen sagen? „Hey, ich bin in einem fremden Haus aufgewacht. Ich glaube, ich wurde entführt, aber meine Entführer habe ich nicht getroffen.“ Das hört sich so bescheuert an, dass selbst ich solch eine Story niemandem glauben würde.“ Arisha blieb stehen und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen, indem sie tief ein und aus atmete. Es gefiel ihr ganz und gar nicht mutterseelenallein

über eine Straße zu wandern, von der sie nicht wusste, ob sie überhaupt irgendwo hin führte. Aber Straßen führen immer irgendwo hin und wenn ich hier stehen bleibe, kann ich es gleich vergessen, ermahnte sie sich und lief weiter. Ihr Weg wurde etwas steiler, weil die Straße über einen kleinen Hügel verlief, aber als sie oben ankam, legte sich ein breites Grinsen auf ihre Lippen. „Na endlich!“ Vor ihr befand sich eine Stadt und das gab ihr den Glauben, dass sie sich doch in der Nähe von der Zivilisation befand. Ermutigt von dem Anblick rannte sie los und die Erleichterung in ihrem Inneren wurde

immer größer, je näher sie den Mietshäusern und in der Sonne glänzenden Wolkenkratzern kam. Hier würde sie jemanden finden, der ihr helfen, der ihr alles erklären konnte. Abrupt blieb sie mitten auf einer Kreuzung stehen und begann sich im Kreis zu drehen. Panik schnürte ihr die Kehle zu und sie musste erst einmal heftig schlucken, um den Kloß hinunter zu bekommen. Selbst der viel zu warme Asphalt unter ihren Füßen machte ihr nichts mehr aus. „Hallo? Ist hier jemand? Hallo! Irgendjemand? Hört mich denn niemand?“ Sie schrie, rief nach irgendwem, rief um

Hilfe, doch um sie herum blieb es still und selbst der Wind wehte hier nicht. Alles lag ruhig und stumm unter den sanften Strahlen der Sonne. Nur sie passte nicht in dieses Szenario. Verzweifelt begann sie zu rennen, riss Türen auf, trommelte gegen die Fensterscheiben der Läden, schrie und flehte, dass sich doch endlich jemand zeigen sollte, doch es geschah nichts. Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie wischte sie fahrig fort, denn sie würden ihr nichts bringen. Die Lippen fest aufeinander gepresst stand sie wieder auf der Straße, als sie auf einmal Stimmen hörte. „Endlich!“ Erleichtert rannte sie los,

dem Klang der Stimmen nach, bog um die Ecke und konnte für einen Moment wirklich nicht glauben, dass sie Menschen sah. Drei Männer in schwarzen Anzügen standen vor einer Limousine und drehten sich nun zu ihr um, weil sie ihren schweren Atem und die Schritte vernommen hatten. „Dem Himmel sei Dank! Endlich finde ich hier jemanden. Können Sie mir helfen? Ich weiß nicht, wo ich hier bin. Bitte, sagen Sie mir welche Stadt das ist.“ Arisha näherte sich den Männern und blieb vor ihnen stehen, ein dankbares und gleichzeitig bittendes Lächeln auf den Lippen. Die Männer blieben stumm, doch sie

konnte sehen und spüren, dass sie gemustert wurde. Barfuß und in einem verdreckten Kleid machte sie wohl keinen allzu guten Eindruck. „Das muss sie sein. Sie hat diese Störung in unserem System verursacht.“ Der Mann in der Mitte der Dreiergruppe hob seinen Arm an den Mund und schien in seine Uhr zu reden, was Arisha mehr als nur verwirrte, bevor der Sinn seiner Worte zu ihr durchdrang. „Wir haben sie. Kommt zurück. Männer, packt diesen Störenfried ein.“, gab er den Befehl an die beiden neben sich. Arishas Lächeln fiel in sich zusammen, sie drehte sich um und nahm die Beine in die Hand. Wo war sie hier nur gelandet?

Das war doch einfach die reinste Hölle! „Stehen bleiben!“ Sie dachte ja nicht einmal im Traum daran, dieser verfluchten Aufforderung Folge zu leisten und nahm ihre letzten Kräfte zusammen, um schneller laufen zu können, dabei schrie sie die ganze Zeit wie am Spieß, in der Hoffnung, hier würde doch jemand sein, um ihr helfen zu können. Wenn diese Männer sich hier rum trieben, dann musste es doch noch andere geben. Verdammt! Womit hatte sie diese Freakshow verdient? Hart prallte sie gegen etwas und landete auf ihrem Hintern, als sie um die Ecke biegen wollte. Sie hörte, wie ihr Kleid am Saum zerriss und spürte den Schmerz

auf ihren Händen, da sich kleine Steinchen in die Handflächen bohrten. „Hier steckst du, kleines Miststück.“, grinste sie ein weiterer Mann im Anzug an und sie begann nach hinten zu krabbeln, nicht bereit, sich von einem dieser Kerle mitnehmen zu lassen. Ihr Kopf ruckte nach hinten, als sie von dort Stimmen hörte und sah, dass die anderen beiden Verfolger sich ihr nun mit breitem Grinsen näherten, während sie eine Waffe auf sie gerichtet hielten. „Sehr schön, du hast sie. Dann müssen wir wenigstens keine Munition für sie verschwenden.“ Grob rissen die Männer sie an den Oberarmen wieder auf die Beine, sodass

sie kurz schwankte, bevor der Linke sie nach vorne stieß. „Beweg deinen Hintern, wir haben schon genug Zeit wegen dir in dieser Einöde verbracht.“, blaffte er sie an und packte sie im Nacken, als sie sich weigerte, zu gehen. „Lass mich sofort los, du Mistkerl! So lass ich mich sicher nicht behandeln. Los lassen, habe ich gesagt!“ Sie versuchte aufs Neue zu schreien, doch ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, weswegen sie sich damit begnügte, sich zu winden und um sich zu treten, um aus den Fängen dieser Irren zu entkommen. Fluchtend kamen die anderen beiden ihrem Kollegen zur Hilfe und packten sie an den Beinen, während Arisha weiter

um sich trat und kratzte. Sie erwischte einen mit ihrem Fuß direkt im Gesicht, hörte sogar das unverkennbare Geräusch einer brechenden Nase, als sie auch schon einen Fuß frei bekam. Auf einmal verstummte der Mann, dem sie gerade noch die Nase gebrochen hatte, und fiel bewegungslos zu Boden. Die zwei verbliebenen Männer erstarrten in ihrer Bewegung, sahen sich einen Moment an und brachen einige Sekunden später ebenfalls zusammen. Arisha landete auf ihren Knien und schürfte sich diese auf, aber sofort rappelte sie sich wieder auf. Was auch immer hier vor sich ging, sie durfte keine Zeit verlieren, sondern musste so

schnell wie möglich hier verschwinden. Gerade drehte sie sich nach rechts, als sie die Frau erblickte, die sich ihr mit katzengleichen Bewegungen näherte. „Bitte tu mir nichts!“, flüsterte sie, da ihre Stimmbänder keinen lauteren Ton mehr zustande brachten. Die Frau blieb einige Meter vor ihr stehen und legte den Kopf schief, schien sie zu mustern, bevor sie sich den zusammengebrochenen Männern zu wandte.

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Tintenglut
Ich liebe es zu schreiben und zu lesen. Am liebsten im Fantasy-Bereich, aber auch normale Romanzen finde ich wunderbar. Wenn ich auf Fehler oder Logiklücken stoße, dann sage ich das auch frei heraus, wobei ich versuche dabei so nett wie möglich zu sein, aber eben auch ehrlich. Denn nur mit Ehrlichkeit kann man sich verbessern, sonst werden die Charaktere dahin welken und die Geschichte selbst eine endlose Schleife bleiben.

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Wolfspfote Sehr spannend und gut geschrieben, ich will unbedingt wissen wie's weiter geht ^^
Lg Wolf
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Tintenglut Vielen Lieben dank für deinen Kommentar :) Freut mich sehr, wenn es dir zusagt :D
Vor langer Zeit - Antworten
Djambala Schön geschrieben, gefällt mir gut.
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