Immer, wenn ich einen Feuerwehrwagen sehe oder dessen Martinshorn höre, schaue ich nach, ob mein Bruder im Einsatz ist.
Ebenso schaue ich immer, wenn ich ein Flugzeug am Himmel entdecke, ob mein anderer Bruder im Cockpit sitzt und das Passagierflugzeug in ferne Länder lenkt. Nie finde ich sie dort.
Meinen Pilotenbruder nicht, weil er vor wei Jahren nach einem epileptischen Anfall vom Dienst suspendiert wurde.
Meinen Feuerwehrbruder nicht, weil er den Beruf des Feuerwehrmannes nicht erlernen durfte. Er war zu jung für den Job. Als er in dem Alter war, nach einem Schulaschluss in die Ausbildung für seinen Traumberuf einzutreten, lag sein Körper längst unter der Erde eines Grabsteines. Seine Seele war in ferne Sphären eingegangen.
Dies ist mein Lieblingsbild von Hartmut und mir. Es ist nach dem Besuch eines Bergwerkes während eines Familien-urlaubes aufgenommen worden.
Obwohl ich die älteste Schwester bin, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wann Hartmut den Entschluss gefasst hatte, Feuerwehrmann zu werden. Auf jeden Fall äußerte er diesen Willen schon sehr früh. Vielleicht war es an seinem 5. Geburtstag passiert, als er endlich sein heißersehntes großes rotes Feuerwehrauto mit ausfahrbarer Leiter und echten kleinen Wasserschläuchen bekommen hatte? Vielleicht hatte ihn der Tagesausflug mit Führung durch das Gebäude der naheliegenden Freiwilligen Feuerwehr mit seiner Grundschulklasse in seinem Wunsch bestärkt? Wer weiß, ich war ja nicht dabei,
denn ich besuchte währenddessen die Realschule. Ich könnte mir vorstellen, dass ein kompetenter Feuerwehrmann meinen Bruder während der Besichtigung in einen der riesigen Feuerwehrwagen gehoben hat, und somit bleibenden Eindruck bei Hartmut hinterlassen hatte. Auf jeden Fall stand spätestens zu diesem Zeitpunkt sein Entschluss fest. Denn daraufhin musste meine Mutter auf Bitten meines jüngeren Bruders stets, wenn wir mit dem Auto nur so ungefähr in Nähe der Freiwilligen Feuerwehr unterwegs waren, dort vorbei fahren. Lange Zeit teilte ich mir mit Hartmut ein Zimmer. Damals wohnten wir in einem großen alten Haus, welches über dem zweiten Stock
ein Türmchen beherbergte. Mein Vater hatte die ehemalige Kneipe im Erdgeschoss zur Wohnung umgebaut. Der Schankraum war in ein geräumiges Wohnzimmer verwandelt worden und der Tresen tiefer gelegt, so, dass man mit normalen Stühlen daran sitzen konnte. Hinter dem ehemaligen Tresen befand sich die neue Einbauküche. In der vormaligen Küche dahinter hatte meine zehn Jahre jüngere Schwester Ruth ihr kleines Reich. Die zwei großen Gesellschaftsräume waren von meinem Vater in Eheschlafzimmer und sein großes Büro verwandelt worden. Meine Brüder und ich bewohnten unsere Kinderzimmer eine Etage tiefer neben den Kellerräumen in einer kleinen Appartementwohnung, welche nicht nur über
das Treppenhaus, sondern auch über den Garten zugängig war. Ich erinnere mich, dass trotz der Hilfe von Gartenfachleuten, welche mit Bagger vor Ort gearbeitet hatten, die Grundstückfläche derart weitläufig war, dass es mehr als ein Jahr dauerte, bis ein Garten erkennbar wurde. In diesem Kellerappartement verfügten wir sogar über ein eigenes kleines Badezimmer. Hagen, nur ein gutes Jahr jünger als ich, bewohnte das erste Zimmer, durch welches wir leider gehen mussten, um zu unserem durch einen großen Rundbogen geteilten Kinderzimmer zu kommen. Als Kinder sammelten wir kleine Schätze, jeder auf seine eigene Weise. Hagen
sammelte die Bücher in seinem Regal, welche er stunden- und tagelang in einem Zug durchlesen konnte. Hartmut sammelte alle möglichen alten Fundstücke; von einer alten Gaslaterne über Schachteln bis hin zu kaputten Gegenständen, an denen er sich in seiner Reparaturfähigkeit übte. Die verschiedensten Steine und allerlei Zeugs aus dem Wald bewahrte er sorgsam in seinem selbstgebauten Wandregal auf. Ich selbst liebte die Sarah Kay Bilder und in meinem Regal über dem Schreibtisch stapelten sich gefüllte Tagebücher. Hartmut hatte es schwer in der Schule. Nicht nur, dass es ihm ebenso wie mir aufgrund der
Schwerhörigkeit schier unmöglich war, Wörter richtig zu schreiben. Nein, er war auch oft traurig, weil er seit dem letzten Umzug keinen neuen Freund gefunden hatte. Wir wohnten erst seit einem guten Jahr in diesem Haus, in dieser neuen Gegend. Und seinen allerbesten Freund aus dem Kindergarten hatte er am alten Wohnort zurück lassen müssen. Mit Wolli war er früher täglich durch den Wald gezogen und hatte später am Abend immer von den Abenteuern zwischen Bäumen und im Schlamm erzählt. Hier am neuen Wohnort gab es keinen Wald und keinen Freund. Und so bummelte er nach dem Mittagessen draußen zwischen den Gärten herum, bis ich
nachmittags mit dem Bus von der weiterführenden Schule heimkam und wir dann am frühen Abend gemeinsam Hausaufgaben machten. Da meine Mutter jegliche Kraft und Geduld mit mir als erstes Kind während der gesamten Grundschulzeit aufgebraucht hatte, konnte sie ihre Nerven, und sicherlich auch ihre Zeit, nicht mehr in die schulische Unterstützung meines jüngeren Bruders investieren. Glücklicher Weise ist mein ein Jahr jüngerer Bruder Hagen normal hörend zur Welt gekommen und hoch intelligent. Ihm fiel das Lernen leicht und so hatte meine Mutter mir erfolgreich ihr bislang ungenutztes Lehrpotential angedeihen lassen. Hagen hingegen brauchte zu Hause überhaupt keine
Hausaufgaben mehr zu machen, weil ihn die Heimfahrt mit dem Bus schon vollkommen ausreichend war. Gut so, denn sonst hätte er wohl nicht das Aufnahmeverfahren zur Pilotenausbildung bestanden. Als Hartmut nach der Einschulung Lernschwierigkeiten zeigte, fehlten meiner Mutter also jegliche Geduld und die Nerven, um mit ihm zu üben. Also bat sie mich, mit meinem Bruder täglich zu lernen und ein Auge auf seine Hausaufgaben zu haben. Ich weiß noch, wie oft wir gemeinsam weinten; Hartmut, weil er über sein Unvermögen, die Worte richtig zu schreiben, verzweifelte – ich, weil es mir so leid tat, wusste ich doch aus eigener Erfahrung, wie viel hartes Training
von Nöten ist, damit es „klick“ macht und man begreift, wie die Buchstaben sich aneinander reihen. Im Laufe der Monate machte Hartmut aber auch gute Fortschritte im Schreiben und Lesen, auch wenn sich dies nicht so schnell auf die Schulnoten auswirkte. Wenn wir dann endlich mit den Hausaufgaben fertig waren, zeigte mir Hartmut oft, was er auf seinen einsamen Streifzügen so gefunden hatte: kleine Tiere, welche er in einem Glas versorgte, Steine, Blümchen und manchmal auch irgendwelche Elektrogeräte vom Müll, mit denen er sich dann in deren Reparatur versuchte. Er hatte, woher auch immer, ein ausgeprägtes technisches und elektronisches Verständnis. Einmal hat er sogar einen alten kaputten
Schallplattenspieler wieder ans laufen gebracht. Ganz stolz zeigte er ihn mir eines Abends und wir hörten zusammen Musik, eine Schallplatte, die er sich von Hagen ausgeliehen hatte. Er war so glücklich über seinen Erfolg: Im Alter von nur neun Jahren hatte er den Schallplattenspieler ganz alleine repariert und die richtigen Kabel miteinander verbunden. So traurig wie er bei den Hausaufgaben war, so glücklich war Hartmut, wenn er etwas gebaut oder repariert hatte! Den ganzen Abend hörten wir die Musik von seinem Plattenspieler. Viele andere Abende hörte ich meinen kleinen Bruder Geschichten erzählen. Wenn wir längst „Gute Nacht“ gesagt hatten, oder,
wenn ich spät am Abend von meinen eigenen „Außer-Haus-Aktivitäten“ müde nach Hause gekommen war und mich in unser Zimmer schlich, dann hörte ich, wie er sich selbst Geschichten erzählte, um dann irgendwann einzuschlafen. Viele Male hat sein „Brabbeln“ auch mich in den Schlaf begleitet. Hartmut war von Natur aus ein fröhlicher Junge. Oft funkelten Sonnenstrahlen aus seinen Augen und manchmal saß ihm der Schalk im Nacken. Oft war er traurig, aber ebenso konnte er in sekundenschnelle gute Laune verbreiten. Hartmut war immer hilfsbereit. Egal, ob mein Vater gestresst von der Arbeit oder von seinem ehrenamtlichen Dienst in der Mormonen-Gemeinde kam, ob
meine Mutter entnervt war, ob meine kleine Schwester mal wieder einen hysterischen Anfall hatte, oder ob Hangen und ich uns „Treppe rauf – Treppe runter“-stritten, Hartmut versuchte stets zu vermitteln. Im Nachhinein glaube ich, er konnte Disharmonien überhaupt nicht ertragen und stiftete daher lieber Frieden.
Ja
– Frieden –
den hat er ganz sicher gefunden!
…..nachdem er diese Welt am 25. April 1980 verlassen hat.
Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern: Den ganzen Tag war herrlicher Sonnen- schein gewesen, zwischenzeitlich hatte man schon die Jacken ausziehen müssen, um nicht ins Schwitzen zu geraten. Ich war nach
Schulschluss mit zu meiner Klassenkameradin nach Hause gefahren, weil wir später gemeinsam zum Schreibmaschinenkurs der VHS gehen wollten. Auf dem Weg dorthin ärgerte ich mich nämlich, dass ich so viel Krempel zu tragen hatte: Schulranzen, die Tasche mit den Schreibmaschinenunterlagen und die Jacke. Denn nach dem Kurs wollte ich direkt mit dem Bus die Heimreise antreten, welche von dort aus ca. eine Stunde Fahrt mit zweimal umsteigen, für mich bedeutete. Einige Haltestellen vor unserem neuen Zuhause sah ich einen Krankenwagen mit laut tönender Sirene in Richtung der Autobahn vorbei fahren. So ein Blaulicht geht einem ja durch Mark und Bein – auch mir
wurde ganz anders. Also wollte ich, Zuhause angekommen, meine Mutter sofort fragen, ob bei uns, mit unserer Familie, alles in Ordnung sei. Doch dazu kam ich nicht, denn sie telefonierte mit meiner Großmutter. Ich konnte nicht jedes Wort verstehen, spürte aber sofort eine nervöse Aufregung und die Ängstlichkeit in der Stimme meiner Mutter. Ich bekam Wortfetzen mit, während ich mich meiner Taschen und der Jacke entledigte: „…es ist doch schon über eine Stunde her….. er müsste doch längst da sein….. ich werde ihn suchen fahren, vielleicht hat er sich ja verfahren….“ Während meine Mutter so mit ihrer Mutter am Telefonieren war, verstärkte sich in mir das
vorhin im Bus durch die Sirenen ausgelöste Gefühl in Mark und Bein zu einer ängstlichen Beklemmung und ich wartete sehnsüchtig auf das Ende des Telefonats. Währenddessen befragte ich meine kleine Schwester, was denn los sei. Von ihr erfuhr ich dann, dass Hartmut mit dem Fahrrad zu den Großeltern gefahren war, um dort mit dem Opa die Hausaufgaben zu machen, weil ich ja nicht da gewesen sei. Ich war erstaunt; den weiten Weg bis zu den Großeltern war Hartmut mit seinem Fahrrad gefahren?! Das hatte selbst ich noch nicht gemacht, dass wäre mir viel zu weit gewesen! Das mein kleiner Bruder überhaupt den Weg dorthin so gut kannte, war mir neu. Hoffentlich war ihm nichts
passiert…. Ich war noch keine zehn Minuten Zuhause, da wurde es draußen stetig dunkler. Wie so Apriltage sein können, schlug das Wetter plötzlich um. Es braute sich ein Gewitter zusammen. Als meine Mutter nun, völlig aufgeregt und nervös, mit dem telefonieren fertig war, teilte sie mir nur noch kurzerhand mit, dass sie jetzt sofort mit dem Fahrrad losfahren wolle, um Hartmut zu suchen. Im Hinausgehen gab sie mir den Auftrag, gut auf meine Schwester aufzupassen und das Essen auf dem Herd zu erwärmen, damit wir zu Abend essen könnten, wenn alle Zuhause sind. Sie holte schleunigst das Fahrrad aus
dem Keller und warf sich eine Jacke über, da es inzwischen schon zu regnen begonnen hatte. Ich wollte noch erwidern, wo sie denn nach Hartmut suchen wolle, aber da war sie schon draußen und ich sah sie durch das Wohnzimmerfenster Richtung Autobahn im Dunst des Regens verschwinden. Mit ihr verschwand die nervöse Aufregung und machte einer ungewohnten Langsamkeit Platz. Nachdem ich meine Schwester mit dem Hinweis, dass wir später essen, wenn Mutti widerkommt, vor den eingeschalteten Fernseher gesetzt hatte, ging ich zum Fenster zurück. Es war stockduster geworden, der Regen prasselte laut und
unaufhaltsam gegen die Scheibe. Wassermassen spülten sich einen Weg frei, die Straße herunter, am Rinnstein entlang und verschwanden dann im runden Kanaldeckel. Der Blick aus dem Fenster hatte sich in einen schwarzen Vorhang verwandelt. Gleichzeitig lichtete sich in mir die Nebelwolke der Besorgnis und öffnete in mir das Tor zu einer inneren Gewissheit: „Hartmut wird nicht mehr nach Hause kommen. Er ist schon von der Erde gegangen!“ Ich stand da am Fenster, meine Augen versuchten, das Dunkel des Gewitters zu durchdringen und hörte diese Sätze. Die Zeit stand
still….. Ich kann nicht sagen, wie weit der Uhrenzeiger fort geschritten war, als meine Mutter zurück kam. Sie kam nicht allein, aber ohne Fahrrad. Ein Polizeiwagen fuhr vor das Haus und parkte inmitten der riesigen Pfütze vor dem Kanaldeckel. Zwei Polizisten halfen meiner Mutter aus dem Auto. Durch das Fenster sah ich, wie die Polizisten Kraft aufwenden mussten, um meine Mutter zu stützen. Ich lief zur Haustüre, um ihnen zu öffnen. „Was ist passiert? Was hat sie gesehen?“, hämmerte es in meinem Kopf, während ich den Türgriff drückte. Bei geöffneter Tür fragten die Polizisten meine in
Tränen aufgelöste, vollkommen hilflose und schwache Mutter, ob sie hier richtig seien. Sie murmelte unaufhörlich: „Er ist tot. Oh mein Gott, mein Junge ist tot. Er ist tot. Oh mein Gott.“, während sie kaum sichtbar ihren Kopf neigte, um den Polizeibeamten eine Antwort auf die Frage zu signalisieren. Die beiden Männer führten meine Mutter herein und setzen sie vorsichtig auf das Sofa. Dort brach sie vollkommen in sich zusammen, während ich und meine kleine Schwester erschrocken und starr vor Entsetzen schauten, was die Polizeibeamten nun machen würden. Mittlerweile war auch mein Bruder Hagen aus seinem Zimmer die Treppe herauf gekommen, da er das Läuten der Klingel gehört hatte. Er versuchte, die
Situation zu erfassen, während ich mit Erfolg versuchte, gefasst zu bleiben. Einer der Polizeibeamten schaute sich im Wohnzimmer um, holte eine Decke vom Sessel und legte sie meiner Mutter um. Ganz offensichtlich stand sie unter Schock und murmelte immer wieder: „Er ist tot. Oh mein Gott, mein Junge ist tot. Er ist tot. Oh mein Gott.“ Der andere Polizeibeamte erkannte mich mit meinen vierzehn Jahren als das älteste Kind und fragte mich, ob denn mein Vater nicht Zuhause sei, wo er denn wäre? Gewissenhaft antwortete ich ihm, dass mein Vater heute eine wichtige Besprechung in seinem Kirchenbüro habe und erst spät nach Hause kommen werde. Ob er mir denn jetzt
nicht sagen könnte, was passiert ist? Der Mann war daraufhin sehr klar und energisch in seinem Sprechen, denn er gab mir genaue Anweisung, meinen Vater jetzt sofort in seiner Gegenwart anzurufen und ihm eindringlich zu sagen, dass er sofort nach Hause kommen soll. Ich dürfe ihm aber nicht sagen, dass mein Bruder gestorben sein, damit er nicht selbst vor Aufregung einen Autounfall haben würde. Gewissenpflichtig folgte ich seiner Anweisung und rief im Kirchenbüro an. Nachdem mein Vater wegen der Störung ärgerlich reagierte, musste ich zum ersten Mal in meinem Leben, meinem Vater ins Wort fallen und sagte ihm, dass der Polizeibeamte gesagt hätte, er solle sofort nach Hause kommen. Da erst begriff mein Vater, dass
etwas Schlimmes passiert war und antwortete mir, dass er alle notwendigen Angelegenheiten zügig klären wolle, um dann nach Hause zu kommen.
Dies berichtete ich dann dem wartenden Polizisten, der mit dem Ergebnis zufrieden war, sich zu seinem Kollegen umdrehte und Anstalten machte, zu gehen. In dem Moment hielt ich ihn am Ärmel fest und bettelte um Informationen, was denn eigentlich nun genau passiert sei. Wo mein Bruder Hartmut jetzt sei, wie und wo sie meine Mutter gefunden hatten? Die Polizeibeamten schilderten das Geschehen kurz, bevor sie uns im
Wohnzimmer zurück ließen: Mein kleiner Bruder sei offensichtlich ordnungsgemäß auf dem Fahrradweg entlang der Autobahn in Richtung Heimat gefahren, als ihn ein bislang flüchtiger Wagen, wahrscheinlich ein LKW, überfahren haben muss. Einzelheiten könnten sie noch nicht nennen, da noch keine Zeugen gefunden wurden. Jemand hatte den Notruf abgesetzt, und als Polizei und Krankenwagen am Unfallort eintrafen, lagen der tote Junge auf dem äußeren Fahrbahnstreifen und sein zerbeultes Fahrrad daneben. Nachdem Ersthelfer den Tod des Jungen festgestellt hatten und noch während die Polizei Sicherungsmaßnahmen vor Ort durchführten,
sah man diese Frau zur Unfallstelle taumeln. Man hatte sie zügig angesprochen und wollte verhindern, dass sie das tote Kind unter der Schutzdecke zu Gesicht bekäme. Denn der Zusammen- hang zwischen Mutter und dem Opfer wurde schnell ersichtlich. Nach einiger Überzeugungsarbeit hatte sich meine Mutter bereitwillig nach Hause fahren lassen. Mehr könne man derzeit nicht sagen. Außer, dass der Junge sofort auf der Stelle tot gewesen sein musste….. Auf dem Weg zur Haustüre vergewisserten sich die beiden Männer durch einige für mich unverständliche Fragen, ob sie sich etwas antun würde? Wie es ihr jetzt ginge und ob sie jetzt gehen könnten? Erst viel später habe
ich begriffen, dass die Polizisten Sorge hatten, meine Mutter könnte den Verstand verlieren oder sich etwas antun. Das hat sie nicht.
Die Verzweiflung, der Kummer, die Traurigkeit und der seelische Schmerz waren sehr lange spürbar. Jedoch vom Schock schien sie sich recht schnell zu erholen, denn bevor mein Vater Zuhause eintraf konnte sie meinen Geschwistern und mir schon bruchstückhaft erzählen, dass Hartmut wohl einen anderen als den besprochenen Weg nach Hause gefahren war. Sie konnte sich seinen Entschluss, den Fahrradweg an der Autobahn entlang zu nehmen, nur so erklären, dass er zuvor noch an dem Gelände
der Freiwilligen Feuerwehr vorbei fahren wollte und daher dann den weiteren Weg entlang der Autobahn zurück fuhr, bevor der Unfall passiert ist. Während des Erzählens brach sie immer wieder in Tränen aus, schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte stets: „Er ist tot. Oh mein Gott, mein Junge ist tot. Sie haben gesagt, er war sofort tot……“ Auf diese Weise wurde dann einige Zeit später mein Vater Zuhause begrüßt.
Mit der Ankunft meines Vaters versinken weitere Erinnerungen an diesen Abend bleischwer hinter einem dunklen Vorhang von prasselndem Gewitterregen und tosendem Windsturm....
Heute jährt sich der Todestag meines Bruders zum fünfunddreißigsten Mal.
Heute erscheint die Zeit seither sehr lang. Und doch ist mir mein Bruder sehr nahe. Heute erlebe ich in jedem Feuerwehrwagen, der an mir vorüber fährt oder dessen Martinshorn ich vernehme, einen Gruß von Hartmut. Vor einem Jahr stand sogar ein funkelnagelneuer, in seinen Farben leuchtender, Feuerwehrwagen als Bereitschaftswagen für den Karnevalszug
vor unserem Haus.
Mein Bruder ließ grüßen!
Gast Liebe Gabriele! Deine Zeilen haben mich sehr bewegt. "Wo man am meisten sagen möchte, kann man die Worte meist nicht finden"! "Wenn ein lieber Mensch uns verlassen hat, müssen wir uns in das Unvermeidliche fügen und mit einem tiefen Schmerz fertig werden. Aber es gibt eine Verbindung, die uns niemand nehmen kann: die Brücke der Liebe!" Diesen Worten kann ich mich nur anschließen! Liebe Grüße, und fühl Dich umarmt Waltraud |
Gaenseblume Du hast diese traurige Geschichte in einen. wunderbaren Text verpackt., Ich wünsche Dir immer viele Erinnerungen an Deinen Bruder, dann würde er stets bei Dir sein. LG Marina Gaenseblume |