Tiefer Fall
„Luzifer!“ Sakariel packte mich an der Schulter, bevor ich es verhindern konnte und drehte mich zu sich um. Ich spürte, dass er aufgebracht war, aber auch verwirrt und ein bisschen enttäuscht. Gleichzeitig stürmten unzählige Erinnerungen und Gedanken auf mich ein. Mein Geist wankte unter dem Ansturm und drohte zusammenzubrechen, was mein Todesurteil wäre.
Sakariel schien zu merken, wie es mir ging, denn er zog die Hand zurück und ich lächelte ihm dankbar zu. Zitternd
wartete ich darauf, dass seine Energie verflog.
„Ja?“
„Du gehst mir seit drei Wochen aus dem Weg. Der Einzige, mit dem du noch redest ist dieser Azazel.“
Ich zog die Schulter hoch.
„Ich weiß nicht, ob es ich es dir sagen soll“, flüsterte ich leise und betrachtete meine Füße.
„Hab ich dir je einen Grund gegeben, mir nicht alles zu erzählen?“
Ja, als du mir bei meiner Auspeitschung nicht beistandest. Du hast mich nie verteidigt.
Kopfschüttelnd verdrängte ich die unerwünschten Gedanken und erzählte
ihm die Kurzfassung der Sache mit Petrus.
Er hörte schweigend zu und kaute dann auf der Unterlippe.
„Aber wenn diese Aufgabe so wichtig ist, wieso schicken sie dann keinen Erzengel?“
Plötzlich rastete in meinen Gedanken etwas ein und mir wurde klar, was mir so komisch an der Sache vorkam.
„Sorry Sakariel, ich muss weg!“, rief ich und sprintete an ihm vorbei.
Ich musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich. Mein Herz raste und machte einen freudigen Sprung, als ich Azazel auf dem Weg vor mir sah.
Im Vorbeirennen packte ich sein
Handgelenk und zerrte ihn mit. Ihn anzufassen war nicht so schlimm wie bei den anderen. Er hatte seine Gedanken und Gefühle so weit unter Kontrolle, dass eine Berührung erträglich war.
Ich spürte seine stumme Frage und stieß hervor: „Wenn diese Aufgabe so wichtig ist, warum schicken sie keinen Erzengel? Uriel oder Michael zum Beispiel? Die kriegen das doch locker hin.“
Azazel verstand und ich wusste, er hatte den gleichen Gedanken wie ich.
Etwas stimmte nicht und wir mussten hier raus. Mühelos passte er sich meinen Schritten an und rannte neben mir her.
Zum ersten Mal verfluchte ich die Größe des Paradieses. Bis zum Himmelstor war
es noch ein ganzes Stück und plötzlich ertönte Petrus Stimme über unserem Kopf.
„Alle Engel finden sich augenblicklich am Tor ein.“
Verzweifelt versuchte ich schneller zu rennen. Mit viel Glück konnten wir es noch schaffen. Aber wie immer stand das Glück nicht auf meiner Seite. Petrus stand schon mit ein paar Älteren Engeln vor dem Tor. Schlitternd kam ich zum Stehen.
Azazel lief noch ein paar Schritte weiter und schaute sich mit gehetztem Blick um.
„Was sollen wir tun?“, fragte er und ich hörte die Panik in seiner
Stimme.
„Abwarten und Tee trinken“, erwiderte ich leise und konzentrierte mich auf meinen rasenden Herzschlag.
Es dauerte nicht lange und die gesamte Bevölkerung der Paradieses hatte sich eingefunden.
Azazel stand neben mir. Ich hörte seinen stoßweisen Atem und sah, wie er zitterte.
Petrus am Himmelstor hob die Arme und rief: „Es herrschen schwere Zeiten, meine Freunde. Erst dieser Verrat der Menschen auf der Erde und dann auch noch der Verrat in unseren Reihen.“
Mein Innerstes krampfte sich so vor Angst zusammen, dass ich mich mit
schmerzverzehrtem Gesicht nach vorne beugte.
„Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber einer von uns hat uns verraten und sich dem Bösen verkauft.“
Azazel stand neben mir und strich mir mit einer Hand über den Rücken, während Petrus Worte wie Schläge auf mich niedergingen und mein Innerstes aufwühlten.
„Ruhig atmen Luzifer. Wenn du jetzt zusammenbrichst, ist alles vorbei.“
Ich nickte und versuchte mich zu beruhigen. Mein Herzschlag wurde langsamer und der Knoten in meinem Magen lockerte sich etwas.
Und dann kamen die schlimmsten Worte
meines bisherigen Lebens: „Und dieser Verräter ist Luzifer!“
Ich riss den Kopf hoch und sah in die triumphierenden Augen Petrus.
Geschrei erhob sich und zwei ältere Engel zerrten mich von Azazel weg, nach vorne zum Tor und zu Petrus.
„Er hat sich dem Bösen verschrieben und dafür wird er bezahlen! Er wird auf ewig verstoßen aus unserem Paradies!“
„Nein!“ Azazels Schrei ging in dem Gebrüll der Menge unter. Er versuchte zu mir zu kommen, aber Andere schlugen ihn nieder und zerrten ihn weg.
Ganz allein stand ich nun vor Petrus.
„Wir werfen ich hinaus!“, brüllte er wieder und blickte mich
an.
„Das wirst du bereuen. Ich werde dich zur strecke bringen, selbst wenn es mein Ende bedeutet“, flüsterte ich hasserfüllt.
„Das will ich sehen“, erwiderte er leise, packte mich am Kargen und warf mich ohne großes Herumgehampel aus dem Tor.
Ich spürte, wie die Lichtbarriere meine Haut streifte und danach eiskalter Wind mein Haar peitschte.
Diesmal würde nichts meinen Sturz aufhalten. Flammen loderten auf und verbrannten meine Flügel. Schier unerträgliche Schmerzen jagten durch meinen Körper und ich bog schreiend den Rücken
durch.
Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Blut lief über meinen Körper und die Muskeln meines Rückens rissen auseinander, um noch schmerzhafter wieder zusammen zu wachsen.
Warum tut ihr mir das an?
Große, schwarze, in meinem eigenen Blut getränkte Flügel brachen aus meinem Rücken hervor und brachen mir Rippen, zerrissen Fleisch und Haut.
Wieso?
Stein und Erde gaben unter meinem Gewicht nach und ich fiel noch tiefer, weit unter die Erdoberfläche.
Was habe ich nur getan, dass ich das
verdiene?
Knochen knackten, als ich auf felsigem Boden aufschlug und liegen blieb.
Mein Körper war tot, meine Seele war tot. Ich war nichts, war endgütig aus der Gnade gefallen.
Tränen liefen über mein Gesicht und ich hatte nicht einmal die Kraft, die Augen zu schließen und zu beten, dass ich endlich sterben möge.