kapitel 5
Januar 1975
Es war sehr kalt und noch früh am Morgen. Ich nahm meine Handtasche, schlüpfte in meinen Mantel und die Winterstiefel. Ich verließ die Wohnung, wie jeden Morgen. Mutter lag noch im Bett, Vater war schon weg zur Frühschicht. Leise schlich ich die zwei Treppen hinunter zum Keller. In der Waschküche holte ich die 2 kleinen Koffer, die ich im alten Waschbassin nach Weihnachten versteckt hatte.
Zum Glück waren die Koffer von niemandem aus dem Haus entdeckt
worden. Die Waschküche wurde ja auch schon lange Jahre nicht mehr als solche genutzt. Ab und an stand das Fahrrad von einem Nachbarjungen im Raum. Dies dann aber auch nur im Sommer.
Erleichtert schlich ich mich die Kellertreppe wieder hinauf und begab mich direkt nach draußen. Die Haustür ließ ich einfach ins Schloss fallen, wie jeden Morgen, wenn ich zum Dienst nach B. fuhr. Es sollte alles so normal sein wie immer sein. Auch wenn jemand aus dem Fenster geschaut hätte, waren die Koffer an meiner Hand nicht zu sehen, da eine hohe Hecke die freie Sicht auf den Bürgersteig vor dem Haus
versperrte.
Mir war nicht ganz wohl. Fühlte mich wie auf der Flucht. Eigentlich war es auch wirklich eine Flucht. Nur mir kam es in dem Moment wie ein Verrat vor. Aber an wem ein Verrat? Doch ja, vielleicht an meiner jüngeren Schwester.
Nun war ich doch sehr froh, dass ich in meinem Job, die interne Weiterbildung bestanden hatte, so war ich bereits „aufgestiegen“ und konnte mich ohne großartige Erklärungen für 2 Tage beurlauben lassen.
So fuhr ich an diesem Morgen nicht nach
B. sondern blieb im Ort. Ein Immobilienmakler war in der Innenstadt schnell gefunden. Ich notierte mir die Telefonnummer und suchte die nächstgelegene Telefonzelle auf, um einen Termin zu vereinbaren. Nach einem kurzen Telefonat konnte ich mich bereits eine Stunde später bei dem Makler in seinem Büro melden. Er bot mir nach den üblichen Formalitäten, sofort ein möbliertes Zimmer, nicht weit vom Bahnhof entfernt, an.
Die Vermieterin war von meiner Person so sehr angetan, dass sie mir anbot, das Zimmer sofort in Beschlag zu nehmen. Ich ließ mich nicht zwei Mal bitten und
sagte direkt an Ort und Stelle zu.
Mein nächster Weg führte mich zurück zum Bahnhof. Dort hatte ich meine Koffer in einem Schließfach eingeschlossen, die ich nun holte und sofort in meinem neuen Zuhause unterstellte. Der Makler bekam noch am Nachmittag seine Provision von mir.
In der Stadt stand ich hernach etwas unschlüssig herum. Was nun tun? Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte 15.30h an. ‚Eigentlich könnte ich doch meine Schwester bei Ihrer Lehrstelle abholen. Ja genau, dass war keine schlechte Idee und von hier aus war ich
in höchstens einer viertel Stunde auch schon da’, dachte ich und machte mich also auf den Weg.
„Was machst du denn hier“? fragte Simone mich vollkommen überrascht. „Dich abholen, siehst du doch“, gab ich zurück und grinste sie an. „Nein, ich bin von zu Hause weg. Hab schon ein möbliertes Zimmer. Wir können ja was einkaufen gehen und bei mir einen Kaffee trinken oder willst du direkt nach Hause“? sprach ich weiter.
Simone sah mich total verwundert an. „Nein ist okay, bin jetzt aber neugierig“. Sie hakte sich bei mir ein. Gleich um die
Ecke war der „Konsum“. Hier bekam ich alles, vor allem meinen heiß geliebten Kaffee. „Nimm bitte noch Milch und Zucker mit“, erinnerte mich Simone. Sie mochte keinen schwarzen Kaffee. Sie trank ihn nur mit Milch und Zucker. Vor allem aber mit ganz viel Zucker, was man ihr auch ansah. Ich nahm mich neben ihr äußerst zierlich aus, obwohl ich auch nicht gerade klein zu nennen war, mit meinen 168 cm, aber um etliche Pfunde leichter wie sie.
Simone war immerhin 4 cm größer und ziemlich stabil. Sie ging überall immer als die Ältere von uns Beiden durch. Überhaupt ähnelten wir uns äußerlich so
ganz und gar nicht. Sie war blondhaarig und ich schwarzhaarig. Sie mit grünen Augen und ich mit dunkelbraunen Augen. Sie kam mehr nach unserem Vater, von den Gesichtszügen und Gestiken her. Ich schlug mehr nach unserer Mutter.
Obwohl sich hierüber die Geister schieden. Denn dunkelhaarig waren unsere Eltern beide. Mutter hat hingegen blaue Augen und unser Vater, der zu dieser Zeit noch lebte, hatte braune Augen. Wobei unser Opa, mütterlicherseits, die gleichen dunklen Augen und Haare hatte, wie ich
auch.
Ich hatte unseren Opa sehr vergöttert. Sehe ihn noch heute in seinem Ohrenbackensessel hocken und seine „Piepe schmoken“, mit vollen, später schlohweißen Haaren und Filzpantoffeln an den Füßen.
So waren wir 1961 das erste Mal mit Mutter in die damalige „DDR“ gefahren, um Opa und Oma zu besuchen. Opa sprach eines Morgens ein Mal zu mir: /Kind bring mir bitte mal die Tüffeln, die draußen auf der Treppe stehen./
Eifrig ging ich aus dem Zimmer, um ihm
das Besagte zu bringen. Der Hausflur war sehr dunkel und eng. Es roch dort nach allem möglichen, aber nicht unbedingt schlecht. Es waren halt mir fremde Gerüche. Ich stieg zunächst eine Treppe nach oben und suchte die einzelnen Stufen nach „Tüffeln“ ab. Dort stand eine Kiste mit Zwiebeln und da eine Stiege mit Äpfel, aber nicht wonach ich suchte.
Also ging ich wieder nach unten und von dort aus noch zwei Treppen bis nach ganz unten. Nichts! Weit und breit keine „Tüffeln“.
Bereits sehr verwirrt ging ich in den
kleinen Hof hinaus. Vielleicht hatte Opa die “Tüffeln“ ja draußen vergessen. Aber auch im Hof Fehlanzeige! Fast hätte ich geweint, denn ich wusste Mama oben, sie würde mich wieder ausschimpfen und mich als dumm hinstellen, zu dumm um die Tüffeln zu finden.
So spielte ich erstmal noch eine Weile mit der kleinen Mieze, die mir plötzlich um die Beine strich. Irgendwann hörte ich Opa von oben rufen: /Kindchen wo bleibst denn/.
„Ich hab die Kartoffeln nicht gefunden“ sprach ich oben angekommen.
Opa sah mich an und schlug sich auf die Oberschenkel und hatte seinen Heidenspaß. Nun vollends verwirrt, sah ich ihn erstaunt an.
/Mäuselein, schau doch mal auf der ersten Treppenstufe nach oben. Dort stehen meine Tüffeln, dunkelbraun sind die/, sagte Opa unter Tränen lachend und schlug sich immer noch in einem fort auf die Schenkel. Ich tat wie gesagt und siehe da - da standen auf der Stufe... Opas Pantoffeln!
Nun ja, mein Denkfehler resultierte wohl
aus der Tatsache, dass unsere Mutter oft zu Kartoffeln das Wort Kartüffeln oder so ähnlich benutzte. Da ich ein wenig schwerhörig bin, klang Tüffeln halt so ähnlich und ich ging davon aus, dass ich nicht richtig verstanden hatte
und wohl Kartoffeln gemeint gewesen waren.
Diese Geschichte erzählte unser Opa jedes Mal, wenn wir dann in den Sommerferien noch über lange Jahre hinweg auf Besuch waren.
Opa war schwer im Krieg verwundet worden und litt unter Dauerschmerzen, aber er hatte immer diesen frechen
Schalk in seinen dunklen Augen. Dieser Frohsinn, egal was kam, hat mich als Kind und noch als Jugendliche total fasziniert.
Auch sprach er nie viel, aber wenn jemand was sagen musste, und er als Familienoberhaupt, nun mal er derjenige war, es zu tun, so saß das und er duldete keine Widerrede, die auch niemals kam.
Gerne wollte ich so sein wie er. Streng, ja vielleicht, aber stets gerecht und herzlich, ohne Falsch, ohne Heuchelei, ohne Zwang, ohne Gewalt und Lügen. Ich durfte noch als 6jährige bei ihm auf
den Schoß, obwohl ihm das aufgrund seiner Kriegsverletzungen starke körperliche Schmerzen bereitet haben muss.
Es gab niemanden in unserem Geburtsort, der unseren Opa nicht kannte und mochte. Die kleine Stube war niemals leer. Ständig kochte unsere Oma frischen Kaffee. Es war einfach schön bei Opa sitzen zu dürfen. So etwas gab es zu Hause nicht. Wenn Besuch kam, mussten wir in die Küche oder nach draußen. Aber bei Opa und Oma durften wir sitzen bleiben.
Unsere Mutter erzählte sehr oft von ihm
und von ihrer Kindheit. Trotz Krieg, Enteignung, Aberkennung des Adeltitels und Zerstörung des Gutshofes, muss sie eine sehr schöne Kinderzeit erlebt haben. Was mich nicht verwundert bei so einem Vater (unserem Opa).
Oft fragte ich mich, warum konnte sie nicht einen kleinen Fitzel von dem an sich haben, was unseren Opa ausmachte? Warum war sie so sehr auf „mehr Schein als Sein“ fixiert? So sehr darauf bedacht, was andere denken, zu angepasst und obendrein sehr stur und eigensinnig und kalt – eiskalt.
Wer Simone und mich nicht näher
kannte, hielt uns jedenfalls ganz einfach für Freundinnen. Was wir auch eigentlich waren. Wir waren nicht einfach nur Schwestern. Bis auf die üblichen Rangeleien unter Geschwistern, verstanden wir uns nahezu auch ohne Worte. Es machte uns immer wieder Spaß uns nur mit den Augen zu verständigen. Was so manchen um uns herum verblüfft dreinschauen ließ. Wir hatten jedenfalls oft jede Menge Spaß dabei.
(c) 2008 - 2011 P Agnes Ruthsatz / pepsi55
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