Auszug aus meinem Roman:
„Taraskische Rosen“,
eine mexikanische Geschichte.
Mintzita, das Indiomädchen, kennt nur das einfache Dorfleben. Als sie schwanger wird, jagt der Vater sie davon. Ihr bleibt nur der Ausweg in die Hauptstadt Mexiko-City zu fliehen.
Wo die Sterne vom Himmel fallen.
Als der Überlandbus den Busbahnhof der mexikanische Provinzstadt Uruapan verließ, schlug Mintzita ein Kreuz auf Stirn, Mund und Brust. „Heilige Jungfrau
Maria, steh mir bei“, murmelte sie und faltete die Hände zum Gebet. Da sie nun endgültig ihre vertraute Welt verlassen hatte, übermannte sie die Angst. Angespannt starrte sie hinaus auf das helle Band der Straße und die vorüber jagenden Autos.
Sie bemerkte nicht, dass die Frau auf dem Nebensitz zu ihr hinüberschaute, bereit, mit ihr einen Schwatz zu beginnen. „Fährst du zum ersten Mal in die Hauptstadt?“, fragte sie.
Mintzita nickte, sie war es nicht gewohnt Fremden zu sprechen.
„Besuchst du jemanden?“
Wieder nickte Mintzita und rückte ihr Bündel auf dem Schoß zurecht.
„Magst du eine Banane?“ versuchte es die Frau erneut, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Mintzita nahm sie und steckte sie in ihren Beutel.
„Vorrat anlegen. Das ist gut“, lobte die Frau. „Wenn man zum ersten Mal in die Stadt fährt, weiß man nie, was einen erwartet.“
Mintzita seufzte und spürte den Kloß im Hals.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Mexiko-City ist ein einziges Wunder. Es ist der aufregendste Ort, den ich kenne, bei Tag und Nacht. Ich genieße den Zauber der Stadt. Denk an mich, du wirst ebenso begeistert sein.“
„Wirklich? So schön ist es?“ Mintzita schaute zweifelnd.
„Noch viel schöner“, ereiferte sich die Frau. „Du musst nur richtig hinschauen. Bei uns auf dem Land sind Tag und Nacht gleich eintönig. Aber in der Stadt glänzt und strahlt alles. Du siehst nicht nur eine Sonne, nein, du siehst sie vielfach. Sie spiegelt sich in den großen Schaufenstern der Geschäfte und den unzähligen Hausfenstern mit den feinen Spitzengardinen. Sie scheint aus den Scheiben der Autos, wenn sie in einer unendlichen Schlange der Sonne entgegenfahren. Es ist, als reihten sich viele Sonnen hintereinander. Auch aus den Gesichtern der Menschen strahlt dir
der Widerschein der Sonne entgegen. Du begegnest ihr auf Schritt und Tritt.“
„Überall Sonne, ja?“ Mintzita erschien dies unglaublich.
„Und in der Nacht ist es, als fallen die Sterne vom Himmel. Lichter, wohin du schaust, auf den Straßen, aus den Häusern leuchtet es, aus den Geschäften und Restaurants. Kaum eine Ecke, die dunkel bleibt. Und dieses Licht mischt sich mit den sanften Stimmen der Menschen und der Musik zu Gesang und Tanz.“
„Überall? Welch wundervolle Aussicht!“
„Fast überall. Natürlich gibt es auch triste, arme, dunkle Gegenden, aber da geht man nicht hin.“
„Ja, da geht man nicht hin“, echote Mintzita und überlegte, warum ihr nie zuvor jemand so wundersame Dinge über diese große, unbekannte Stadt erzählt hatte.
Versonnen schaute sie vor sich hin. Sie ließ sich von der Bewegung des Busses schaukeln und lauschte dem fremden Geräusch des Motors. Sie träumte von einer verheißungsvollen Zukunft, von goldenen, sonnigen Straßen, Menschen, die ihr freundlich zuriefen, ihr winkten, sie bei den Händen fassten, ihr über Hindernisse hinweghalfen. Als sie erwachte, lächelte sie. Plötzlich konnte sie es nicht erwarten, das Ziel ihrer Reise zu erreichen.
Die Randbezirke der Stadt tauchten auf. Bewundernd beobachtete Mintzita, wie der Fahrer den Bus sicher durch das Gewirr von Straßen lenkte. Sie registrierte nur Masse, Bewegung und Geräusche, die sich wie in einem brodelnden Kessel miteinander vermischten.
Endstation. Die Passagiere erhoben sich von ihren Sitzen. Auch Mintzitas gesprächige Nachbarin raffte ihre Sachen zusammen und wünschte ihr einen guten Aufenthalt. Mintzita fühlte sich einsam inmitten so vieler Menschen. Unversehens gesellte sich ihr ein Begleiter zu: die Angst. Sie schloss die Augen, drückte ihr Bündel fest an
sich und atmete tief durch. Diesen ungebetenen Gast an ihrer Seite wollte sie loswerden und lieber die Sonnen dieser Stadt suchen und zusehen wie die Sterne vom Himmel fallen.
Ziellos lief sie dahin. Ab und an blieb sie stehen und schaute sich suchend um. Jetzt erst nahm sie ihre Umgebung wahr. Ihr Blick prallte auf graue Hausmauern mit gardinenlosen, trüben Fensterscheiben. Wo war die Sonne, die sich darin spiegelte? Mintzita begegnete nur armselig gekleideten Menschen, die mit gesenktem Blick einherhetzten. Wo sie den Widerschein der Sonne erwartete, schauten ihr Menschen hungrig und teilnahmslos entgegen.
‚Gewiss, es gibt auch triste, arme, dunkle Gegenden, aber in die geht man nicht, hörte Mintzita ihre Busnachbarin sagen. Sie zog den Umhang enger um den Körper, lief weiter und hoffte, irgendwo auf eine der von Sonne beschienenen Straße zu gelangen. Aber diese Straßen hier glichen sich alle. Mintzita konnte nicht eine von der anderen unterscheiden. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich im Kreise gedreht hatte.
Die Füße brannten, der Magen knurrte. Sie sehnte sich danach auszuruhen, sich anzulehnen, wenigstens nach einem aufmunternden Wort. Da stieg ihr der süßliche Duft frischer Tortillas
(Maisfladen) in die Nase. Sie tastete nach ihrem Blusenausschnitt, nahm eine der Münzen aus dem Beutel und trat zu der Frau, die neben einer Feuerstelle auf der Straße hockte. Gierig deutete Mintzita auf die beiden Töpfe mit den scharfen Soßen.
„Tacos?“, fragte die Frau.
Mintzita nickte. „Fünf“, sagte sie und hob die gespreizte Hand, um sicher zu sein, dass die Frau sie auch richtig verstand.
Bedächtig strich die Alte das schwarze Bohnenmus auf eine Tortilla und träufelte ein wenig rote, ein wenig grüne Soße darüber. Noch bevor sie den zweiten Taco aufgerollt hatte, hatte
Mintzita den ersten schon verschlungen. Sie reichte der Frau die Münze. Die Alte schüttelte den Kopf. „Noch so eine“, sagte sie und streckte die dürre Hand aus. „Du bist noch nicht lange in der Stadt?“, fragte sie gleichmütig.
„Ich bin gerade eben angekommen. Jetzt suche ich eine Arbeit.“
„Eine Arbeit“, höhnte die Frau, „immer das Gleiche, ihr kommt in die Stadt und glaubt, man warte hier nur auf euch. Und dann geht ihr ganz schnell unter.“
Mintzita konnte es nicht länger ertragen. Was sie hätte aufrichten sollen, hatte sie noch tiefer niedergedrückt. Mutlos schlich sie weiter.
Mit zunehmender Dämmerung wuchs die
Angst. Die Tacos hatten den ärgsten Hunger gestillt, aber die Kräfte schwanden. Sie kauerte sich auf einen Mauervorsprung und stützte den Kopf in die Hände.
„In allem spiegelt sich die Sonne“, flüsterte sie und spürte dabei, wie die Kälte des Steins in ihren Körper kroch. „Ich muss etwas tun“, ermahnte sie sich, „sonst passiert, was die Frau mir angedroht hat.“
Ein Schatten huschte an ihr vorbei, Mintzita erkannte eine Katze, sie streckte die Hand nach dem Tier aus.
„Mietz, Mietz“, wisperte sie, „komm und wärme mich!“
Sie reckte den Arm ein wenig weiter vor,
da sprang die Katze auf, öffnete fauchend das Maul und verschwand in der Dunkelheit. Enttäuscht schaute Mintzita dem Tier nach. Dann raffte sie sich auf und tappte weiter. Sie sprach wahllos Menschen an, die ihr begegneten. „Wo ist hier eine Kirche?“
„Kirche? Ich weiß nicht.“
„Kirche? Geh die Straße hinunter, immer geradeaus!“
„Kirche? Hier in der Nähe gibt es keine Kirchen.“
Flehend schaute Mintzita zum Himmel empor. „Wo seid ihr, ihr Sterne, die nachts auf die Stadt herunterfallen, die Lichter, die Stimmen, die Musik?“
Wieder fragte sie nach einer Kirche.
„Eine Kirche? Dreh dich um, du stehst davor.“
Mintzita öffnete das Portal, betrat das Gotteshaus. Magisch angezogen von dem roten Licht über dem Tabernakel näherte sie sich dem Altar, sie ließ sich in der ersten Bank auf die Knie gleiten und bekreuzigte sich. Der Kopf sank ihr auf die gefalteten Hände.
Als sie erwachte, schien die Sonne durch das Fenster hinter dem Altar.
„Sonne“, murmelte Mintzita. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, wo sie sich befand und schaute sich in der fremden Umgebung um. „Die Sonne“, wiederholte sie lächelnd.
Sie war nicht alleine. In einer Nische
hantierte ein Mann im grauen Kittel. Lautlos kam Mintzita näher und beobachtete ihn, wie er die Figuren der Krippe sorgfältig abstaubte und neu aufstellte. Mintzita rührte sich nicht, bis der Mann sie bemerkte. „Wo kommst du denn her?“, fragte er erstaunt.
„Vom Dorf“, erklärte Mintzita. „Als ich nicht mehr konnte, bin ich zum Gebet in die Kirche gegangen. Und dann ...“, sie zuckte entschuldigend die Achseln, „bin ich eingeschlafen.“
„So, du bist vom Dorf? Und was nun?“
Wieder zuckte sie mit den Achseln. Da fiel ihr der Rat von Schwester Clara ein.
„Gibt es ein Kloster hier in der Nähe, wo ich unterkommen kann?“
Der Mann schaute sie prüfend an. „Du könntest Glück haben. Hier nebenan leben Schwestern, die Mädchen wie dir helfen. Versuche es mal.“
„Wirklich? Die helfen?“
Der Mann nickte. „Versprechen kann ich es nicht, aber ich weiß, dass die Schwestern sehr freundlich und hilfsbereit sind.“ Er öffnete die Kirchentür und deutete auf ein rotes Backsteinhaus. „Das da drüben.“ Mintzita vergaß, dem Alten zu danken, stattdessen schaute sie zum Himmel empor: „Es stimmt: die Sonne gibt es tatsächlich mehrmals in der Stadt.“