Flügel
Am nächsten Tag hatte ich nicht vor, zum Unterricht zu gehen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Trotz allem saß ich doch auf der Fensterbank und blickte auf die kleine Gruppe hinab. Als würde ich mich selbst quälen wollen, zog ich die schwere Glasplatte ein Stück zur Seite und lauschte den Worten des Ausbilders.
„Wo ist Luzifer?“ Die Worte hatten mir gerade noch gefehlt.
„Er ist in seinem Zimmer. Die Sache von gestern hat ihn sehr mitgenommen.“
Aha, jetzt sprach Sakariel also für mich. Mit einem leisen Seufzen schob ich die
Platte zurück an ihren Platz und wich aus der Sichtweite meines Ausbilders. So oder so würde mich einer holen kommen.
Vorsichtig setzte ich mich auf das Bett und wartete das Klopfen ab. Aber anders als erwartet war es nicht Sakariel, den man schickte, sondern Azazel.
Er unterschied sich auch von den anderen, wenn auch nur äußerlich. Überwiegend waren Engel blond und blauäugig, er aber hatte dunkelblonde Haare. Trotzdem hatte ich nie versucht, mit ihm in Kontakt zu treten. Ich zwängte mich keinem auf und erwartete nicht, dass man mich in irgendeiner Weise akzeptierte.
„Du sollst mitkommen, Luzifer.“
Nur langsam stand ich auf und machte mich auf den Weg nach draußen. Azazel schien es nicht zu stören, denn er passte sich meinem Tempo an und warf mir immer wieder schüchterne Blicke zu.
„Du warst gestern sehr mutig“, sagte er dann endlich.
„Eher dumm als mutig“, erwiderte ich und hob den Blick zur Decke.
„Nein, mutig. Ich bin deiner Meinung, muss aber ehrlich sagen, dass ich mich nie trauen würde, dass auch zu vertreten.“ Er packte meinen Arm und ich fuhr zusammen. Sofort zog er die Hand zurück. Ich mochte keine Berührungen. Sie waren zu vertraulich
und offenbarten mir Dinge, die ich nicht wissen wollte.
Azazel blickte mich von der Seite an und fragte : „Emphat?“ und ich nickte nur. Anscheinend verstand er, denn er ging nicht weiter darauf ein und versuchte auch nicht, mich anzufassen.
„Sag mal, man erzählt sich so, dass du in besonderer Beziehung zum Feuer stehst.“
Die Frage war mehr als plump ausgedrückt und entlockte mir ein leises Lachen.
„Ja, so kann man es sagen.“
Sein neugieriger Blick schien ein Loch in meinen Hals zu brennen. Er schaute nicht höher, was mich ein bisschen
irritierte.
„Ich zeigs dir“, gab ich schließlich seinen stummen Bitten nach. Wir blieben vor einem der Vorhänge stehen und ich konzentrierte mich. Es war ein schöner Stoff, ein bisschen hell, aber schön. Ich spürte die Hitze auf meiner Haut und genoss es für einen Moment, anders zu sein.
Rauch kringelte sich zwischen den Falten des Stoffes empor und Flammen leckten an ihm hoch, auf der Suche nach Nahrung.
Neben mir sog Azazel beeindruckt die Luft ein und betrachtete den brennenden Vorhang.
„Umwerfend“, flüsterte er und ich hatte
das unbestimmte Gefühl, in Zukunft mehr mit ihm zu tun zu haben.
„Da die meisten von euch sich in letzter Zeit sehr gut benommen haben, erwartet euch heute eine ganz besondere Überraschung.“ Bei dem Wort meiste blieb der Blick des Ausbilders an mir hängen.
„Heute bekommt ihr nach fünf Jahren Ausbildung eure Flügel.“
Ich zuckte zusammen. Flügel hatten nur Engel, die ihre Ausbildung abgeschlossen hatten. Eine Ahnung beschlich mich, dass das für mich in reinem Chaos enden würde.
„Natürlich kann Petrus euch nicht
persönlich die Flügel geben, er hat momentan sehr viel zu tun.“
Ja, er musste Menschen umbringen. Wütend biss ich mir auf die Unterlippe und drängte jede Emotion zurück. Man sollte denken, es gäbe eine große Zeremonie, aber dem war nicht so. Wir knieten einfach alle am Boden und wurden, wie sie es nannten, gesegnet.
Unser Ausbilder ging zu jedem, berührte ihm am Kopf und wandte sich dem nächsten zu.
Als er vor mir stand, hob ich kurz den Blick und sah die roten Löcher in seinem Hals. So etwas wie Schadenfreude durchflutete mich und ich grinste.
Grimmig berührte er meinen Kopf. Viel
passierte nicht, außer das mein Rücken sich kurz schmerzhaft zusammenzog.
„Geht!“, rief er schließlich und die Engel zerstreuten sich in alle Richtungen. Erfolg kam nicht über Nacht, dafür aber Flügel.