Kapitel 1
Karfreitag
Ein strahlender, blauer Himmel erstreckte sich über blühende Bäume und Büsche. Fröhliches Vogelgezwitscher erfüllte die Luft und alles ließ darauf schließen, dass es ein herrlicher Tag im Frühling werden würde. Die Sonne war gerade aufgegangen und erfüllte die Luft mit Licht und Wärme.
In einer großen alten Villa saßen zwei junge Frauen mit zwei ebenso jungen Männern und drei Kindern beim
Frühstück. Ausgelassenes Lachen erfüllte die Luft.
"So ein schöner Tag", meinte eine der Frauen und blickte verträumt aus dem Fenster.
"Und was machen wir daraus?", fragte einer der Männer, der ein kleines Bärtchen am Kinn hatte. "Wie wär's denn mit ... einer Wanderung?"
"Ach, ich weiß nicht so recht", fand die andere der Frauen, die ein knallrotes Tuch um den Hals geschlungen hatte, und schniefte. "Wandern? Es ist kälter, als man denkt."
"Außerdem sollten wir bedenken, dass wir erst heute Mittag loskönnen. Denn heute vormittag gehen wir in die
Kirche", meldete sich nun der andere Mann.
Der Mann mit dem Bart zog die Augenbrauen zusammen und meinte unwillig: "Nur weil du immer in den Gottesdienst willst, Luke, können wir nichts anderes machen. Das ist doch irgendwie ..."
"Nein. Ist es nicht. Denn ich gehe auf jeden Fall und ihr kommt mit. Karfreitags geht man in den Gottesdienst, selbst wenn man sonst nicht geht. Wir können danach wandern gehen, wenn ihr wollt." Entschlossen sah Luke in die Runde.
"Er hat Recht, Paul. Sonst geht er allein und dann können wir auch nicht eher los,
weil er schließlich mitkommen soll", erklärte die Frau mit dem Schal ihrem Bruder Paul.
"Also, wer kommt mit in die Kirche?", erkundigte sich Luke und sah jeden der Reihe nach fragend an. "Paul? Irina? Sarah?"
"Also, ich bin dabei", erklärte Irina schniefend und wickelte ihren Schal enger. "Sarah?"
Diese nickte nachdenklich und sah dann Paul an.
"Dann komm ich auch mit", sagte Paul widerstrebend.
"Gut." Luke sah auf die Uhr. In einer halben Stunde Abfahrt."
Während die Erwachsenen sich so
unterhielten, spielten die Kinder mit ihrem Essen und krähten vergnügt. Jetzt schnappte sich Sarah zwei und Paul eins. "Wir übernehmen die Kids, und ihr räumt hier auf", erklärte Paul über die Schulter und verschwand.
Irina seufzte und schnäuzte sich.
"Geht es dir immer noch nicht besser?", fragte Luke sie mitfühlend.
Irina zuckte die Schultern und schniefte erneut.
Er erhob sich und strich ihr über den Kopf. "Ruh dich ruhig ein bisschen aus, ich mach das hier schon", sagte er und küsste sie kurz auf die Stirn.
Irina blickte dankbar zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln.
Luke brachte zum Sofa, wo sie sich hinlegte und die Augen schloss.
Dann ging er zum Tisch und räumte auf.
Bald darauf fanden sich alle vor der Haustür ein.
Luke und Irina nahmen Basti, ihren zweijährigen Sohn, in ihren Audi Capriolet und Paul und Sarah ihre beiden Kinder Larissa und Fabian in ihren Mini.
So fuhren die beiden Autos zur Kirche - und sie ahnte nichts davon, was an diesem Wochenende geschehen würde.
Kapitel 2
Karsamstag
Am Samstag weckte Luke seine Frau Irina nicht, da sie bei der Wanderung gestern - dank des Aprilwetters - in den Regen gekommen waren, einen Rückschlag ihrer Erkältung erlitten hatte.
So frühstückte er mit Paul und seiner Familie und seinem eigenen Sohn Basti.
Danach brachte er Irina Frühstück ans Bett. Liebevoll hatte er ein Marmeladenbrötchen, frisches Obst und
heißen Tee, dazu ein Glas kühlen Orangensaft auf ein Tablett dekoriert.
Mit dem Ellenbogen öffnete er die Tür und stellte das Tablett vorsichtig auf Irinas Nachtschränkchen. Dann öffnete er die Vorhänge an den Fenstern und ließ die Sonne ins Zimmer.
"Guten Morgen, mein Schatz! Na, wie geht es dir?", begrüßte Luke seine Frau und gab ihr einen Kuss.
"Na ja, du kannst es dir denken", grinste Irina und schnäuzte sich geräuschvoll.
"Na immerhin", murmelte Luke und nahm einen frischen Schal aus dem Schrank, den er Irina umwickelte, nachdem er ihr den roten abgenommen
hatte.
"So, jetzt iss mal was", ermunterte er die zierliche Frau, die sich im Bett aufgerichtet hatte. "Wie sieht's aus - du bleibst heute wohl lieber im Bett, hm?"
Irina nickte, während sie die Teetasse zu ihrem Mund führte und daran nippte. Nachdem sie sie abgestellt hatte, fügte sie hinzu: "Wer weiß, vielleicht stehe ich auch zum Mittagessen auf. Mal sehen."
"Hast du Fieber?"
"Glaube nicht."
Luke nickte, ging zu Irina und küsste sie auf die Wange. "Ich gehe jetzt wieder. Nachher schau ich nochmal rein, ja?"
Irina lächelte und nickte. "Alles klar.
Macht ihr nur, wozu ihr Lust habt. Aber sorgt euch nicht um mich."
"Du weißt, dass das unmöglich für mich ist", lächelte Luke und wuschelte ihr durch die wirren Haare. Dann verließ er den Raum.
Als Luke ins Wohnzimmer kam, saßen Sarah und Paul auf dem Sofa und unterhielten sich, während die drei Kinder sich auf dem Boden wälzten und lautstark miteinander spielten.
"Na, was gibt es denn so Wichtiges?", schmunzelte Luke und setzte sich zu den beiden.
Sarah wandte ihm ihr ernstes Gesicht zu. "Meine Mutter ist gestern Abend verstorben. Sie hatte einen schrecklichen
Autounfall und - und ist noch am Unfallort - verblutet", flüsterte sie. Eine Träne rollte über ihre Wange.
"Oh, das tut mir so leid", sagte Luke. Er nahm Sarah fest in den Arm. Seine Augen quollen über vor Mitleid.
"Sie haben gerade erst angerufen, als du bei Irina warst", erklärte Paul. "Klar, es hat eben gedauert, bis die unsere Telefonnummer hatten ... schließlich hat sie ganz allein in ihrem kleinen Häuschen ganz am Ortsrand gewohnt. Sie hatte ja keine anderen Angehörigen außer uns und deshalb-"
Pauls Erklärungen wurden von Bastis Geschrei unterbrochen, der jetzt heulend auf dem Boden
hockte.
Luke zog ihn hoch und nahm ihn auf den Arm. "Was ist denn los, wer wird denn gleich so schreien", versuchte er ihn zu beruhigen.
Luke spürte auf einmal, wie ihn jemand beobachtete. Verwirrt sah er sich um - und entdeckte zu seinem Erstaunen, dass es Paul war, der ihn so anstarrte. In seinem Blick lagen Erstaunen, Vorwurf und Entsetzen zugleich. Doch warum?
Da spürte Luke, wie etwas Warmes über seine Hand lief.Etwas Rotes.
Blut.
Bastis Blut.
Der zweijährige Blonde hatte am Hinterkopf eine tiefe Wunde, aus der
unaufhörlich Blut rann.
Kapitel 3
"W-w-was ist das?!" Luke war völlig sprachlos.
"Ach du liebe Güte!", rief Sarah aus und schlug die Hände vor den Mund. "Wie ist das denn passiert?!"
"Ich weiß es nicht", erwiderte Luke schlicht. Langsam gewann er seine Fassung wieder zurück und bemühte sich, ruhig zu bleiben.
"Basti?" Er sah seinem kleinen Sohn prüfend ins Gesicht, wie es ihm wohl ging. Luke erschrak heftig. Bastis Augen waren verdreht, sein Gesicht weiß wie die Wand. Seine Augenlider flatterten immer mehr, bis ihm die Augen
schließlich zufielen und er erstarrte, als wäre er tot.
"Nein, nein, du bist nicht tot", dachte Luke, um sich selbst zu beruhigen, doch die Panik wallte in ihm auf und drohte, ganz von ihm Besitz zu ergreifen.
"Halt ihn", bat er Sarah und legte der entsetzten Frau seinen Sohn in die Arme.
Dann sprang er auf und zog sein Handy aus der Hosentasche. Seine Hände zitterten so stark, dass er es fast nicht schaffte, den Notrufknopf zu drücken. "Verdammt aber auch!" Endlich hörte er das erleichternde Tuten, schon hob jemand ab.
"Krankenwagen ... bitte schnell. Mein Sohn-", Luke bemühte sich, in
zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. So seltsam es war, genau in diesem Moment erinnerte er sich daran, wie ihn die Deutschlehrerin immer und immer wieder ohne Erfolg ermahnt hatte, in ganzen Sätzen zu sprechen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war - mit blonden Haaren, so wie Basti jetzt.
Luke legte auf, und nur kurze Zeit später hörten sie das Martinshorn immer näher kommen.
Luke betete im Murmelton vor sich hin, während Sarah lautlose Tränen über die Wangen rannen. Paul war nirgends zu sehen.
Es war eine seltsame Atmosphäre, als wäre die Zeit angehalten worden, so
langsam und deutlich nahm Luke jedes Detail war. Die in frohen Farben geblümte Kaffeetasse, die vom Wohnzimmertisch gekullert war; die fast schwarzen Blutflecken auf dem hellblauen Teppich; das kleine Aquarium auf dem Klavier, in dem zwei Goldfische ungestört munter ihre Kreise zogen; und über alles breitete sich eine unheimliche Stille, bis endlich der Krankenwagen vor dem Fenster hielt.
In diesem Moment schoss Irina aus dem Zimmer, Schlimmes ahnend.
"Was ist hier los? Warum kommt jetzt ein Krankenwagen??"
Luke deutete auf Basti, der leblos in Sarahs Armen lag. Sein fröhlicher
blonder Schopf war gar nicht mehr hell, sondern dunkel gefärbt und verunstaltet von Blut.
"Mein Kind!", schrie Irina auf und stürzte auf Sarah zu. Mit Tränen in den Augen beugte sie sich über Basti, strich ihm die Haare aus der Stirn und wischte ihm ein Blutrinnsal vom Gesicht.
Da stürmten zwei Sanitäter ins Haus.
Sie sahen Basti und wussten sofort, was los war.
Sarah, Irina und Luke mussten zur Seite und Luke fragte sich ernsthaft, wo Paul steckte.
Da kam er zum Vorschein, hinter den Sanitätern drein. Er hatte die Tür für sie geöffnet.
"Und?", erkundigte er sich nun mit sorgenvoller Miene bei den anderen drei. Sarah zuckte die Schultern, Luke und Irina starrten zwischen den Armen der Sanitäter hindurch auf ihren Sohn.
Da hörten sie auf einmal einen Schrei hinter sich, und dann ein verzweifeltes "Mama!" Larissa, das fünfjährige Mädchen, umklammerte schluchzend Sarahs Beine. Diese nahm ihre Tochter auf den Arm und erschrak heftig, als sie schon wieder Blut sah: diesmal auf Larissas Oberarm!
"Oh nein, was hast du gemacht?", rief sie völlig fertig mit den Nerven aus. Zum Glück war es nur ein kleiner Kratzer.
Paul schnappte sich Fabian auf den Arm und nahm Larissa mit an der Hand ins Nebenzimmer, um die Kinder nicht völlig zu verstören.
Endlich, nach einer Zeit, die Luke wie Stunden vorgekommen war, packten die Sanitäter den kleinen Basti auf eine kleine Trage und in den Krankenwagen. Irina bestand darauf, trotz ihrer Erkältung mit ins Krankenhaus zu kommen. Luke konnte nicht anders, als es ihr zu erlauben. Er selbst blieb aber zu Hause; er wollte wissen, was Basti derart verletzt hatte.
Als er zurück ins Wohnzimmer kam, erschrak er zutiefst: Paul kniete auf dem Boden und zog gerade aus einem Spalt
zwischen dem Klavier und einem großen Bücherregal ein langes Fleischermesser.
Der Spalt war gerade breit genug für einen zweijährigen Jungen, aber nicht nur das: es war auch Bastis Lieblingsspielecke.
Kapitel 4
Paul bemerkte Luke, der fassungslos in der Tür stand und sah mit ernster Miene zu ihm auf. Stumm hielt er ihm das lange Messer hin.
Luke trat näher und nahm das Messer entgegen.
"War es da drin?", fragte er mit brüchiger Stimme und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Spaltes.
Paul nickte.
Luke drehte das Messer in seinen Händen und sah es sich genau an. Blut klebte daran, es war noch ganz frisch. Vorsichtig fuhr er an der Klinge entlang. Sie war sehr scharf, so scharf, dass Luke
sich selbst fast geschnitten hätte.
Schließlich blickte Luke auf. Lange sahen sich die Männer schweigend an.
"Wie konnte das passieren, Paul?", brach Luke endlich das Schweigen.
"Ich habe keine Ahnung, Luke."
Nach einer Weile fügte er hinzu: "Ich schau mal nach Sarah und den Kindern."
Luke stand noch eine ganze Weile da, das Messer in den Händen, und ließ seinen Blick über das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer schweifen. So viele Stunden hatten sie hier verbracht, schöne, lustige, aber auch traurige, als sie hörten, dass Irina eine Fehlgeburt hatte. Gesellige, turbulente, Stunden, erfüllt von Kindergeschrei.
In sich fühlte Luke nur Leere. Er wusste nicht, was er fühlen sollte, Trauer oder Schmerz, Erleichterung darüber, dass für Basti die Hilfe wohl nicht zu spät kam oder Hoffnungslosigkeit im Gedanken daran, was Basti für Schäden erhalten hatte.
"Ich habe keine Ahnung", flüsterte er vor sich hin. "Keine Ahnung."
Schließlich fiel sein Blick wieder auf das Messer. Auf einmal fühlte er Ekel und Angst, als er das spitze Gerät so in den Händen drehte und wendete. Er lief damit in die Küche zum Waschbecken und begann, es in monotonem Pflichtbewusstsein abzuspülen. Wässriges Rot floss in den Abfluss, dann
wurde es von klarem Wasser gefolgt.
Das Messer war sauber, Luke trocknete es sorgsam ab und legte es in eine verschließbare Schublade. Er drehte den Schlüssel einmal um und ging ins Wohnzimmer, wo er den Schlüssel ins Aquarium warf.
Dann seufzte er einmal tief auf und sah auf die Uhr. Es war bereits fast eine Stunde vergangen, seit die Sanitäter Basti abgeholt hatten. Er fragte sich, was Paul und Sarah jetzt machten.