kapitel 4
Vater ging wortlos direkt ins Wohnzimmer. Mutter stand in der Küche am Herd und wienerte die schwarzen Kochplatten. Ich setzte mich ohne ein Wort zu sagen, auf meinen gewohnten Platz an den Küchentisch. Als Mutter nach fünf Minuten immer noch keinen Ton von sich gab, ging ich ins Bad um mir die Haare zu bürsten und mich ein wenig frisch zu machen. Zurück in der Küche stand „sie“ immer noch am Herd. Wie der Racheengel persönlich. Die Arme vor der Brust verschränkt und sichtlich um Beherrschung
bemüht.
„Was denkst du dir eigentlich? Willst du dir dein ganzes Leben wegen so Einem versauen“, fragte sie mit unterkühlter Stimme und ohne mich dabei anzuschauen. Sie fixierte irgendeinen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Auf diese beherrschte Art meiner Mutter nicht vorbereitet, wusste ich zunächst nicht zu antworten. „Deine Schwester würde so etwas nie tun. Kannst du dir vorstellen, dass ich mir Sorgen gemacht habe“, sprach sie weiter. Da konnte ich nicht umhin zu sagen: „Simone musste ja auch nie solche Ängste vor dir durchstehen und ihr hat auch nie jemand
gesagt, dass sie nicht gewollt war“.
Mutter sagte nichts. Ich glaubte sogar, so etwas wie Tränen in ihren Augen zu sehen. Sie drehte sich um und holte das Geschirr für das Abendbrot aus dem Hängeschrank. Einen winzigen Moment lang, einen Atemhauch gleich, war ich versucht, aufzustehen und sie in den Arm zu nehmen. Diese spontane Empfindung war jedoch flugs vorbei, genauso schnell wie sie entstanden war.
Das Abendessen verlief sehr ruhig. Nur Simone plapperte unaufhörlich, ganz wie es ihre Art war. Beim Abwasch, den Simone und ich abends meist erledigten,
sagte Mutter: „Ich will diesen Idioten hier nicht mehr sehen. Der taugt nichts.“ Das dies so kommen würde, war mir eigentlich schon klar gewesen und ich nahm es stillschweigend zur Kenntnis. Obwohl ich natürlich ihre Sanktion übertrieben fand.
Das Wochenende kam und mit ihm auch Martin. Vater fing ihn noch vor der Haustür ab. So sah ich Martin an diesem Wochenende nicht mehr.
Nichts ahnend was das Schicksal mir bringen würde, tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass Martin und ich uns vielleicht ganz kurz mal sehen können,
wenn ich Feierabend hatte. Sich zu schreiben war auch noch eine Möglichkeit. Telefon hatten wir und auch Martins Eltern noch nicht. Auch war ja schon August und bis zum 1. Januar 1975 war es nicht mehr lang. Dann konnte ich endlich tun und lassen was ich wollte. Meinen 19. Geburtstag musste ich wohl so wie es aussah, ohne Martin feiern. Der Gedanke an die neue Volljährigkeit hielt mich jedoch noch aufrecht.
Aber es kam ganz anders, als erwartet...
„Ist Martin zu Hause“? fragte ich Martins Mutter. Ich hatte an diesem
Freitag etwas eher Schluss gemacht auf der Dienststelle. Wir hatten uns in den vergangenen Wochen nur zwei oder drei Mal ganz kurz gesehen. Bei Feierabend holte Martin mich ab und brachte mich noch bis zum Bahnhof. Es blieben wenigstens noch 15 Minuten Zeit bis mein Zug kam.
„Komm doch erstmal rein“, sagte Martins Mutter. Sie wirkte etwas nervös. „Möchtest du einen Kaffee?“ „ Ja danke gern, aber wo ist Martin? Er hat doch heute diesen Arzttermin wegen seiner Magengeschwüre gehabt. Ist er noch nicht zurück“? fragte
ich.
Martins Mutter hatte Mühe zu sprechen und räusperte sich. Sie setzte sich ziemlich umständlich und langsam auf ihren Stuhl. „Martin ist heut morgen in allerherrgottsfrüh verhaftet worden“.
Hatte mit allem gerechnet. Das Martin noch in der Stadt war und ein paar Kumpels getroffen oder das er einen Bus verpasst hat. Aber nicht damit. Konnte es gar nicht glauben. „Wo ist er denn“? „Das weiß ich auch nicht“. Er sagte, er würde sofort schreiben“.
Martins Mutter und ich wussten beide
nichts zu sagen. Wer sollte hier nun Wen trösten? Schweren Herzens trank ich meinen Kaffee aus und verabschiedete mich bei Martins Mutter. Mit trüben Gedanken fuhr ich nach Hause. Ich konnte mir Martin nicht in einem Gefängnis vorstellen.
Ein Brief ließ nicht lange auf sich warten. Martin war in einem 50 km weit entfernten Gefängnis untergebracht worden. Es ginge ihm den Umständen entsprechend gut.
Er schickte mir eine Besuchserlaubnis mit. Die Besucherzeiten waren nicht optimal für berufstätige Angehörige und auch nur an zwei Tagen in der Woche
möglich. Ausweich-
termine gab es nicht. Einerseits freute ich mich über den Brief, andererseits fühlte ich mich vollkommen hilflos, ja überfordert. Wie sollte ich Martin besuchen? Zwar hatte ich monatlich etwas Geld, aber wie sollte ich auf der Dienststelle begreiflich machen, dass ich einen freien Tag brauche und das in Zukunft auch noch regelmäßig?
Schweren Herzens schrieb ich Martin, dass ich ihn nicht besuchen könne. Versprach aber so oft wie möglich zu schreiben und, dass ich als seine „Verlobte“ zu ihm halten würde, obwohl ich noch nicht mal wusste, was er
angestellt haben soll. Dies erfuhr ich erst im zweiten Brief.
/ Zwei Kumpels von mir haben da beim Bäcker bei uns an der Ecke eingebrochen. Ich soll „Schmiere gestanden sein“, haben einige Zeugen ausgesagt und da ich wegen einer Jugendstrafsache noch unter Bewährung stand, muss ich nun 24 Monate insgesamt im Knast bleiben. Ich wollte aber nicht rein, weil ich nichts getan habe! Hab mich also nicht bei der JVA von selbst gemeldet. Deshalb hat die Polizei mich dann ohne Vorwarnung verhaftet. schrieb Martin und ich glaubte ihm das. Es mir blieb ja nichts
anderes übrig. Schließlich waren wir nicht ständig zusammen gewesen und wir wohnten nicht in einem Ort. So hatte ich gar keine Chancen irgendetwas heraus zu bekommen. Mir kam auch gar nicht erst in den Sinn, seine Worte anzuzweifeln.
Die Zweifel kamen erst viel später.
(c) 2008 - 2011 P. Agnes Ruthsatz / pepsi55