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>>Nein!<< Schattenschwinge verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.
>>Bitte. Nur dieses eine Mal. Komm schon!<<, bettelte ich und versuchte einen Schmollmund zu ziehen. Anscheinend ging das wirklich in die Hose, denn sie fing an zu kichern und wandte den Blick ab.
>>Ich mache es, wenn du es auch machst<<, bettelte ich weiter und hielt die Tube mit Haarfarbe hoch.
Aicid hatte uns geraten, unsere Haare einzufärben. Sollte mein Bruder einen seiner Späher ausschicken, die allesamt
ein Hirn in Größe einer Linse hatten, würden sie uns nicht erkennen.
>>Shadow. Mein Aussehen und du sind das Einzige, was mir noch von meinem Leben geblieben sind. Bitte nimm mir nicht mein Aussehen. Nicht einmal nur die Haarfarbe.<<
Sie legte beide Hände an meinen Arm und schaute mich bittend an.
Schließlich verdrehte ich die Augen und sagte: >>Gut, von mir aus. Mach, was du möchtest.<<
>>Danke! Du bist der beste Dämon, dem ich je begegnet bin! Und außerdem bin ich eine Katze und mache deshalb immer das, was ich will.<<
Schattenschwinge schlang die Arme um
meinen Hals und gab mir einen kurzen Kuss auf den Mund.
Beinahe sehnsüchtig blickte ich ihr hinterher, als sie aus dem Wohnwagen lief und ich stieß einen frustrierten Seufzer aus.
Verstehe einer mal die Frauen.
>>Du lässt dich auch breitschlagen, wenn eine Frau dich lieb anlächelt. Sehr interessant.<<
Mein Herz setzte für einen Moment aus und ich zuckte zusammen.
Auf dem Fensterbrett hockte ein halbnackter Mann mit Schakalskopf. Anscheinend wollte Anubis mir einen Besuch abstatten. So gefragt war ich noch
nie.
>>Hmmm<<, machte ich nur und blickte ihn relativ neugierig an. Vor ihm hatte ich weniger Angst als vor Bastet.
>>Frauen und ihre Waffen. Wenn die Frauen kommen, lasst eure Waffen fallen und rennt um euer Leben<<, scherzte er und ich musste lachen. Wo er Recht hatte, hatte er Recht.
>>Warum bist du hier? Nicht das du nerven würdest, ich bin nur neugierig<<, versuchte ich aus dem Fettnäpfchen rauszukommen und blickte ihn an.
Er zuckte die Schultern und grinste. Beziehungsweise hielt ich es für ein Grinsen.
>>Ich wollte dich noch einmal sehen.
Das letzte Mal konnte ich dir mit zwei Fingern das Genick brechen.<<
Verdutzt starrte ich ihn an. Das letzte Mal?
>>Ach, weißt du ja gar nicht mehr. Kurz nach deiner Geburt habe ich deine Mutter besucht. Du warst so klein, unglaublich. Aber sie hat dich nie Shadow genannt, sondern Kowu.<<
>>Der Name sagt mir nichts<<, antwortete ich vorsichtig und lehnte mich leicht zurück. Meine Vergangenheit war wirklich interessant.
>>Es ist der Name des Mannes, der die Schatten besiegt hat.<<
Jetzt war ich geflasht. Anscheinend waren meine Eltern sich nicht nur in
Sachen Erziehung uneinig.
Am liebsten würde ich mit meiner Mutter reden, um endlich alles zu erfahren. Aber sie war ja tot. Etwas eingeschüchtert biss ich mir auf die Unterlippe und blickte zur Tür.
>>Aber deswegen bin ich nicht hier. Ich...<<
Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach ihn und erschütterte den Fußboden unter uns. Schnell sprang ich auf die Füße und warf einen Blick aus dem Fenster. Ein violetter Blitz zuckte über den Himmel und ich knurrte. Dämonen.
Bevor ich aus der Tür rennen konnte, hielt Anubis mich auf.
>>Warte! Ich setzte einen Teil deiner
Magie wieder frei und nimm das.<< Er griff sich an den Hals und löste den Goldschmuck, den er trug.
>>Es schützt dich vor magischen Angriffen aller Art.<<
Ich nickte ihm dankbar zu, legte die Kette um und sprintete nach draußen. Der Geruch von versenktem Fell hing in der Luft und ich rümpfte die Nase. Unweit von mir entfernt wollte sich ein Dämon auf eines der menschlichen Mitglieder des Zirkus stürzen, als eine riesige Chimäre ihn von der Seite ansprang. Für einen Moment war ich von dem blutigen Schauspiel gebannt, bis mir wieder einfiel, was ich eigentlich wollte.
>>Schattenschwinge!<< brüllte ich und
rannte los.
>>Shadow!<< Sie stürzte aus einer Ecke auf mich zu und blickte mich ängstlich an.
>>Was ist hier los?<<
>>Mein Bruder ist los. Ich krieg ihn schon in den Griff, aber bitte, geh in den Wald und versteck dich. Versuche nicht, hier irgendwas zu ändern, ja?<<
Für einen Moment dachte ich, sie würde sich weigern, aber dann nickte sie und schlang die Arme um mich. Etwas verwirrt stand ich da und schaute auf sie herunter.
>>Pass auf dich auf. Versprichs mir.<< Mit Tränen in den Augen blickte sie zu mir auf und ich hätte meinem Bruder am
Liebsten die nächstbeste Mistgabel in den Arsch gerammt.
>>Ich verspreche es<<, erwiderte ich und kreuzte zwei Finger hinter meinem Rücken. Ich würde meinem Bruder einen Vorgeschmack auf die Hölle geben, da konnte ich nicht auf mich aufpassen.
Dankbar lächelte sie mich an und ich hätte mir die Mistgabel am Liebsten selbst in den Arsch gerammt.
Ich gab ihr einen kurzen Kuss auf die Nasenspitze und sagte gespielt optimistisch: >>Jetzt lauf Kätzchen.<<
Sie nickte und im nächsten Moment sah ich die kupferfarbende Katze davonlaufen.
>>Bad Luck, das wirst du mir büßen<<,
grollte ich und rannte los.
Meinen Bruder zu finden war eines der einfachsten Dinge dieser Welt. Immer da, wo das größte Chaos herrscht, ist er nicht weit.
Mit dem Rücken zu mir stand er dort und protzte mit seiner Magie. Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten und spürte ein bekanntes Prickeln.
Verdutzt starrte ich auf meine Hände. Die vertrauten kleinen, dunkelblauen Blitze zuckten über meine Haut. Also hatte Anubis Wort gehalten und einen Teil meiner Magie wieder freigesetzt.
Grinsend hob ich die Hände. Jetzt ist
Showtime.
Meine Finger zuckten kurz und die Blitze jagten auf meinen Bruder zu und schleuderten ihn gegen den nächstbesten Wagen.
Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich noch am Boden liegend zu mir um.
>>Wie? Du bist doch gar kein Dämon mehr! Du trägst die Zeichen nicht!<<
Ich stieß ein zugegebenermaßen irres Lachen aus und grinste diabolisch.
>>Brüderchen, du unterschätzt mich. Mal wieder.<<
Und mit einem dämonentypischen Fauchen sprang ich auf ihn zu und versuchte ihn zu rösten. Blitzschnell rollte er sich weg und versuchte als
Revanche mich zu grillen. Der Blitz fuhr einfach durch mich hindurch.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht war göttlich. Bevor er zur rohen Gewalt übergehen konnte, beförderte ich ihn gute fünf Meter zurück. Nicht gerade eine Meisterleistung.
>>Wie kann das sein?<<, flüsterte er und wischte sich Blut von der Wange.
>>Ich bin besser als du<<, erwiderte ich einfach und sprang nach vorne. Doch bevor ich ihn erreichte, ließen seine Worte mein Innerstes zu Eis gefrieren.
>>Und ich dachte, du liebst diese kleine Werkatze. Und jetzt lässt du zu, dass ein Dämon sie verfolgt und umbringt?<<
Jegliche Kampfeslust war erloschen und
mein Herz zog sich vor Angst zusammen. Ich beachtete Bad Luck nicht weiter und rannte los. Durch den Wald, immer Schattenschwinges Spur nach. Der Geruch von Dämon hing in der Luft und mein Herz raste.
Ich musste sie finden.
Verzweifelt ließ ich meinen Blick die Dunkelheit durchdringen und suchte mit dem inneren Auge nach ihr. Bäume und Büsche zogen an meinem geistigen Auge vorbei und jagten weit nach vorne. Ich sah den Dämon und die fliehende kleine Katze. Sie war zu langsam, viel zu langsam. Mit einem dreckigen Lachen packte er ihr Nackenfell und hob sie
hoch.
>>Nein!<< Mein Schrei hallte weit über den Wald und der Dämon hielt inne. Ich rannte, als wäre der Tod hinter mir her, begleitet von zwei Schatten. Der erste war Silver, der mit gottgleicher Geschwindigkeit an mir vorbeijagte. Der zweite war ein schwarzer Schakal. Anubis.
Ich knurrte und rannte schneller. Ich musste das alles verhindern. Wäre ich nie Schattenschwinge begegnet, wäre ich gestorben, als mein Bruder mich angriff, würde sie niemals in dieser Situation sein.
Geschickt sprang ich über den umgestürzten Baumstamm und raste auf
die Lichtung. Schattenschwinge wehrte sich nun in menschlicher Gestalt gegen den Dämon, aber sie war schwach, sie war nur menschlich.
Und ich war zu spät. Die Klinge blitzte auf und durchbohrte sie. Ihre Augen weiteten sich und sie öffnete den Mund. Ich wusste nicht, ob sie schreien wollte oder ihren letzten Atemzug holte. Achtlos ließ der Dämon sie fallen und zog die Klinge zurück.
Wütend riss ich den Mund auf und stieß einen Schrei aus, den kein Wesen, menschlich oder dämonisch, hervorbringen konnte. Erst jetzt bemerkte der Dämon mich und blickte mich an. Zitternd vor Wut und rasendem
Hass legte ich beide Hände an seinen Schädel und blickte ihm in die Augen. Ich ließ jede Emotion, die mich durchraste, den ganzen Hass, die ganze Wut, die ganze Trauer, in ihn fließen. Schließlich sackte er zusammen, mit Schaum vorm Mund und versteinerten Augen.
Schluchzend ließ ich mich neben Schattenschwinge auf die Knie fallen und betrachtete die Blutlache, die sich auf dem Waldboden ausbreitete.
Rasselnde Atemzüge erfüllten die Luft und ich wusste, warum Anubis gelaufen war.