Gebete
Etwas blitzte in der Sonne. Es waren die Waffen der Feinde. Der Heerwurm, der eine Säule aus Staub hinter sich herzog, kam immer näher.
Kath, der als Beobachtungsposten einen der riesigen Steinhügel erklommen hatte, konnte aus der anfangs nur als dunkle Masse erkennbaren Menschenschlange nun einzelne Gestalten erkennen.
Also hatten die Gebete, die der Stamm gestern den ganzen Tag gen Himmel geschickt hatte, keine Wirkung gezeigt. Die Erzfeinde kamen Kaths Heimatdorf immer näher.
Das feindliche Heer war durch einen
heimischen Jagdtrupp vor einigen Tagen zufällig entdeckt worden. Als er Kunde davon brachte, waren einige ängstliche Naturen in Angstschreie ausgebrochen. Salban, dem Priester, war es gelungen, die aufbrandende Panik zu beenden.
„Unsere Feinde sind zwar in der Überzahl“, hatte er mit seiner ruhigen Stimme, die sich wie Balsam auf die Sinne legte, gesagt, „doch sind sie ein gottloses Volk, das an keine höhere Macht glaubt. Das wird ihm zum Verhängnis werden, denn Gott ist auf unserer Seite. Wir leben in seiner Gnade. Er hat unsere Opfergaben immer angenommen, die guten Ernten in diesem Jahr beweisen es. Er wird uns auch
gegen unsere Feinde helfen.“
Ja, es stimmte. Üppig waren die Bohnenernte, die Weizenernte und die Kartoffelernte ausgefallen. Die Jagdtrupps waren immer auf Wild gestoßen, die Lager des Stammes waren voll des gesalzenen Fleisches. Ihr Volk konnte ohne Sorge den Winter erwarten. Kath nickte, so als wolle er damit seine Gedanken untermauern.
Dann hatte Salban zum gemeinsamen Gebet aufgerufen. Der gesamte Stamm, Frauen, Männer, Alte, Gebrechliche und Kinder hatten sich auf dem Dorfplatz versammelt, die Hände zum Himmel erhoben und Salbans Gebet nachgesprochen. Es waren nur wenige
Worte, die jedoch den ganzen Tag wiederholt wurden.
„Herr, vernichte unsere Feinde und gib uns ewigen Frieden.“
Am Abend, als die Sonne hinter den Hügeln versunken war, gab Salban das Zeichen zum Beenden der Gebete. Kath hatten die Kiefermuskeln geschmerzt, sein Mund war trocken gewesen und er hatte als Erstes seinen brennenden Durst gestillt.
Und nun saß er als Beobachtungsposten auf dem höchsten Hügel in der Umgegend. Mit einem Spiegel sollte er die Strahlen der Sonne einfangen und so ein Zeichen ins Dorf senden, falls die Feinde sich nähern sollten. Es war an
der Zeit. Er nestelte an seiner Leinentasche, die er bei sich trug, und holte die Spiegelscherbe hervor. Doch zu spät. Die Sonne, die ihm eben noch den Rücken gewärmt hatte, war verschwunden. Erstaunt schaute Kath zum Firmament. Dunkle Wolken waren aufgezogen. Sie begannen sich zusammenzuziehen und bedeckten in Kürze den gesamten Himmelskreis. Blitze zuckten auf und urplötzlich prasselten dicke Regentropfen zur Erde. In Sekundenschnelle war er nass bis auf die Haut. Der Regen fiel so dicht, dass er in der Ferne kaum noch sein Dorf ausmachen konnte. Auch die Feinde, in der entgegengesetzten Richtung waren
nicht mehr zu erkennen. Mittlerweile goss der Himmel das Wasser wie aus Zubern aus.
Das Wasser am Fuß des Hügels stieg immer höher an. Die Fluten waren nicht mehr zu bändigen. Aus Richtung der Feinde hörte Kath verzweifelte Schreie. Die Wassermassen schwemmten den Heerwurm vor sich her. Er sah die Menschenkörper unter sich im Wasser verschwinden, sah, wie sie an den Felsen zerschmettert wurden. Das Wasser trieb sie in seine Richtung. Er lachte. Gott hatte seinen Stamm also doch nicht verlassen. Wie im Gebet gefordert wurden die Feinde vernichtet.
Doch dann erstarb sein Lachen. Die
Wassermassen fluteten in Richtung seines Dorfes. Er konnte erkennen, wie die ersten Wogen die Hütten am Rand des Dorfes erreichten. Sie schwemmten sie hinweg, als seien sie aus Stroh. Die dunklen kleinen Punkte, die er im Wasser erkennen konnte, waren seine Stammesangehörigen, die um ihr Leben kämpften.
Irgendwann ließ der Regen nach. Kath wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Als der Regen ganz aufgehört hatte, konnte er von seinem Dorf nichts, aber auch gar nichts sehen. Es war verschwunden. So wie das Wasser und die Feinde verschwunden waren. Wie im
tiefsten Frieden lag die Landschaft vor ihm.
Gott hatte das Gebet seines Stammes erhört. „… und gib uns ewigen Frieden.“
Kath weinte.