„Wenn dir das hier nicht passt, dann kannst du sofort am 1. Januar ausziehen“, tönte meine Mutter. Sie war aufgebracht darüber, dass ich mir erlaubt hatte, sie in die Schranken zu weisen. Hatte sie mich doch tatsächlich schon wieder geschlagen, weil ich in ihren Augen wieder Schuld sein sollte… Meine Schwester Simone hatte auf ihrer Lehrstelle geklaut. Es wurde keine Anzeige gemacht und sie durfte auch weiter dort bleiben. Dafür hatte Vater gesorgt. Meine Mutter war der Meinung,
ich hätte Simone zu dem Diebstahl angestiftet. Was natürlich nicht stimmte. Mutter ging auf mich los, wie eine Furie und schlug mir mitten ins Gesicht. All die Jahre hatte ich mich niemals gewehrt. Aber das war nun der Gipfel! Sagte ihr, dass ich sie anzeigen werde, wenn sie mich noch ein einziges Mal schlägt. „Dann kannst du weiter rumhuren, mit alten Böcken und deinem tollen Freund“, ereiferte sie sich weiter. Ich schwieg und sagte nichts mehr und beschloss in der Tat mit Inkrafttreten des neuen Volljährigkeitgesetzes auszuziehen. Dies ohne Vorankündigung. Bei dieser Überlegung ging es mir direkt
besser. Obwohl, ich war wiederum sehr geschockt über ihre Anschuldigungen, bezüglich meines Freundes und angeblicher alter Männer. War ich doch mit meinen 19 Jahren eigentlich noch Jungfrau (abgesehen von dem jahrelangen sexuellen Missbrauch meines Vaters..,) Meine Schwester Simone wirkte abends dann so, als wenn ihr das nichts anginge, dass unsere Mutter mich wegen ihr geschlagen hat. Dieser Tag war nun wieder einer von den vielen „schwarzen“ Tagen in meinem noch so jungen Leben. „Schön, dass ich für dich meinen Kopf hinhalten darf. Danke
dir“, sagte ich zu meiner Schwester. „Ja, indirekt bist du doch Schuld daran. Würdest Du nicht rauchen, hätte ich das doch nicht gemacht. Ich hab sie doch für dich genommen“, verteidigte sie sich frech. Am nächsten Tag, es war ein Samstag, kam Martin mich abholen. Wir wollten zu ihm nach Hause fahren. Es gab noch Diskussionen mit meiner Mutter. Sie wollte mich nicht fahren lassen. Martin schaffte es dann, dass ich doch wie von uns Beiden vorgesehen, mitfahren durfte. Glücklich fuhren wir mit dem Zug, der fast leer war, und so saßen wir allein im
Abteil. „Ich kann nicht mehr“, meine Mutter schlägt mich immer noch. Alles, was schief läuft bin ich schuld dran...“ sagte ich und lehnte mich mit dem Kopf an Martins Schulter. „Was ist denn los gewesen“, wollte Martin wissen und legte seinen Arm um meine Taille und zog mich etwas näher zu sich heran. „Na sie hat mir eine geballert, weil Simone geklaut hat und ich soll sie dazu angestiftet haben. Das muss man sich mal vorstellen. Kommst nichts ahnend rein und bekommst eine mitten ins Gesicht.“ „Das tut mir leid für dich“, erwiderte Martin und streichelte mit seiner freien
Hand meine Wange. Ich schloss die Augen und genoss einfach dieses Gefühl. Fühlte mich einfach sicher und geborgen. Kurz bevor die Fahrt zu Ende ging, erzählte ich Martin von meinem Entschluss, dass ich im Januar 1975 ausziehen will. Martin schaute mich ziemlich überrascht an und fragte: „Wohin willst du dann“? Er überlegte kurz und sagte: „Vielleicht kannst du erst Mal bei uns unterkommen. Die Geli ist doch jetzt ausgezogen. Da wäre ja Platz“. „Ja wäre keine schlechte Idee. Da hätte ich quasi mein eigenes Zimmer“, überlegte ich. „Gut, ich frage meine „Alten“ heute mal,
wenn du weg bist. Wenn du dabei bist, sagen sie vielleicht direkt nein.“ Der Zug war inzwischen am Ziel angekommen und wir stiegen aus. Da ich ohnehin inzwischen in der Stadt, wo Martin wohnte, eine Anstellung im öffentlichen Dienst in der mittleren Laufbahn bekommen hatte, wäre es wirklich nicht schlecht, dort direkt zu wohnen, überlegte ich noch weiter, während wir zur Bushaltestelle gingen. Der Bus kam so gar pünktlich, was nicht sehr oft der Fall war, bei dieser Bus-Linie. - -
- “Es geht alles klar. Du kannst Gelis Zimmer haben, wenn du so weit bist und zu Hause ausziehst“, sagte Martin mir am darauf folgenden Wochenende, als er wie gewohnt am frühen Samstagmittag kam. Dieses Mal blieb er bei uns. Mutter hatte sogar Kuchen gebacken. Was mich doch sehr erstaunte. Begann sie zu akzeptieren, dass ich nicht von Martin ablassen würde? Oder ahnte sie irgendetwas? So ganz traute ich dem Braten nicht. Kannte ich meine Mutter doch in- u. auswendig. Beim Kaffeetrinken kam es
dann wie es kommen musste… sie fragte Martin über dies und jenes aus und gab zu allem Kontra. Natürlich, ihr war ja nie etwas gut genug. Martin schien es nichts auszumachen. Er war wohl auf seine Art dickfelliger und steckte einiges weg. Nach dem Abendbrot und dem obligatorischen Samstagabend-Krimi verabschiedete sich Martin und ich brachte ihn noch zur Straßenbahn, mit der er zum Bahnhof fahren wollte. Normalerweise wäre er zu Fuß zum Bahnhof gelaufen, aber die Zeit drängte schon etwas. Zu Fuß hätte er den Zug
verpasst. Wir standen einige Minuten noch eng umschlungen an der Haltestelle bis die Straßenbahn pünktlich auf die Minute ankam. Ich winkte Martin noch lange nach, bis die Straßenbahn um die Ecke aus meinem Sichtfeld verschwand. Es fiel mir mit jedem Male schwerer ohne ihn zu sein. Oh Graus, ich konnte mir schon denken, was bei meiner Rückkehr zu Hause auf mich wartete… stundenlange Vorträge über Martin. Mutter würde mich durch die Mangel nehmen und an Martin kein gutes Haar lassen. Und richtig, ich war
kaum in der Küche, ging es schon los. Wie ein Maschinengewehr ratterten ihre Worte über mich hinweg. Am liebsten hätte ich mir demonstrativ die Ohren zugehalten. Aber es lag mir fern, sie obendrein auch noch zu provozieren, obwohl mir ganz danach war. Also saß ich äußerst verspannt, aber nach außen hin sehr artig auf meinem Stammplatz, und ließ den Wortschwall meiner Mutter über mich ergehen. Mutter schaffte es dieses Mal nicht, dass ich ihr so wie früher, nach dem „ Mund redete“ bzw. alles bejahte. Ich schwieg einfach. Sie wurde darüber sehr wütend, als sie feststellen musste,
dass ihre Sticheleien keinerlei Wirkung bei mir zeigten. „Ach, hat der Dreckskerl dich schon so weit in der Hand, dass du hier zu Haus rebellierst“, knurrte sie mich an. Eine Antwort oder Verteidigung bekam sie dennoch nicht von mir zu hören. „Morgen Abend ist die Tanzschule für dich gestrichen, du Flittchen. Denkst wohl du könntest überall rummachen“, sprach sie abschließend und ging ohne eine gute Nacht zu wünschen schnurstracks ins Schlafzimmer. Ich saß da, wie vom Donner gerührt. Fast hätte ich wieder geweint. Die
Tränen blieben aus, eine unbändige, fast schon unkontrollierbare Wut setzte in meinem Inneren ein und tobte die ganze Nacht. Ich schlief sehr unruhig. Die Wut dauerte auch den ganzen drauffolgenden Sonntag noch an. Die Wut und der tiefe Schmerz, den ich jedes Mal empfand, wenn „sie“ mich so klein machte und ungerecht wurde. Montagmorgen ging ich aus dem Haus, so wie immer und ich nahm den Zug nach B. um den Dienst anzutreten. Irgendwas ließ mich dort angekommen, nicht den gewohnten Weg einschlagen, um zur Dienststelle zu gelangen. Nein, vielmehr
lenkte ich meine Schritte in Richtung Bushaltestelle und fuhr mit dem Bus zu Martin. Er war auf der Arbeit, natürlich das hätte mir klar sein müssen. Seine Mutter freute sich aber, dass ich kam. Sie kochte mir einen Kaffee und fragte, ob ich nicht arbeiten müsse. Ich log ihr was vor, von wegen ich hätte ohnehin zum Zahnarzt gemusst und hätte mir gleich den ganzen Tag frei genommen. Sie nahm es mir ab, oder tat zumindest so. Irgendwann kam dann Martin von der Arbeit. Ich hatte ihn noch nie in
Arbeitsklamotten gesehen. Er sah entsprechend der Arbeit, die er verrichtete, nicht gerade „sauber“ aus, aber das tat seiner Ausstrahlung keinen Abbruch. „Guck mal, wer hier ist“, rief seine Mutter direkt aus der Küche, als sie ihn an der Wohnungstür reinkommen hörte. Martin strahlte mich an und fragte aber direkt: „Ist was passiert“? In Anwesenheit seiner Mutter erzählte ich die gleiche Story, wie schon am Vormittag gegenüber seiner Mutter. Seine Mutter machte sofort noch mal das Mittagessen für ihn warm, während er im Bad verschwand. Frisch gebadet und umgezogen, aß Martin mit gesundem
Appetit. Nachdem er seine Zigarette aufgeraucht hatte, sagte er: „So ich bring dich dann mal bis zum Bahnhof. Es ist ja schon später als sonst, deine Mutter wird schimpfen, wo du gewesen bist“! Ich sagte erstmal nichts und verabschiedete mich bei seiner Mutter, nicht ohne mich für Speis´ und Trank zu bedanken. Wir zogen unsere Jacken an und verließen die Wohnung. Martin und ich gingen zur nahe gelegenen Bushaltestelle, die an einer kleinen Wiese bei der Kirche lag. Dort druckste ich zuerst herum und schimpfte dann über meine Mutter, vor allem dass sie mir verboten hatte, zur
Tanzschule zu gehen und mich wieder als Flittchen bezeichnet hatte. Martin versuchte mich zu beruhigen und nahm mich fest in die Arme. Wir fuhren dann mit dem Bus zum Bahnhof. Ich sagte Martin, dass ich erst den nächsten Zug nehmen würde, weil ich einfach noch etwas bei ihm bleiben wolle. Martin war von dieser Idee nicht wirklich begeistert, aber er konnte mich nicht zwingen, den Zug zu nehmen, der nun bald kommen würde. Wir gingen durch die Einkaufsstraße und schauten uns die Schaufenster an. Insgeheim beschloss ich dann, diesen
Tag nicht mehr nach Hause zu fahren. Ärger bekäme ich sowieso und da das Gesetz der Volljährigkeit mit 18 ja nun nicht mehr weit entfernt war, sollte meine Mutter ruhig merken, dass ich alt genug bin. Martin sah mich erstaunt an, aber er freute sich doch, mich noch bei sich haben zu dürfen. Wir schliefen die Nacht in seinem Zimmer zusammen in einem Bett. Ich kuschelte mich eng an ihn. Martin streichelte mein Gesicht und küsste mich zunächst ganz zärtlich. Irgendwann wurden seine Küsse immer fordernder und auch seine Hände
erforschten nun meinen Körper. Ich hielt den Atem an und lag ganz still - verspürte seltsamerweise keine Angst oder Abscheu. Als sein Körper und seine Hände eindeutiger wurden, hielt ich seine Hand fest und sagte nun doch ängstlich: „Bitte nicht“. „Ist okay, Mädchen, du musst keine Angst haben“, erwiderte Martin und rückte etwas von mir ab ohne mich aber loszulassen. Mir kamen die Tränen. Er streichelte beruhigend meinen Rücken und darüber schliefen wir ein. Am anderen Morgen verließ ich mit Martin das Haus und ging arbeiten. Nach Feierabend fuhr ich mit demselben
Zug wie sonst auch nach Hause. Zu Hause angekommen verließ mich der Mut. Ich ging zurück zum Bahnhof um den Zug nach B. zu nehmen. Martin fiel aus allen Wolken. Er konnte mich aber nicht dazu bewegen nach Hause zu fahren. So verbrachte ich eine weitere Nacht bei Martin.
Anderntags stand mein Vater vor meiner Dienststelle. Er war mit dem Auto da. Wir schwiegen beide. Kurz bevor wir mit dem Auto in unsere Straße einbogen, fragte mein Vater: „Was willst du jetzt machen“? Ich verstand nicht recht, wie er das meinte. Er bot mir eine Zigarette an. Wir rauchten und schwiegen. Ich
nahm an, seine Frage galt mehr der Aussicht, dass ich in paar Monaten tun und lassen konnte, was ich für richtig hielt. Aber auch ihm wollte ich es nicht sagen, dass mein Entschluss fest stand.
Vielleicht bemerkte er an meiner Mimik, dass ich zu gesperrt hatte und er mir nichts entlocken konnte. Er drängte und bohrte nicht. So gingen wir zu Hause angekommen, schweigend ins Haus.