Während ich noch so meinen Gedanken nach hing, waren Marion und ich bereits an der verglasten Eingangstür angelangt. Wir traten hinaus auf den Bürgersteig. „Wir können ja nun langsam zurück gehen in Richtung Bahnhof“, schlug ich vor. „Ja“, erwiderte meine Freundin, „wir kennen ja den Weg“ und hakte sich bei mir ein. Just in diesem Moment kam der Typ, mit Namen Holger, aus dem Café. „Ich kann euch ja noch ein Stückchen begleiten“, sprach er und trottete neben uns her.
Marion sah mich zwinkernd an, wobei ich die Augen verdrehte. „Wart ihr schon mal auf einer großen Kirmes? Bei euch da in dem kleinen Ort, ist die bestimmt nicht so schön und groß, wie unsere Frühjahreskirmes“, sagte Holger nach einer Weile. „Wann fährt denn euer Zug?“. Wir hatten eigentlich noch zwei Stunden Zeit, bis der Zug fuhr, den wir immer nahmen, wenn wir vom Werksunterricht kamen. Begeistert war ich zwar nicht, aber ich stimmte mit zu, dass wir uns die Kirmes mal anschauen
könnten. Ich staunte nicht schlecht – so viele Fahrgeschäfte und Buden gab es bei uns tatsächlich nicht annähernd. Die Zeit verging wie im Fluge. Als wir bei der Scooterbahn standen und zusahen, kam ein anderer Typ auf uns zu. „Hallo Holger, na Kumpel wie is es“, sprach der unseren Begleiter an. „Ach, immer der selbe Krampf zu Hause. Kennst das ja“, erwiderte Holger. Die beiden jungen Männer unterhielten sich dann über Fußball. Marion und ich standen etwas hilflos daneben. Der Typ, der den Holger gut zu kennen schien, fragte mich dann urplötzlich: „Wie heißt du
denn?“. Ich sagte ihm meinen Namen. „Ich bin der Martin“, stellte er sich artig vor und gab mir seine Hand. Marion staunte sprachlos, dass sie von ihm nicht beachtet wurde. Es kam wie es kommen musste - unseren Zug würden wir nicht mehr erreichen. Mir war es in dem Moment eh schon egal. Jede Menge Ärger war zu Hause ohnehin schon vorprogrammiert. So blieben Marion und ich noch länger als geplant auf der Kirmes. Irgendwann sagte Marion: „Ich gehe mit Holger mal ´ne Runde über den Platz“, und verschwand mit ihm. Nun stand ich allein mit Martin
da. Er fragte mich regelrecht aus: Wo ich wohne, was ich in der Stadt mache, warum wir nicht beim Unterricht waren… Zu meinem Erstaunen gab ich bereitwillig Auskunft. Irgendwie hatte Martin direkt einen Stein bei mir Brett, weil er sich so artig vorgestellt hatte. Je später es wurde, desto mehr hatte ich „Bammel“ davor nach Haus zu fahren. Mir viel einfach nichts Gescheites ein, was ich zu meiner Entschuldigung hervorbringen könnte. Martin bot sich dann an, mich nach Hause zu bringen.
Marion war nicht mehr aufgetaucht. Wir warteten noch eine halbe Stunde. Sie kam nicht mehr zurück. „Vielleicht ist sie ja schon am Bahnhof“, meinte Martin. „Komm lass uns gehen“. Mir war nicht ganz wohl in der Haut. Was, wenn ihr was passiert war mit dem Typen? Aber was sollte ich sonst tun? Wir hatten nun lang genug gewartet. So ging ich mit Martin zum Bahnhof. Ich kannte den Fahrplan aus dem Kopf, da der Zug immer alle zwei Stunden zur selben Zeit fuhr. Wir mussten das letzte Stück richtig laufen, sonst hätten wir
wieder zwei Stunden warten müssen. Martin hatte mich beim Rennen ganz einfach an die Hand genommen. Natürlich war ich längst nicht so schnell wie er und ich stolperte ein paar Mal fast über meine eigenen Füße. Bis ich dann fast auch noch lang hingefallen wäre, wenn Martin mich nicht aufgefangen hätte. Oh, was für wunderschöne grünblaue Augen, dachte ich, als er mich lachend auffing, und so schöne lange Wimpern. Er sah an mir herunter und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er kniete sich dann hin, als er einen offenen Schnürsenkel an meinen Schuhen bemerkte und band
ihn wieder zu. „Du bist ja ein richtiger Kavalier“, sagte ich zu ihm. Er wurde etwas verlegen und antwortete: „Kann schon sein, aber ich bin halt nun mal so“. Die Zugfahrt verlief fast schweigend. Das war mir ganz recht so. Denn mit jedem Kilometer schnürte mir die Angst, vor dem, was mich erwartete, die Luft ab. Nach gut einer Stunde Zugfahrt kamen wir an. Auf dem Fußweg bis zu der Straße, wo ich wohnte, hatte Martin mich wieder wie selbstverständlich an die Hand genommen. Zu Hause angekommen klingelte ich
ängstlich, wie immer drei Mal, als Zeichen, dass kein Fremder klingelt. Es dauerte eine Ewigkeit bis der Türdrücker summte. Ich drückte die Tür auf und stieg die paar Stufen zu unserer Wohnung hinauf. Martin blieb einfach an meiner Seite. An der Wohnungstür war niemand. Weder meine Mutter, noch mein Vater oder gar meine Schwester. Mir schlug eine eiskalte beängstigende Stille entgegen. Mutter und Vater saßen beide scheinbar harmonisch vereint vor dem Fernseher. „Guten Abend“, sagte ich höflich und blieb an der Wohnzimmertür stehen. Es
kam keine Reaktion. Martin trat an mir vorbei hinein ins Wohnzimmer: „Guten Abend, Frau Völkel, ich bringe Ihre Tochter nach Hause. Wir gehen zusammen auf die Werkschule und wir hatten den Zug verpasst.“ Meine Mutter sah ihn vernichtend an und sagte: „Ja, dann können Sie nun gehen“. Martin drehte sich zu mir um und schaute mich um Hilfe suchend an. Aber ich konnte nichts tun. Ich nickte ihm nur zu. Sagen konnte ich vor lauter Angst nichts. Martin ging dann zur Wohnungstür und ich ging mit ihm mit. Ich öffnete ihm die Tür und sagte leise:
„Danke fürs Nachhausebringen“. Er gab mir die Hand und verabschiedete sich und verließ das Haus. Irgendwie war ich ganz traurig, dass Martin nun fort war. So traurig, dass ich meine Angst vor der Standpauke einige Minuten vollkommen vergaß. Ich ging am Wohnzimmer vorbei, geradeaus in die Küche. Dort standen noch die Töpfe vom Mittagessen, so als hätte man noch immer auf mich gewartet. Aber das glaubte ich weniger. Viel mehr war das bloß eine Zurschaustellung, dass man auf mich warten musste und ich nicht erschienen war zum
Essen. Irritiert über die Ruhe, die immer noch herrschte, holte ich mir die Milch aus dem Kühlschrank und schüttete mir ein Glas Milch ein. Gerade als ich etwas davon trinken wollte, bemerkte ich meine Mutter im Türrahmen der Küche. Sie sagte immer noch nichts – vollkommen untypisch für sie. Ehe ich eine Erklärung für ihr Verhalten fand, fragte sie mich: „Was war das denn für ein Vogel“? Ich sagte, was Martin auch als Notlüge gesagt hatte, nämlich, dass er auch auf der Werksschule sei, aber nicht als
kaufmännisch Auszubildender. „Und warum bist Du nicht direkt nach Hause gekommen“, setzte meine Mutter direkt nach. Sie stand da, wie die Rache persönlich. Ich wagte kaum, sie anzusehen und dachte immer nur, dass gleich die Standpauke kam, weil ich gar nicht im Unterricht war. Aber sie gab sich damit zufrieden, dass wir alle den Zug verpasst hätten, weil Handwerker im Gebäude waren und wir durch einen langen verwinkelten und uns fremden Trakt gehen mussten, um auf Umwegen zum Ausgang des Gebäudes zu gelangen. Sie kaufte mir das ab, ohne zu Bohren wie sonst. Ich wusste nicht, was sie so verhältnismäßig friedlich
stimmte. Normalerweise hätte es einen ellenlangen Vortrag gegeben. Sie ging direkt wieder ins Wohnzimmer. Mein Vater sagte keinen Ton. Erleichtert trank ich die Milch aus und ging ins Bad, um mich für die Nacht fertig zu machen. Es war eigentlich noch nicht allzu spät, aber ich wollte nicht länger in der Nähe meiner Mutter bleiben. So ging ich direkt nach oben ins Dachgeschoss, wo meine Schwester und ich, unser Zimmer hatten. Meine Schwester lag im Bett und las eine Jugendzeitschrift. Als ich ins Zimmer kam, löcherte sie mich direkt mit
allerlei Fragen. Ich erzählte total aufgeregt, was sich so zugetragen hat. „Kommt er denn noch mal wieder“, fragte Simone. „Ich weiß es nicht, er ist ja ganz schnell weg. Mama hat ihn quasi raus geschmissen“, erinnerte ich mich. So ging dann der aufregende Tag langsam zu Ende. Noch während ich in den Schlaf hinüber glitt, dachte ich an Martin. Am nächsten Morgen musste ich mir natürlich einen „Rüffel“ bei unserem Ausbildungsleiter abholen. Aber auch dies lief einigermaßen glimpflich ab. Meine Eltern waren nicht informiert worden. Marion hingegen muss ziemlich
viel Ärger bekommen haben. Sie war erst spät abends nach Hause gekommen. Sie schwärmte immer noch in den höchsten Tönen von diesem Holger. Ich hörte gar nicht richtig hin. Für mich war das halt ein „Hans Dampf in allen Gassen“. Sie würde schon noch dahinter kommen, dachte ich mit einer leichten Schadenfreude. Wochenende. Endlich. Sonntagnachmittag klingelt es. Ich mache auf und wer steht da vor mir? Martin! Er strahlte mich an und sagte: „Ich möchte gern mit Dir spazieren gehen. Ob Deine Mutter das erlaubt?“. Dazu
konnte ich nichts sagen. Noch ehe ich sie fragen konnte, stand sie schon hinter mir und sagte: „Ab mit euch, aber nur zwei Stunden“. Ich dachte nicht lang über meine Mutter nach, sondern schnappte meinen Midi-Mantel und schlüpfte eilig in meine knallroten ziemlich hohen Plateaupumps. Die waren jetzt passend, schließlich war Martin doch 12 cm größer als ich. Schnell verließen wir das Haus und gingen direkt nach links, zum „Schwarzen Weg“, wie wir Einheimischen den Weg entlang den Gleisen nannten, weil dieser Weg direkt an ein großes Werk angrenzte, das mit
einer hohen Mauer umgeben war und immer ein wenig düster wirkte. Die längseits verlaufende Böschung, hinauf zu den Gleisen, verstärkte den Eindruck noch, da sie stets total verwildert und sehr dicht bewachsen war mit allen möglichen Sträuchern. Hier am Weg entlang war es immer etwas dunkel, da er auch nicht sehr breit war. Außer Sichtweite nahm Martin direkt meine Hand. Es fühlte sich einfach richtig an, so mit ihm spazieren zu gehen. Während wir den „Schwarzen Weg“ entlang gingen, erzählte ich Martin, dass wir, meine Schwester und ich, als Kleinkinder immer im Winter mit
dem Schlitten die Böschung hinauf gekraxelt und von dort oben runter gesaust sind und mit voller Absicht und Wucht gegen die Werksmauer. Der Schalk musste mir wohl bei der Erinnerung im Nacken gesessen haben, denn Martin sah mich an und sagte: „Du bist ja wohl ne kleine Freche gewesen und bestimmt süß“ und strich mir eine vorwitzige Strähne aus der Stirn.
Wieder war ich hin und weg. Das so ein kräftiger und großer Mann, zu solchen zarten Gesten fähig ist, das hätte ich nie für möglich gehalten. Dann fragte er mich ohne eine Spur der Verlegenheit, wohin wir gehen könnten. Ich schlug
unseren kleinen Stadtpark vor. Der Weg dorthin war in 20 Minuten bewältigt. Es war ein schöner Tag. Wenn es auch noch etwas kalt war, so schien die Sonne und der Wind hatte eine Pause eingelegt. So konnten wir im Park auf einer Bank sitzen und die Enten im kleinen Teich beobachten.
Wir sprachen nicht viel. Martin erzählte von seiner Arbeit, dass er bis Samstagfrüh Nachtschicht hatte, weil er im Straßenbau arbeite und man halt die Straßenbahnschienen am besten nachts verlegen könne. Die meiste Zeit jedoch schwiegen wir und genossen es einfach nebeneinander zu sitzen und uns an den
Händen halten zu können. Später gingen wir dann den gleichen Weg zurück und Martin setzte mich pünktlich wieder zu Hause ab. Als ich wie immer, drei Mal geklingelt hatte, nahm Martin mich plötzlich in den Arm und hauchte mir einen kleinen Kuss auf die Wange. Ich fiel beinahe buchstäblich mit der Tür ins Haus, weil ich mit dem Rücken zur Tür stand und im selben Moment der Türdrücker ging. Wieder musste Martin mich auffangen, was noch mehr Verlegenheit in mir auslöste. Wie auch schon beim ersten Mal, blieb Martin beim Reingehen einfach neben mir. Meine Mutter stand an der
Wohnungstür. Sie sagte nichts und bat ihn auch nicht herein. Wenigstens erwiderte sie diesmal Martins Abschiedsgruß. Vier Jahre später sollte ich Martin dann zum Ehemann nehmen. Was ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht ahnte und noch nicht bereuen konnte
Fortsetzung folgt