Wenn ich in einer Schafsherde leben müsste, wäre ich gerne das schwarze Schaf. Das Schaf, das jeder anschaut, das Schaf, das vielleicht die Zielscheibe für den Hohn und den Spott der anderen ist, aber auch das Schaf, das man niemals vergisst. Das Schaf, von dem man auf bewundernde Weise spricht und das man verachtet. Hauptsache man bemerkt mich, egal auf welche Art. Ich möchte mich von den anderen unterscheiden und nicht dieser Herde folgen, das sagen, was ich denke und nach Westen aufbrechen, wenn alle anderen nach Osten gehen. Die anderen das denken lassen, was ihnen richtig erscheint und einfach glücklich sein. Das
neugierige Schaf, das alles entdecken will, das Schaf, das unermüdlich versucht, den Zaun zu überwinden. Das Schaf, das stört und beeindruckt. Das die Welt erkundet und die anderen inspiriert. Das Schaf, das den anderen Schafen Lust macht, sich die Wolle zu färben. Jedes in seiner eigenen Farbe. Ich will einzigartig, andersartig sein. Das Schaf, das keine Angst vor dem Wolf hat.
Ja, das schwarze Schaf ist anders. Man sieht es von weitem, es kann sich nicht an die anderen anpassen. Es kann nichts dafür, es ist so auf die Welt gekommen. Es hat nicht dasselbe Schicksal wie die
anderen, und nicht denselben Weg. Manchmal wird es unverstanden und alleine sein. Aber es wird all diejenigen prägen, die seinen Weg kreuzen.
Es war nicht immer so mutig, das kleine Schaf. So befreit von allen Komplexen, wenn man es daher kommen sieht mit noch nie da gewesener Leichtigkeit, dieser Lust sich zu zeigen, gesehen zu werden. Nein, das kleine Schaf hat lange Zeit versucht sich zu verstecken. Mit dieser riesigen weissen Masse, die die anderen Schafe formen, zu verschmelzen. Die normalen Schafen, denen man ähnlich sein muss, um nicht entdeckt zu werden. Aber so sehr es sich
auch bemühte, das schwarze Schaf hat dieses einfache Leben nie erreichen können, es konnte nicht das ändern, was es war. Ein schwarzes Schaf, verloren zwischen den weissen. Das Schaf, dass nicht dazu passt. Ein schwarzer Fleck in einer weissen Umgebung.
Also akzeptierte dieses kleine, schwarze Schaf eines Tages seine Andersartigkeit. Und es begann all die Dinge zu tun, von denen man ihm gesagt hatte, dass es sich nicht gehöre sie zu tun, die Dinge, die nicht gern gesehen werden. Es blühte auf. Sehr schnell bemerkte es, dass sein Leben letztendlich weitaus interessanter war, als das Leben der anderen. Es
stellte auch fest, dass etwas, das allgemein als schlecht angesehen wurde, nicht zwingend negativ sein musste. Nur weil die Mehrheit dasselbe behauptete, hatte sie noch lange nicht recht. Die einzigen Grenzen, die es im Leben gibt, sind die, von denen wir glauben, dass sie existieren, es sind die Grenzen, die wir uns selber setzen. Wenn man etwas nie versucht, wie kann man dann sicher sein, dass es einem nicht gefällt? Dass man es nicht schafft? Das kleine schwarze Schaf wurde sich bewusst, dass man aus jeder Schwäche eine Stärke machen konnte, man musste nur an sich glauben und es einfach versuchen. Nichts ist von vornherein gut
oder schlecht, erst Ansichten machen es dazu. Und als es das begriffen hatte, fing es an nachzudenken.
Die anderen Schafe bemerkten nichts. Sie betrachteten ihn immer noch von oben herab, sie lachten immer noch über es. Sie hatten immer noch sehr viel Respekt vor dem Schäfer und eine Heidenangst vor dem Wolf. Aber das, was sie am meisten terrorisierte, war die Meinung der anderen Schafe. Und sie waren sehr zufrieden, dass sie jemanden gefunden hatten über den sie reden konnten. Jemanden, der durch sein Alleinsein offenbar verletzlich war. Aber das, was die weissen Schafe nicht
wussten war, dass das schwarze Schaf in seinem Geiste sehr stark geworden war, und noch stärker in seinem Herzen.
Und dies war der Grund wieso sich das schwarze Schaf nicht für das Gerede interessierte. Es gab einfach keinen Grund dazu. Ob sie nun von ihm sprachen, im Guten oder im Schlechten, es blieb trotzdem ein Schaf. Es frass immer noch dasselbe Gras wie sie und es lebte immer noch unter der gleichen Sonne, auch wenn es nicht mehr denselben Horizont wahrnahm. In Wahrheit konnte die Meinung der anderen Schafe es nicht treffen. Es verstand nicht, wieso die weissen Schafe
sich so sehr vor der Aufmerksamkeit der anderen fürchteten. Sie formten eine grosse Gruppe, aber das Schaf, das wirklich stark war, war das einsame Schwarze, das sich vor nichts und niemanden fürchtete. Langsam stieg Mitleid im Wesen des kleinen schwarzen Schafes auf.
Es war die Angst, die die anderen definierte. Die Panik konnte sie in jedem Moment überfallen, sie waren so schwach. Das Weiss war ihr Schicksal.
Weiss. Die Farbe der Unschuld, des Friedens, der Kapitulation. Die Farbe des Aufgebens. Innerlich bedeutete dies auch
die Selbstaufgabe, die Selbstverleugnung. Den Verlust jeglicher Individualität. Und auch den Verlust jeglicher Kreativität. Nichts unterschied sie von einander, sie gliechen sich alle, wenn sie blind und naiv den Regeln folgten, die ihre tägliche Routine einrahmten. Aus all dem ging am Ende nur der Verlust jeglicher Personalität hervor.
Je mehr das schwarze Schaf darüber nachdachte, desto stolzer wurde es über das, was es selbst war. Das schwarze Schaf, das für die anderen das Unbekannte und ein Rätsel symbolisierte, aber auch Eleganz. Schwarz, die Farbe
der Auflehnung und der Anarchie.
Ja, das schwarze Schaf hatte eine eigene Persönlichkeit. Im Gegensatz zu allen Schafen, die es kannte, würde es niemals in Vergessenheit geraten. Ganz einfach, weil es weder gewöhnlich noch bedeutungslos war. Es war alleine und isoliert, in einem ständigen Tête-à-tête mit sich selbst aber es existierte durch sich selbst, ohne eine Herde zu benötigen, um sich zu verteidigen oder sich zu behaupten. Weil es keine Angst mehr hatte. Im Gegensatz zu ihnen war es stolz, wenn die anderen Schafe es fixierten und es musterten. Es hatte begriffen, dass all dem meistens nur ein
stummer Neid zu Grunde lag. Oh ja, sie waren neidisch. Sie wären so gerne so mutig, wie dieses kleine Schaf, wenn es sich vor ihren Augen herrlich amüsierte. Wenn es überall herum sprang wie ein junges Lamm, das sich noch nicht davor ängstigte, die Aufmerksamkeit des Wolfes auf sich zu ziehen. Wenn es aufbrach die süssesten Grässer ganz am Rande des Zaunes zu verspeisen und manchmal selbst auf der anderen Seite, indem es den Kopf über den Zaun beugte. Und wenn es versuchte aus ihrer so sicheren, so schützenden Weide auszubrechen. Sie waren zwar eingesperrt und konnten die Weide nicht verlassen - aber es konnte auch nichts
hinein kommen.
Und das beruhigte sie. So grasten sie friedlich weiter, niemals zu weit vom Zentrum der Koppel entfernt und immer in sicherer Entfernung vom kleinen, schwarzen Schaf. Dieses hatte es aufgegeben zu versuchen ihre Meinung zu ändern.
Aber, eines Tages, entgegen allen Erwartungen, wurde das schwarze Schaf von einer kleinen Truppe weisser Schafe angesprochen. Sie waren keine Lämmer mehr, aber sie waren auch noch keine erwachsenen Schafe geworden. Sie befanden sich auf diesem kleinen Abschnitt des Lebensweges auf dem es
noch möglich ist aus sich heraus zu gehen und seine Angst zu vergessen - manchmal aus Dummheit und manchmal auf vernünftige Weise. Sie waren jung, und somit auch neugierig.
Sie wollten es ausfragen, es verstehen. Es machte sie stutzig. Aber vor allem hatten sie keine Lust mehr Angst zu haben. "Wie machst Du das?" wollten sie wissen. "Wieso bist Du nicht wie wir?" und vor allem "Was müssen wir tun, um so zu werden wie Du?" Über diese letzte Frage musste das schwarze Schaf schmunzeln. Es würde ihnen noch einiges zeigen müssen, bevor sie begreifen können würden, dass sie eben
nicht so werden sollten, wie das schwarze Schaf selbst.
Aber das schwarze Schaf freute sich auch sehr. Obwohl es von den weissen Schafen noch nie irgendeine Form der positiven Aufmerksamkeit erfahren hatte, hegte es kein Misstrauen. Es war einfach froh darüber, dass sich hier vielleicht eine Tür öffnete um den anderen Schafen zu helfen, um sie aus ihrem öden Dasein zu befreien. Und es schwor sich, diese Tür nicht wieder zu fallen zu lassen. Auch wenn es nur eine kleine Gruppe junger Schafe war, so konnten sie doch dazu beitragen etwas zu verändern. Egal wie gross oder wie viele man ist, kleine
Schritte reichen bereits aus um einen neuen Weg einzuschlagen. Man muss sich nur trauen, den ersten Schritt zu machen. Und das hatten diese Jungschafe getan. Sie hatten sich getraut. Und Schritt für Schritt nähert man sich so seinem Ziel.
Und so nahm das kleine, schwarze Schaf sie mit auf seine Erkundungen. Es zeigte ihnen die schönen Dinge im Leben, die die anderen nur deswegen nicht taten, weil sie noch nie jemand davor getan hatte. Sie sahen keinen Nutzen darin und waren absolut zufrieden mit dem, was sie bereits hatten und waren. Aber das schwarze Schaf hatte gelernt, dass man
immer noch etwas mehr vom Leben erwarten konnte. Man dufte sich nur nicht aufhalten lassen und musste Schritt für Schritt seinen eigenen Weg gehen. Und es hatte innerlich immer gehofft, eines Tages nicht mehr alleine zu sein. Denn genau solche Schafe braucht man, um etwas zu bewegen. Mut ist wichtig und je mutiger man sich verhält, desto mutiger wird man. Anders, ja einzigartig zu sein ist nichts schlechtes, egal wie viele einem das weis machen wollen. Es ist nur eine Form des Mutes zu dem zu stehen, was man nun einmal ist. Und nur auf diesem Wege kann man etwas Besonderes werden.
Die anderen weissen Schafe waren beunruhigt. Sie sahen, dass sich die jüngeren Schafe immer öfter mit dem schwarzen Schaf traffen. Und das Merkwürdige dabei war, dass sie keine Angst zu haben schienen. Nein, sie lächelten sogar bei dem Gedanken wieder eine Runde am Zaun entlang zu laufen, den Wolf praktisch herauszufordern. Aber die jungen Schafe waren nicht unvorsichtiger geworden, weil sie unvernünftiger handelten. Sie hatten nur erkannt, dass so sein, wie alle anderen auch waren, Langeweile bedeutete. Und da Langeweile die Kreativität anregt, und somit auch den Mut etwas zu tun, das von anderen beurteilt und vor allem
verurteilt werden kann, taten sie Dinge, die die alten Schafe nicht nachvollziehen konnten, denn diese waren sich ihres langweiligen Daseins schon lange nicht mehr bewusst. Aber das war nicht mehr wichtig. Keine Meinung war mehr wichtig, solange sie das taten, was sie sich wünschten.
Das kleine, schwarze Schaf redete nicht besonders viel. Aber das musste es auch nicht. Es reichte vollkommen aus, den jungen Schafen die Möglichkeiten zu zeigen, die sich ihnen offenbarten und deren Existenz sie bisher völlig ignoriert hatten. Die jungen Schafe blühten ebenfalls auf. Sie vergassen ihre Angst.
Sie hatten soviel Spass am Anderssein, dass ihnen auch die mahnenden Worte der älteren Schafe nichts mehr anhaben konnte. Bald waren sie es, die die anderen mit Spott, Hohn und Mitleid betrachteten. Durch das kleine, schwarze Schaf verstanden sie, dass Meinungen einem nur dann etwas anhaben können, wenn man sie lässt. Wenn man allerdings mit sich selbst zufrieden ist und das tut, was man gerne tut, zu sich selbst steht und zu dem was man ist, dann gibt es keinen Grund so zu sein, wie andere einen gerne hätten. Jedes Leben ist einzigartig und so sollte es auch gelebt werden. Es ist doch soviel wichtiger sich selbst glücklich zu machen als all
die anderen. Wer sich verstellt um anderen zu gefallen, gefällt sich am Ende selbst nicht mehr. Und genau auf diesem Wege wird man unglücklich. Und wenn man erst einmal unglücklich geworden ist, dann findet man so schnell keinen Weg mehr hinaus. Dann bleibt einem nichts anderes mehr übrig, als sich denen anzuschliessen, die genauso sind wie man selbst. Die jungen Schafe hatten dazu keine Lust. Sie wollten nicht so werden, wie all die anderen Schafe. Sie wollten sie selbst sein, denn andere gab es schon genug.
Eines Tages bemerkte das schwarze Schaf in der flauschigen Wolle eines
Jungschafes grüne Flecken. Zuerst war es beunruhigt, es hatte Angst um das kleine weisse Schaf, es befürchtete, dass es krank geworden sein konnte. Zögernd sprach es das weisse Schaf darauf an, bedacht keine Panik aus zu lösen, denn Panik hat die schlechte Angewohnheit sehr ansteckend zu sein, und je mehr Schafe panisch wurden, desto schwieriger war es ihnen ihre Panik wieder zu nehmen.
Zu seiner Überraschung grinste das andere Schaf nur. Es schien sogar stolz auf diese grünen Flecken zu sein. Und da begriff das schwarze Schaf: Es hatte es geschafft. Es hatte es geschafft, dass das erste weisse Schaf seiner kleinen
neuen Herde sich grundlegend veränderte. Es hatte jede Art der Unsicherheit von sich abgelegt und wurde erwachsen. Aber im Gegensatz zu allen anderen erwachsenen Schafen trat es nicht in die weissen Fussspuren seiner Vorgänger. Nein, es hinterliess neue Fussstapfen, es ging seinen eigenen Weg. Und dieser Weg war nun einmal grün. Grün, die Farbe der Hoffnung. Und niemand konnte dies ändern. Und das war gut so. Es war genau so wie es sein sollte.
Bald entdeckte es weitere Farbtupfen im Fell der anderen. Jedes hatte dank ihm seine eigene Farbe und somit seinen
eigenen Weg gefunden. Und jedes ging diesen Weg stolz und würdevoll, als erstes seiner Art. Da war das ruhige, alles wissende graue Schaf. Das angenehme, braune Schaf, das so beruhigend wirkte. Das frische, blaue Schaf, das jedem loyal zu Seite stand. Das noble, manchmal etwas eifersüchtige violette Schaf. Das gefährliche, rote Schaf, das sich mutig jeder Herausforderung stellte. Das arglose rosa Schaf, das so zart erschien. Das verlockende und vor Energie regelrecht überschäumende orangene Schaf. Und zuletzt das freudige, ansteckend gut gelaunte gelbe Schaf. Gelb, die Farbe des Sieges. Und als jedes junge Schaf
der kleinen Herde erwachsen geworden war, und in seiner eigenen Farbe leuchtete, da wusste das schwarze Schaf, dass es etwas verändert hatte. In Zukunft würde es immer mehr bunte Schafe und immer mehr Farbvariationen geben, und dieser Gedanken, nein, dieses Wissen machte es unglaublich glücklich. Jedes dieser Schafe würde einzigartig sein, so wie das kleine schwarze Schaf selbst. Mit jeder neuen Farbe entstanden neue Charaktereigenschaften, gute wie schlechte, aber das machte nichts, denn man braucht von allem ein bisschen. Keines dieser Schafe war mehr unbedeutend, jedes hatte seine eigene Persönlichkeit bekommen und es gab
nichts und niemanden mehr, der diese Veränderung der Schafe aufhalten konnte. Weil niemand das ändern kann, was wir tief in unserem Innern nun einmal sind.
Ja, ich bin stolz darauf, ein schwarzes Schaf zu sein.