Die sprechende Rose
Wo ich sie her hatte, dass weiss ich nicht mehr, aber, sie war etwas ganz Besonderes für mich, meine sprechende Rose.
Genau genommen war es der Stiel einer Heckenrose mit einer gerade auf gegangenen Blüte. Auf meinem blauen Fahrrad war ich unterwegs, fuhr wie häufig quer durchs Dorf, immer dort entlang, wo es geradeaus ging und ich den Fahrtwind deutlich auf dem Gesicht und in den Haaren spüren konnte. Durch puren Zufall hatte ich entdeckt, dass diese Pflanze reden konnte. Nicht sprechen in Worten und Sätzen, aber
wenn ich ihr Fragen stellte, dann gab sie durch ein Nicken oder leichtes Schwenken des Köpfchens Antwort. Ich war wie verzaubert und fragte sie immer mehr Dinge, stellte sogar Kontrollfragen, um ihre Fähigkeiten zu überprüfen, aber sie hielt jedem Test und jeder Fangfrage stand.
Vielleicht konnte sie mir eine Frage beantworten, die mich seit langem plagte, seit diesem Traum, den ich einmal hatte und aus dem ich recht verwirrt und mit mächtigen Schuldgefühlen aufgewacht war.
Zwei Ecken von unserem Haus war ich im Traum entfernt, als Feuerwehr und Krankenwagen mit lauten Sirenen an mir
vorüber brausten. Nachbarn kamen aus ihren Häusern und liefen in Richtung des Brandes und ich wusste, dass es unser Haus war, das da brannte. Irgend jemand kam völlig aufgelöst und mit den Armen fuchtelnd auf mich zu gelaufen, hielt mich mit den Händen an beiden Armen fest und sagte, mir dabei tief in die Augen schauend:
"Ach, Kleines, geh´ nicht weiter, es ist zu spät, deine beiden Eltern sind tot!" Ganz ruhig sah ich den Überbringer dieser Nachricht an und antwortete:
"Ich weiss, ich möchte auch garnicht nach Hause, ich wollte gerade zu meiner Freundin." Das sagte ich und ging seelenruhig weiter meines Weges. An
dieser Stelle wachte ich damals auf und war, wie schon erwähnt, reichlich durcheinander und, was schwerer wog, hatte immense Schuldgefühle, wie ich denn so ungerührt sein konnte, im Wissen darum, dass meine Eltern offensichtlich eben verbrannt waren. Der Gedanke quälte mich sehr und ich suchte dringend nach einer Erklärung für diese so kalte und gleichgültige Verhalten.
Damals fiel mir in meinem kindlichen Hirn, zur Zeit dieses Traumes war ich circa 5 Jahre alt, nur eine schlüssige Ursache ein. Irgendetwas in meinem Inneren musste registriert haben, dass diese Menschen garnicht meine Eltern
waren, sie also meiner Trauer und Tränen damit auch nicht wirklich wert wären. Das schien mir die einzig logische Schlussfolgerung, sie konnten nicht meine wahren Eltern sein, denn sonst hätte ich traurig sein und weinen müssen.
Jahre bleib dieser Gedanke in mir lebendig und ich fand allerhand, was dafür sprach, die kühle, oft abweisende Art meiner Mutter, die große Distanz meines Vaters, wenn er denn überhaupt mal zu Hause war, das alles bestätigte doch meine Vermutung.
Kurzum, selbst zu diesem Zeitpunkt, inzwischen war ich immerhin schon acht Jahre alt, bewegten mich diese Fragen
noch und immer wieder.
Und nun fuhr ich also auf meinem Fahrrad auf einem Feldweg am Dorfrand entlang, eine sprechende Rose in meiner Hand, und überlegte, ob sie mir vielleicht diese so wichtige Frage würde beantworten können. Und nicht nur diese Frage beschäftigte mich, denn - wenn sie es tat, was würde ich mit der Antwort anfangen? Es war wirklich nicht einfach, aber letztendlich beschloss ich, es zu wagen, dieser Wunderrose meine große Frage zu stellen. Es musste doch auch einen Grund dafür geben, dass das Leben ausgerechnet mir diese verzauberte Rose zu gespielt hatte.
So fuhr ich noch etwas weiter, bis zu der Weide, auf der die Kälber standen, an der wir Kinder uns immer trafen, wenn wir wieder mal unser berüchtigtes Kälber-Rodeo austragen wollten. Dort hatten wir eines Tages beim Herumtoben im Gebüsch eine natürliche Höhle gefunden und für unsere Zwecke ein wenig ausgebaut und blickdichter gemacht. Mein Rad legte ich einfach am Wegrand ins Gras. Das stand jetzt im Sommer an den Wegrändern so hoch, dass mein Fahrrad völlig darin versank. Ziemlich in Gedanken kroch ich mit meinem lebendigen Schatz in das Versteck. Einen Moment zögerte ich
noch, aber dann nahm ich allen Mut den ich aufbringen konnte zusammen, sah diese Rosenblüte an und fragt nach dem, was mich schon so lange beschäftigte, ja quälte:
"Liebe Rose, kannst du mir bitte sagen…..sind das meine richtigen Eltern?"
Vor Spannung stockte mir schier der Atem und ich mag mir das Gesicht, mit dem ich ihre bzw. meine, Antwort erwartete garnicht vorstellen, so voll ängstlicher Anspannung und Neugier.
Nichts geschah, eine ganze Weile geschah nichts und mir kam dieser Moment, der es wahrscheinlich nur war, wie eine Ewigkeit vor. Dann endlich
begann sie leise den Kopf zu schwenken, kein Nicken, ganz deutlich ein Schwenken. Also war mein Verdacht kein Verdacht, sondern entsprach der Wahrheit. Sicher, ich hatte das ja selbst für möglich gehalten, es war ja mein Verdacht, doch ihn nun auf diese Weise bestätigt zu bekommen, das war dennoch ein ziemlicher Schock.
Aber - wie war das nochmal gewesen? Nicken hieß ja, Schwenken nein. oder?
Und wie genau hatte ich die Frage nochmal gestellt? War sie vielleicht missverständlich gewesen? Ja, nein, Nicken, Schwenken……..ich geriet mehr und mehr durcheinander. All meine Gedanken schienen über einander her zu
Stolpern und zu Stürzen, sie kollerten in meinem Kopf herum, wie Murmeln in einem Holzkästchen. Mir wurde ganz schwummerig und alsbald konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen oder festhalten. Nicken, Schwenken, ja, nein, alles brach aus einander, zerfiel in tausend Stücke und der ganze wundervolle Zauber löste sich auf in ein heilloses Durcheinander und ließ mich völlig verwirrt und irgendwie wund, verwundet in meinem Versteck zurück.
Es war, als erwachte ich aus einem wundervollen Traum, als würde ich heraus gerissen aus einer zauberhaften Märchenwelt und mit einem Schlag ein die Realität befördert, eine Realität ohne
sprechende Rosen, ohne Zauber.
Es war, als würde ich von einem Moment zum anderen meiner Kindheit entrissen und einen unangenehm großen Schups weiter in Richtung Erwachsenwerden gestoßen. Gewiss, ich war gerade mal acht Jahre alt, aber wenn ich von heute aus zurück schaue, dann fühlte es sich genau so an.
Die Frage mit meinen Eltern war damit natürlich noch nicht geklärt, aber ……das ist ein anderes, weiteres Kapitel.