Ich starrte Nathan an. Obwohl mir diese Aussage vertraut war, kam sie mir gleichzeitig so befremdlich vor. Natürlich wusste ich, dass Tyler nicht mein leiblicher Sohn war, aber damit hatte ich mich abgefunden.
Ich lernte Lina damals kennen als sie im sechsten Monat schwanger war und es machte mir nichts aus Tyler groß zu ziehen, weil ich ihn liebte und dieses Gefühl wurde intensiver in den darauf folgenden Jahren.
Ehrlich gesagt verstand ich Nathan nicht. Warum erzählte er mir so
etwas? Wenn er damit bezwecken wollte, mich an meinem Vorhaben zu hindern, dann irrte er sich.
„Ich verschwinde jetzt!“ sagte ich nur und streifte leicht seine Schulter als ich an ihm vorbei ging. Nathan packte meinen Arm und ich drehte mich um.
„Hast du mir überhaupt zugehört?“ Sein Blick war eisig. Ich kannte diese Art von ihm, es war nur erschreckend wie schnell er seine Gefühlslage wechseln konnte. In einem Moment war er der Fürsorgliche und im anderen Moment dann der Unberechenbare.
„Nathan. Glaubst du ernsthaft, dass
das ein Grund wäre, Tyler nicht dort raus zu holen?“
„Ah, du weißt es also!“ Nathan begriff sehr schnell und ich spürte, dass er enttäuscht war.
„Es ist viel zu gefährlich, Mason. Wir könnten uns etwas ausdenken. Vorausgesetzt natürlich, dass du hier bleibst. Wenn du allein dorthin fährst, weißt du genau, was dich erwartet. Lass uns einen kühlen Kopf bewahren und nichts überstürzen!“ versuchte Nathan mich zu überzeugen.
Er schlug einen ruhigeren Ton an, aber ich war so stur und versessen darauf, es allein durchzuziehen, dass
ich ihm schon gar nicht mehr richtig zuhörte.
„Ich bin sicher, dass du genauso handeln würdest wie ich, Nate. Und genau deswegen wirst du mich jetzt gehen lassen!“
Diese Worte brachten ihn zum Nachdenken. Er zögerte kurz, ließ mich letztendlich dann aber doch los.
„Sobald du deinen Arsch in dieses Auto gesetzt hast, werde ich dir folgen. Und davon hältst du mich nicht ab. Das steht schon mal fest!“
Ich nickte ihm zu, denn weitere Diskussionen wären eine Verschwendung gewesen. Ich hatte meinen Standpunkt klar gemacht und
er seinen. Und insgeheim war ich erleichtert darüber, aber das behielt ich lieber für mich.
Ich bog in den kleinen Waldweg ein, der mich zum Waldhaus führte. In wenigen Minuten, so hoffte ich, würde ich Tyler endlich wieder sehen. Irgendwie überkam mich ein ungutes Gefühl, dass ich schlecht beschreiben konnte. Als ich mich vor gut einer Stunde in das Auto gesetzt hatte, war ich noch guter Dinge. Auf keinen Fall konnte ich zulassen, dass Tyler etwas passierte. Aber ich musste vorsichtig sein, denn Dexter
war nicht zu unterschätzen.
Ich parkte das Auto direkt vor dem großen Haus. Jetzt, da es von Dunkelheit umgeben war, wirkte es Angst einflößend und die umliegenden Bäume trugen nicht unbedingt dazu bei, sich hier wohl zu fühlen.
Mir fiel ein weiteres Detail auf, das mich störte. In keinem der Fenster brannte Licht. Einzig allein die Lampe auf der Veranda sprang an, was mich verwunderte.
Ich atmete einmal tief durch, dann stieg ich aus. Die wenigen Meter bis zum Haus kamen mir vor wie eine Ewigkeit.
Als ich die erste Stufe nahm, hielt ich kurz inne. Denn vor mir öffnete sich die Haustür. Mein Herz machte einen Satz, als ich Tyler erkannte. Er sah müde aus. Sein Hemd war dreckig und unter seinen Augen zeichneten sich schon dunkle Ränder ab.
„Endlich!“ sagte er nur, dann fing er an zu weinen und lief auf mich zu.
Ich war darauf vorbereite, ihn in meine Arme zu schließen, doch im Hintergrund nahm ich Leeman war, der nun in der Tür stand. Dass er eine Waffe in der Hand hielt, bemerkte ich erst viel zu spät.
Zwei Schüsse zerrissen die Stille der
Nacht und somit auch Tylers Rücken.
„Tyler! Nein!“ schrie ich und bewegte mich nach vorn.
Langsam sank er auf die Knie und ehe er mit dem Kopf aufschlagen konnte, fing ich ihn auf. Er landete in meinen Armen und schaute mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Seine Hand griff nach seiner Brust und das Atmen fiel ihm schwer.
„Tyler!“
Mein schlimmster Albtraum wurde wahr und ich konnte rein gar nichts dagegen tun.
Tyler versuchte aufzustehen, doch das war nicht mehr möglich. In seinen Augen spiegelte sich blanke
Angst wieder und als er auch noch Blut spuckte, wusste ich, dass ich ihn verlieren würde. Ehe der Rettungswagen hier eintraf, wäre er erstickt und dennoch holte ich mein Handy heraus und wählte den Notruf.
Nachdem ich das tat, zog ich meine Jacke aus und drückte sie auf die Wunden. Tylers Hemd hatte sich mittlerweile rot gefärbt.
Ich schaute mich um, aber Leeman war verschwunden. Dieser Dreckskerl. Wie konnte er einen vierzehnjährigen Jungen nur so kaltblütig erschießen?
„Dad?“
„Es kommt alles wieder in
Ordnung.“
Unglaublich, dass diese Worte aus meinem Mund kamen, dabei wusste ich genau, dass das nicht stimmte. Vielleicht wünschte ich mir einfach so sehr, dass mir jemand helfen würde. Vielleicht tippte mir jemand auf die Schultern und eröffnete mir, dass alles nur ein übler Scherz war. Aber die Minuten vergingen und dieses Szenario wollte einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden.
„Ich bin müde, Dad!“ sagte er leise.
Es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten und das war kein gutes Zeichen.
„Nicht einschlafen, okay? Du musst
noch ein wenig wach bleiben. Hilfe ist unterwegs. Erzähl mir einfach etwas, in Ordnung?“
Doch er reagierte schon gar nicht mehr. Seine Augen waren geschlossen, die Arme hingen schlaff an beiden Seiten herunter. Ich versuchte, ihn wach zu rütteln, doch es brachte nichts.
„Tyler?“
Ich überprüfte seinen Puls. Nichts.
„Tu mir das nicht an, bitte.“
Ich drückte ihn, so fest es ging, an meine Brust und in dem Moment war es mir völlig gleich, ob meine Schulter vor Schmerz gleich explodierte.
Soeben musste ich miterleben, wie mein eigenes Kind in meinen Armen starb, aus einem Grund, den ich wohl niemals verstehen würde.
Ich fing an zu weinen. Ich musste dem Druck, der auf meiner Brust lastete, endlich Platz machen. Innerhalb eines Tages wurde mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt und ich wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich damit umgehen sollte.
„Reiß dich zusammen, Jennings!“ hörte ich Leeman sagen.
Ich zuckte zusammen, als ich etwas Kaltes an meinem Nacken spürte.
„Erschieß mich oder bring mich zu
Dexter, du Arschloch!“ sagte ich.
Mein Schmerz und meine Trauer vermischten sich mit Wut und das war bei weitem keine gute Kombination. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen von der Wange. Sicherlich hinterließ ich etwas Blut in meinem Gesicht, aber es interessierte mich nicht. Genauso wenig wie Leeman.
Bevor ich aufstand legte ich meine Jacke unter Tylers Kopf.
Und wäre ich in diesem Moment ein wenig aufmerksamer gewesen, dann hätte ich Leemans Schlag vermutlich abwehren können...