Beitrag zur Forumsbattle 31
Thema: Umwege
Wortvorgaben:
Schürzenjäger,
straucheln,
Schnupfen,
Zauberzone,
gewichtig,
welk,
Krieg und Frieden,
Klangspitzen,
Sturm,
Kirschblütenblatt,
Sahnehäubchen,
Philosophie
Schicksale an der Brücke
Mary stand beim Fenster und blickte hinaus auf düstere Wolken und den vom Wind gepeitschten Regen. Ihr Ölzeug hatte sie um sich geschlungen, das Kopftuch eng gebunden und den Knoten extra fest zugezogen. Trotz des schlechten Wetters freute sie sich, bald ihren Johnie zu treffen und ihn mit den freudigen Nachrichten überraschen zu können. Er hatte versprochen, ihr diesmal seinen Arbeitsplatz - den Stand des Lokführers - zu zeigen. Er nannte ihn stolz seine Zauberzone, weil er dort mit wenigen Griffen, fast wie mit Magie, den riesigen Leib des Eisenbahnzuges zum Leben erwecken
konnte. Manches Mädchenherz hatte er mit solchen Prahlereien erobert und sich einen veritablen Ruf als Schürzenjäger erworben. Bei ihr aber schien er nun zur Ruhe gekommen zu sein, hatte seit langem keinem anderen Rock mehr nachgeschaut und träumte von einer gemeinsamen Zukunft.
„Mary!“, hörte sie ihre Mutter rufen, „kannst du mir diesen Korb mit Lebensmitteln zu Tante Gwen tragen? Es ist nur ein kleiner Umweg für dich“. Mary seufzte unhörbar in sich hinein, aber wie hätte sie ihr die Bitte abschlagen sollen? Seit Weihnachten war Mutter von einem schlimmen Husten und Schnupfen geplagt - sie konnte sie bei diesem Wetter nicht hinaus gehen lassen. „Natürlich“, antwortete sie, schnappte sich den in
dicke Decken gewickelten Korb und schlüpfte schnell durch die Türe hinaus in das tobende Unwetter.
Sie hoffte inständig, dass Tante Gwen sie nicht zu lange mit ihren üblichen Fragen und Gesprächen aufhalten würde. Sie wollte sich auf keinen Fall verspäten - der Edinburgher Zug mit ihrem Johnie musste den Bahnhof pünktlich verlassen.
Der unbarmherzige Sturm vertrieb ihr diese Gedanken recht bald und ließ sie nicht nur einmal straucheln. Regen und welkes Laub trommelten auf ihr Gesicht. Ein Blick mit zusammengekniffenen Augen hoch zur Kirchturmuhr zeigte ihr, dass sie trotz des
Umweges noch genug Zeit hatte. In der Kirche wurde gerade eine Messe gehalten und Lieder gesungen, aber nur wenige Klangspitzen drangen zwischen den Böen bis zu ihr durch.
Sie kämpfte sich um die Kirche herum, ruhte nur kurz im Windschatten der großen Mauern aus und tauchte weiter in das Gewirr der schmalen Gassen ein. Bei diesem Wetter traf sie kaum auf andere Menschen, was die ganze Stimmung noch düsterer wirken ließ. Ihr Puls raste nicht nur vor Anstrengung, als sie bei Tante Gwens kleiner Pension ankam.
Zitternd überreichte sie den Korb, während sie von Tante Gwen besorgt begrüßt wurde. „Komm rein Mary, bevor du dir den Tod holst! Und wärme
dich bei einer Tasse Tee auf!“ Sie wurde in den Speiseraum geführt, wo ihr ein Pensionsgast vorgestellt wurde. „Das ist Mister Theodor aus Deutschland, er ist über Weihnachten und Neujahr hier zu Gast“. Dann fügte sie noch mit bedeutungsvollem Blick hinzu: „Er ist Schriftsteller und liest für mich gerade aus einem meiner Lieblingsromane vor.“, ehe sie in Richtung der Küche verschwand, um den Tee zu holen.
Auf seinem Schoß lag ein dickes Buch, es war wohl „Krieg und Frieden“, ein ziemlich neuer Roman von einem der von Gwen bevorzugten, russischen Schriftsteller. „Und lesen sie auch gerne?“, fragte Mister Theodor. „Ja, vor allem liebe ich Gedichte!“, antwortete Mary und das
Lächeln, welches dabei in ihrem Gesicht aufblühte, begann die Kälte aus ihrem Körper zu vertreiben. „Dann möchte ich ihnen ein kleines Geschenk für ihre Bücher überreichen“. Während er dies sagte, holte er ein Lesezeichen aus der Innentasche seines Jacketts um es Mary zu überreichen - ein elegant verzierter Papierstreifen mit einer kleinen, seidigen Kordel und einem gepressten Kirschblütenblatt. „Aber das kann ich doch nicht annehmen“, wehrte sie sich und wollte es ihm zurückgeben. Er ignorierte ihre ausgestreckte Hand lächelnd „Das ist doch nur …“, er stockte, da ihm das passende englische Wort nicht gleich einfiel. „Tand …Trumpery“. Mary lachte und - um ihm zu zeigen, dass sie Deutsch beherrschte - antwortete sie in seiner Muttersprache „schöner Tand von
Dichterhand“. Er fiel in ihr Lachen ein und meinte noch: „Den Reim muss ich mir merken!“
Gwen trug ein Tablett mit dampfenden Teetassen und einigen von Sahnehäubchen gekrönten Kuchenstücken herein. Kurz und hoffnungslos versuchte Mary aufgrund ihrer Zeitnot dagegen anzukämpfen, wurde aber mit sanfter Gewalt in den Sessel gezwungen und genötigt, das Aufgetischte zu verzehren. Während des Mahls diskutierte ihre Tante mit dem Gast nicht nur über den russischen Roman. Sie hatte sich einige Zeilen aus der Zeitung gemerkt und zitierte, mit von Kopfnicken begleitetem, gewichtigem Ton „Religion und Philosophie streiten in der Brust des zaristischen Bären“. Peinlich berührt verdrehte
Mary die Augen, verfluchte die verrinnende Zeit und nutzte die erstbeste Möglichkeit um sich davonzustehlen.
Ungläubig stellte sie fest, dass das Wetter noch schlimmer geworden war. Der Sturm hatte Orkanstärke angenommen, die Regentropfen schmerzten beim Aufklatschen auf die Haut. Sie konnte sich nur gestützt an die Hauswände vorwärts bewegen und war ständig in Gefahr, von herumwirbelnden Trümmern getroffen zu werden. Der Weg bis zum Bahnhof war nicht weit, doch es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Außer Atem und trotz der Kälte schwitzend traf sie schließlich ein, nur um die Pfeifsignale des Zuges beim Ausfahren aus dem Bahnhof zu hören. Auch das Pfeifen wurde schnell vom
Fauchen des Sturmes verschluckt. Sie konnte nur enttäuscht dem dunklen Schemen der Eisenbahn nachblicken, wie er auf die Brücke auffuhr um die Flussmündung - den Firth of Tay - zu überqueren.
Gerade wollte sie sich abwenden, als sie mit Entsetzen sah, wie sich die eiserne Brücke zu bewegen begann. Wie böse, dunkle Raupen wankten die eisernen Bögen vom Sturm bedrängt, träge und Unheil verkündend über dem Meer. Der sonst mächtige Zug darauf wirkte klein, hilflos und verloren. Unbewusst hielt sie sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zurückzuhalten, der in ihrem verkrampften Rachen ohnehin schon erstickt war. Hören konnte sie durch den Wind und den in ihren
Ohren rasenden Puls nichts - nicht das Bersten der metallenen Träger, das Kreischen der Räder, wie sie aus den Gleisen sprangen oder das Splittern von Holz. Je schneller ihr Puls schlug, umso langsamer schien die Zeit für sie zu vergehen. Der Umriss der Eisenbahn begann Funken zu sprühen um gemeinsam mit den schattenhaften Formen der sich bewegenden Brücke einen wilden Tanz aufzuführen. Die unglücklichen Tänzer kippten zur Seite, verloren jeden Halt und stürzten hinab in die Tiefe, um vom Meer verschluckt zu werden. Die Funken verloschen und nichts war mehr zu sehen, nicht einmal das klaffende Loch, wo nun die Brücke ins Nichts führte. Der Wind wütete unbeirrt weiter und fuhr in seiner zerstörerischen Arbeit fort, als wäre nichts gewesen.
Nach wenigen Sekunden, in der sie scheinbar für Stunden den Atem angehalten hatte, erklang endlich der Schrei, der in ihrem Hals gewartet hatte. Er entlud sich zusammen mit ihren Tränen, die sich sogleich mit dem Regen vermischten und gemeinsam mit ihrer Verzweiflung in einem Strudel aus Dunkelheit versanken.
Wie in Trance wankte sie zurück zu ihrer Tante. Sie bemerkte kaum die wenigen hektischen Helfer, die ohnehin nichts mehr ausrichten konnten. Irgendwann lag sie dann völlig durchnässt in Gwens Armen, wo sie zwischen Schluchzern versuchte, das Geschehene zu schildern. Auch Herr Theodor hörte betroffen zu und begann alsbald auf einem Blatt Papier zu
kritzeln.
Mary kam zum Gedenken an das Unglück an jedem folgenden Jahrestag wieder zum Bahnhof. Sie nahm ihren kleinen Johnie mit, erzählte ihm von seinem Vater mit den Zauberstäben, von ihrer Rettung durch den Umweg zu Tante Gwen oder sagte ihm die Ballade von Herrn Theodor auf … Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand.