Eine Schattengeschichte
Klara ist nach einer Vergewaltigung schwanger geworden. Jetzt sucht sie nach ein einem für sie erträglichen Weg. Als Adoptivkind weiß sie um die Brisanz. Eine Abtreibung kommt für Klara nicht in Frage. Auch behalten kann und will sie das Kind nicht. Also muss sie sich darauf vorbereiten, es in andere Hände zu geben.
Klara wandert in Gedanken zurück zu ihrem letzten Geburtstag, als sie im Sonnenschein des Lebens erwachte, und an dem sie, noch bevor er endete, in einen finsteren Tunnel gestoßen und
gefangen war. Jetzt schimmert ihr ein sanftes Licht entgegen in Form eines Phantasie-Gespinstes, das sie ausmalen und niederschreiben muss, um sich hinausführen zu lassen aus diesem bedrückenden Tal.
Ohne ihre Gedanken zu bündeln und zu sortieren, beginnt sie zunächst zu schreiben, wie es ihr in den Sinn kommt: ‚Uta, meine Adoptivmutter hat rückblickend erzählt, was sich ereignet hat. Ich schaue voraus auf eine Schattengeschichte, in der ich Vergangenes und Zukünftiges von der Wirklichkeit ablöse. Ich tue es als Mutter, die ich für dich, Kind, nie sein kann und will. Du sollst wissen, dass
mir dein Leben aufgezwungen wurde. Zu schildern, wie dies geschah, ist mir zu schmerzvoll und für dich ohne Bedeutung. Wichtig ist, dass du mir verzeihst, und dass dir ein gutes, ein erfülltes Leben beschert werde. Denn eines ist mir bewusst geworden, dein Leben war vorbestimmt, also wartet eine besondere Aufgabe auf dich. Ich spinne ein Netz, dessen Fäden dir eine sichere Grundlage schaffen und mich schuldfrei aus der Verantwortung entlässt. Ich werde es fein und verheißungsvoll knüpfen, meine Träume hineinweben und fest daran glauben, dass vieles daraus wahr wird und Gestalt annimmt.
In diesem Spiel der Fantasie werde ich die Sonne sein und du ein Wölkchen. Ein Wölkchen hat kein Gesicht, keine feste Form, es ist luftig leicht und zieht dahin, indem es ständig Größe und Gestalt verändert, das nie gleich bleibt und keine Spuren hinterlässt. Dennoch wirst du mir stets als Wölkchen in Erinnerung bleiben.
Für mich soll die Schattengeschichte eine besondere Bedeutung bekommen. Ich vertraue darauf, dass ihr Inhalt sich verselbstständigt und gleich einer Wolke seine Bahn zieht, sich von mir entfernt, letztlich aus der Aura meiner Seele entschwindet, um mich nicht länger zu berühren. Damit fliege ich der
Gegenwart voraus in der Hoffnung, sie für immer hinter mir zurückzulassen.
Klara hielt inne. Jetzt, da sie hineintauchen musste in die eigentliche Geschichte, zögerte sie vor der ersten Szene. Sie schließt die Augen und lässt sich mitreißen von dem Strudel der Träume, beginnend mit den Adoptiveltern für ‚Wölkchen, die sie fest in dieses Netz mit einspinnt.
Ich sehe mich über eine bunt blühende Sommerwiese laufen, zarte Glockenblumen, kräftig gelbe Butterblumen, hoch gewachsene Margeriten und Gräser streifen meine
nackten Beine. Aus der Ferne nähern sich ein Mann und eine Frau, Theo und Fee. Sie halten sich bei den Händen, lachend winken sie mir zu. Wie von unsichtbaren Fäden geleitet, bilden wir drei einen Kreis, so wie Kinder Ringelreihen spielen, umschlungen von einem festen Band. Gemeinsam fiebern wir Wölkchens Geburt entgegen. Fee verstrickt feste Bänder für eine gesicherte Zukunft, während ich bunte Blüten in unsere Träume sticke.
Der ersehnte Tag rückt heran. Wölkchens Ankunft erfolgt wie ein Gewittersturm, in dem alles um mich herum zu versinken droht.
Noch stehen Fee und Theo im Schatten,
‚Wölkchen ruht in den Strahlenarmen der Sonne, es soll nicht gleich in eine ihm fremde Welt gestoßen werden. Eine Weile noch darf es die vertrauten Bewegungen, die Stimme und den Herzschlag seiner Sonne spüren und zugleich von Fee und Theo berührt werden, sich von ihnen wiegen und liebkosen lassen. Von Tag zu Tag hält Fee ‚Wölkchen etwas länger in den Armen, trägt es umher, bringt ihm mit jedem Schritt ein kleines Stück weiter von seiner Sonne weg, auf dass diese kleiner werde, unscheinbarer und langsam aus dem Bild schwindet. Stumm schaue ich dem Abschied zu. Mir, der Sonne, bleibt die Erinnerung an
die Berührung und den Duft seiner Haut. Diese verbindet sich dem Bild von Fees dunkelgrauen, ruhigen Augen und ihren feinen Händen, mit denen sie das Kind wohl geborgen hält. Aus der Ferne winke ich und lasse es gerne ziehen mit seinen Adoptiveltern, denn ich weiß, Wölkchen werde ich nie wieder sehen.
Jetzt, da die Wolke aus meinem Leben verschwunden ist, fühle ich mich erleichtert und befreit, verlassen und verzweifelt zugleich. Ich schaue zurück, schaue voraus, drehe mich im Kreis, taumele umher, greife nach den Strahlen der Sonne, um mich von ihr mit Mut und Kraft für die Kehrtwende beschenken zu lassen.
Klara lässt den Stift sinken, als könne sie ihn nicht länger halten. Erschöpft bettet sie den Kopf auf die verschränkten Arme. Langsam nur weicht die Anstrengung aus ihren Gliedern, die Anspannung von der Seele, die sich über den ganzen Körper gebreitet hat. Es kostet sie Überwindung, die großzügig beschriebenen Seiten zu betrachten, die auf Papier gebannten Bilder aus Wortfetzen, gerade ausreichend genug, ihren Sinn festzuhalten. Klara bedeckt die Blätter mit beiden Händen, als fürchte sie, diese würden wie Schatten davonfliegen.
Die Schattengeschichte ist beendet und Klara wie befreit. Ihr ist, als habe sie eine beengende Hülle abgestreift, ohne die es leichter fallen wird, den vor ihr liegenden Weg zu beschreiten. Ihr fällt Utas Bild von der gläsernen Mutter ein. Hat das Glas bereits einen Sprung?
(Auszug aus meinem Buchf:
"Liegt es in meinen Händen?")