Don`t Cry For Louie
Sie schreit nicht. Warum schreit sie nicht? Sie tut doch sonst auch nichts lieber, als mich anzuschreien. Nicht mal anschauen will sie mich. Nein, woher denn, der Boden ist ja viel viel interessanter. Irgendwas muss jetzt passieren, es macht mich noch ganz wahnsinnig, wie sie mit ihren Füßen scharrt. Was ist sie, ein Huhn?
Ich verdrehe die Augen. Wenn sie nicht will, muss ich eben anfangen. Leicht gebückt mache ich einen Schritt auf sie zu, Augenkontakt suchend.
„Hör mal, so hat das doch keinen Sinn“, sage ich zuckersüß. Ruhig, Brauner. Ein bisschen muss ich das Grinsen unterdrücken. Wer bin
ich denn? Ein Pferdeflüsterer?
„Bleib … bleib mir bloß vom Hals!“, japst sie mit diesem herrlichen Reh-im-Scheinwerferlicht-Blick.
„Okay, okay. Ist ja schon gut.“ Ich hebe beschwichtigend die Hände. Ist ja nicht so, als würde ich beißen, füge ich gedanklich hinzu.
Und täglich grüßt das Murmeltier. Da wären wir also wieder. Hallo auch, Ausgangssituation.
Mir entschlüpft ein kleiner Seufzer, den ich am liebsten gleich wieder zurücknehmen würde, weil ich nur allzu gut die Reaktion kenne, die darauf grundsätzlich folgt.
Sie hebt den rechten Arm, die Hand flach, als ob sie klatschen will – und ja: Auf irgendwas
wird sie auch klatschen, nur wird das bestimmt nicht ihre andere Hand sein – vorsorglich wende ich schon mal meine linke Wange minimal ab, um nicht die volle Wucht des Schlags einzukassieren.
Ich blinzle leicht, die Sonne steht hinter ihr hoch am Himmel.
Sie holt aus. Wie in Zeitlupe. Und zögert.
Meine Augen tränen. Verdammt, ich hätte meine Sonnenbrille doch mitnehmen sollen. Gewohnheitsmäßig schirme ich meine Augen mit meiner Hand ab. In dem Moment trifft sie mich. Die Ohrfeige meines Lebens. Und reißt mich von den Füßen. Kein Scherz.
Ungläubig betaste ich mein rechtes Auge. Es pocht, als würde es meinem Herzen Konkurrenz machen wollen. Mit mehr oder
weniger zusammengekniffenen Augen schaue zu ihr auf.
Da steht sie. Nicht mit erhobener flacher Hand, sondern mit erhobener, zur Faust geballten Hand. Und weint. Ja, sie weint richtig hemmungslos, mit Schluchzern und allem Pipapo. Während ich gewissermaßen ausgeliefert zu ihren Füßen sitze, mit der einen Hand immer noch versuche, die Sonne zu bekämpfen, und mit der anderen mein langsam zuschwellendes Zweitherz befühle.
Ein Bild für die Götter.
Ohne das Sportplatz-Ambiente drumherum hätte man sogar von halbwegs solider Dramatik sprechen können. Etwas Absurdes
hat die Lage allemal. Ich, derjenige mit dem zukünftigen blauen Auge, der Verletzte, hocke relativ abgeklärt am Boden. Diejenige, die mir diese Verletzung, ohne mit der Wimper zu zucken, zugefügt hat, heult dagegen, als würde jemand sie abstechen wollen.
Was stimmt mit dieser Situation nur nicht.
„Es tut mit nicht Leid. Kein bisschen“, stellt sie winselnd klar und schluchzt noch lauter.
Eines wird mir in der Sekunde klar: Ich verstehe sie nicht. Kein Stück. Warum weint sie?
Ich stelle mich ziemlich idiotisch an, als ich versuche, mich aus dem Staub zu machen. Aber den Punkt, wo ich versuche, eine gute Figur abzugeben, habe ich schon längst
hinter mir gelassen und mal ehrlich, wie viel Sinn hätte das in dieser Situation auch noch?
Sie schaut mich aus verheulten Augen an, die schwellungstechnisch schon einen signifikanten Rivalen für mein pochendes Auge darstellen, sagt aber nichts. Schreit nichts. Jammert auch nichts. Ich im Übrigen auch nicht. Ich nicke nur knapp, drehe ihr dann den Rücken zu, um abzuhauen.
Womit ich allerdings ganz und gar nicht gerechnet habe, ist das andere Mädchen, das da plötzlich aus dem Boden gewachsen zu sein scheint. Stockend, als müsse man ihre Gelenke ölen, streckt sie mir ein rosarotes Stofftaschentuch mit eingenähten Herzchen entgegen. Und, oh Wunder, sie weint. Ich komme wieder einmal nicht umhin, mich zu
fragen: Warum zur Hölle heult die jetzt auch noch?
Meine rechte Gesichtshälfte empfinde inzwischen als gut doppelt so schwer wie die linke.
Das ist zu viel. Ich muss hier weg, schleunigst.
So eindringlich, wie es mir mit einem zugeschwollenen Auge möglich ist, schaue ich dem Taschentuchmädchen in die Augen und murmele mit einem Kopfnicken in Richtung Ohrfeigenmädchen: „Sie da braucht das jetzt wahrscheinlich mehr als ich.“
Endlich kann ich verschwinden.
Nach einiger Entfernung bleibe ich noch einmal stehen. Drehe mich aber nicht um. Sirenengeheul im Kanon. Sehr
dramatisch.
Wie zur Kontrolle fahre ich über mein geschundenes Auge. Ganz feucht. Es fängt also an zu tränen. Dann merke ich das Kitzeln auf meiner anderen Wange. Hm, auch feucht.
Ach, verdammte Sonne.
Mit einer fahrigen Geste wische ich mir übers Gesicht und gehe meines Weges – mit der Sonne im Rücken.