Veränderung
Es war schon ziemlich aufregend für mich, denn ich hatte meinen Vater seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen. Wenn meine Eltern ankamen, dann wollten wir erst mal draußen im Garten etwas essen. "Aber mach dir keine Mühe, Kleines, nur eine Kleinigkeit, mehr ist nicht nötig." Die Worte meiner Mutter klangen noch in meinem Ohr. Danach wollten wir, mein Vater und ich, uns an den Bau des von mir schon so lange gewünschten Schuppens machen. Der lag mir wirklich sehr am Herzen, sollte er doch den beiden Krähen, die uns das Tierheim zum Aufpäppeln anvertraut hatte, den nötigen Raum bieten, den sie brauchten,
um richtig Fliegen zu lernen, bevor wir sie zurück in die Freiheit lassen konnte.
Den Tisch hatte ich schon unter unserem großen, alten Kirschbaum gedeckt und das Essen war soweit fertig, denn sie würden, pünktlich wie immer, gleich ankommen. So hatten wir es telefonisch abgesprochen und Pläne hatten große Bedeutung in meiner Familie und wurden eingehalten, immer !
Bei diesem Gedanken waren schwuppdiwupp all die Erinnerungen wieder da. Als ich damals sehr überstürzt von zu Hause auszog, da hatte ich eine ziemliche Wut gegen meinen Vater im Bauch. Nur weil ihm mein damaliger Freund nicht passte, brachte er am Telefon ein Schloss an und
wollte damit unsere Telefonate verhindern. Auch hatten meine Eltern meinen Schreibtisch aufgebrochen und alle Briefe, gesammelten kleinen Texte und, das war am schlimmsten, mein Tagebuch gelesen. Das war der Punkt, der das Fass für mich zum Überlaufen brachte. Ich zog aus, wohnte auf einem kleinen Segelboot von Freunden, das den Sommer über im Hafen lag, bis ich schließlich zu meinem Freund nach Berlin zog.
Seitdem waren etliche Jahre vergangen und ich hatte mir aus dem, was ich von der Lebensgeschichte meines Vaters wusste, zusammen gereimt, wie er so hatte werden können, so distanziert, so immer korrekt, so ..….bei ihm zählte halt immer das Ziel mehr als der Weg. Aber welche Chance hatte er
auch gehabt? Geboren als achtes von acht Kindern, die Mutter schwer krank, der Vater gestrauchelter Trinker, der nur deshalb seine Arbeit nicht verlor, weil er Beamter war, hatte er von Klein auf die Pflege seiner Mutter übernehmen müssen. Sein Zukunftstraum, eine kleine Tankstelle mit Werkstatt, die er, als ausgebildeter Automechaniker, kurz vordem Krieg mit seinem Bruder gekauft hatte, wurde im Krieg von Bomben zerstört, er verlor zwei seiner Brüder, geriet in Kriegsgefangenschaft und war, als er aus dieser zurück kehrte, durch eine neue Grenze von einem großen Teil seiner Familie getrennt worden. Um seinen Tankstellentraum betrogen blieb er erst einmal bei der Marine, auch wegen der sich ihm dort bietenden verschiedensten
Ausbildungsmöglichkeiten. Ich erinnere mich noch gut an die Dias, die er auf einer Überfahrt nach Amerika gemacht hatte, während eines Sturmes mit über zwölf Meter hohen Wellen. Wirklich imposante Bilder! Alle paar Jahre sahen wir sie uns mit dem alten Diaprojektor wieder an, wenn Besuch kam, der sie noch nicht kannte und mein Vater gerade in Laune war. Zu jener Zeit ging es bei der Fahrt ja auch nicht mehr direkt um Krieg und Frieden, sondern um eine längere Spezialschulung, die in Amerika stattfinden sollte. Es waren genau die Monate, in denen meine Mutter die Geburt ihres, wie sich später heraus stellen sollte, letzten Kindes erwartete. Nach der Hochzeit und der Geburt des zweiten Kindes, das erste war nach drei
Tagen verstorben, schien ihm eine ausbaufähige, ihm Aufstiegschancen bietende Ausbildung wichtiger denn je, denn er wollte seine sicherlich noch weiter wachsende Familie gut abgesichert wissen. Er selbst hatte in seiner Kindheit erlebt was es hieß, in ärmlichen Verhältnissen und den daraus resultierenden Sorgen und Nöten auf zu wachsen. So schien ihm damals die Marine mit den sich ihm dort bietenden Aufstiegschance genau das zu sein, was er suchte. Bei Marine denken viele an die schnuckeligen, jungen Matrosen in ihren blauen Uniformen, die, sobald sie Landgang haben, als angetrunkene Schürzenjäger hinter jedem weiblichen Wesen herjagen oder in Heerscharen die Bordelle stürmen, die ja
nicht ohne Grund häufig, so vorhanden, in Hafennähe angesiedelt sind. Nicht so mein Vater, nein Er ging bei der Marine zur Universität, wurde Lehrer an der Marineschule, stieg immer weiter auf und bezog im Laufe der Zeit nach und nach immer höhere und letztlich ziemlich gewichtige Posten. Wann hätte er da je Zeit finden sollen für so etwas wie Spontaneität ? Sein Leben war eine endlose Abfolge sehr ernst genommener Pflichten, war stete Sorge für und um andere. Ich glaube, in diesen langen Jahren kam er selbst auf irgendeine Art in seinem eigenen Leben gar nicht vor. Und um dieses selbst auferlegte Pflichtprogramm überhaupt durchstehen zu können, hatte er gelernt, all seine eigenen
Wünsche, Gefühle und Gedanken zu unterdrücken, zu verdrängen. Und wofür ? Sicher, die Familie war dadurch immer finanziell abgesichert gewesen, aber um welchen Preis ? Wir sahen ihn selten, er wurde uns und wir ihm fremd. Er, der eigentlich als Handwerker hatte leben wollen, war nun ein hochrangiger Marineoffizier, mit Aufgaben, die ihm nicht lagen, in einer Umgebung, die ihm fremd war und unter Menschen, die in keiner Weise jenen ähnelten, die er sich gewünscht hatte. Vor zwei Jahren etwa geschah etwas Einschneidendes, er erlitt völlig unerwartet einen schweren Schlaganfall. Über Wochen war er halbseitig gelähmt, konnte nicht sprechen und war, was gerade für ihn sehr
schwer war, völlig und in jeder Beziehung auf Hilfe angewiesen. Aus Telefonaten mit meiner Mutter wusste ich davon und sie hatte mir auch sein Aussehen beschrieben, sagte, er habe auf sie gewirkt, wie ein welkes Blatt, das dünnhäutig und blass da lag und auf das Entweichen des letzten Restes an Leben wartete. Kurzfristig hatte sie befürchtet, er würde sich nicht wieder aufrappeln, würde sich aufgeben, aber irgendwann hatte er offenbar innerlich einen Schalter um gelegt und begonnen an seiner Genesung zu arbeiten. Es war ein langer, schwerer Weg, aber er schaffte es. Danach entschied er allerdings, sich vorzeitig pensionieren zu lassen. Er wollte diesen Stress nicht mehr, hatte beschlossen, es sei nun genug.
Und nun stand ich hier im Garten vor meinem extra schön gedeckten Tisch und erwartete die Ankunft von ihm und meiner Mutter. Wie bereits erwähnt, hatte ich inzwischen mehr Verständnis für ihn und sein Verhalten, aber dennoch war mir ziemlich mulmig, gerade in Gedanken an das gemeinsame Bauvorhaben. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie angespannt und leicht reizbar er in solchen Augenblicken war. Es war, als würde man mit einer Tellermine arbeiten, höchst explosiv! Nun gut, es würde schon irgendwie klappen und der Schuppen musste wirklich dringend fertig werden. Da hörte ich sie schon den kleinen Weg entlang in Richtung unseres Gartens kommen. Merkwürdig war das Gefühl
schon, nach so langer Zeit wieder seine Stimme zu hören. Aber da waren sie schon am Gartentor und ich ließ sie herein.
Nach einer ersten kurzen Begrüßung holten wir vorab das mitgebrachte Werkzeug und Baumaterial, das er noch im Keller gefunden hatte, aus dem Wagen und deponierten alles in die Nähe der Stelle, an der später der Schuppen entstehen sollte. Mein Vater fand und inspizierte sofort die von mir vorbereiteten kleinen Betonklötze, in denen ich die Halterungen für die Eckpfeiler eingelassen hatte. Allein, dass er sie ansah führte bei mir sofort zu einer deutlich wahrnehmbaren Anspannung, aber er meinte nur, die sähen ja wirklich gut aus und ging
wieder zum Tisch, auf dem mein Freund inzwischen das Essen aufgetragen hatte. Wir saßen recht lange, ungewohnt lange und meine Mutter verabschiedete sich zu einer Mittagsstunde, während mein Freund mit Geschirr und Resten in der Küche verschwand, um gleich den Abwasch zu erledigen. So saßen wir auf einmal alleine da unter dem Kirschbaum und ich bekam ein etwas beklemmendes Gefühl in der Magengegend, aber mein Vater begann ganz gelöst und entspannt zu erzählen.
„Ach du," begann er, „so schön haben wir wohl noch nie beisammen gesessen oder kommt das nur mir so vor? Früher hatte ich ja auch kaum mal die Zeit für ein so ruhiges, gemütliches Treffen."
Er atmete einmal tief ein und wieder aus.
„Weißt du, als ich da im Krankenhaus lag, nach dem Schlaganfall, das war eine schlimme Zeit für mich."
Ich nickte ihm bedächtig zu, denn ich konnte das gut Nachvollziehen.
„Erinnerst du dich noch an die Geschichte, als ich mir damals während des Krieges das Beim gebrochen hatte?"
Wieder ein Nicken meinerseits.
„Da bin ich, weil ich das nutzlose Abwarten nicht aushalten konnte, viel zu früh wieder zum Dienst angetreten, mit der Folge, dass der Bruch sich verschob, ich fortan ein zu kurzes Bein hatte und daraus folgend mein Leben lang schlimme Rückenschmerzen."
„Wieso konntest du das damals so schwer
aushalten, das Nichtstun? Jeder andere hätte garantiert versucht, jeden Schnupfen als Grippe zu verkaufen, damit er eine Pause bekommt von dem ganzen Scheiß? Was war da bei dir los?“ Das wollte ich ehrlich gerne von ihm wissen. „Ich konnte es nicht ertragen, wenn ich nichts hatte, was mich von mir selbst ablenkte, weißt du! Wenn ich nichts zu tun hatte, dann begann ich immer gleich zu grübeln und konnte dann gar nicht mehr damit aufhören."
Das kannte ich auch von Menschen in meinem Umfeld, die mussten permanent in Bewegung bleiben, um nicht in tiefste Grübelei zu versinken. Mein Freund hatte mit bekommen das wir uns unterhielten und brachte uns so wenig wie möglich
unterbrechend eine Kanne Kaffee mit allem nötigen Drumherum.
„Danke!“ Mein Vater sah ihn kurz an, direkt in die Augen, das konnte ich sehen und genau das hätte er früher so niemals getan. Sich wieder zu mir wendend fischte er mit dem Finger ein Kirschblütenblatt aus seinem Becher. Wie Schnee rieselten diese weißen Blättchen beim geringsten Lufthauch vom Baum herunter. Mein Vater schnippte das Blatt von seinem Finger zu Boden und sah mich dann nachdenklich an. Mir schien es fast, als hätte er Tränen in den Augen, als er wieder begann zu sprechen.
„Wir haben so viel versäumt, wir beiden. Es tut mir so schrecklich leid."
Nun flossen eindeutig Tränen und ich erhob
mich, ging zu ihm, hockte mich vor ihm hin und nahm ihn in die Arme.
„Vati, du hast doch all das nur getan, weil du für uns die Sicherheit und Geborgenheit wolltest, die du als Kind nie hattest. Das war doch ein sehr ehrenwertes, sehr schönes Ziel. Nur war eben am Ende nach deiner Arbeit und den anderen daran hängenden Verpflichtungen nichts mehr übrig für Dich, für uns, jedenfalls keine Zeit. Das ist traurig, aber du wolltest doch etwas Gutes, für uns alle!“ Er weinte tatsächlich bitterlich, was ich in meinem ganzen Leben nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Immer war er der Starke, der Feste, der Durchhalter gewesen und hatte das auch mit ziemlicher Härte von seiner
Umgebung gefordert. Und nun? „Aber das ist doch eine ziemlich kümmerliche Art einem Kind seine Liebe zu zeigen, oder?"
Spätestens jetzt war mir klar, das ich hier einen gänzlich anderen Menschen als früher vor mir sitzen hatte, einen sensiblen, zärtlich liebenden Mann, der erkannt hatte, dass er ein wirklich großes, langes Stück seiner Lebenszeit quasi einen falschen Weg entlang gegangen war und dem nun klar wurde, dass die verbleibende Zeit nicht mehr wirklich lang war. Was musste das für ein Gefühl sein? Grausam! Wir saßen noch eine ganze Weile dort im Garten im rieselnden Blütenschnee und sprachen mit einander, wie wir nie zuvor mit einander gesprochen hatten. Im Baum über uns saß eine Amsel und sang mit einer
solchen Kraft und Intensität, dass die Klangspitzen ihres Liedes schon fast schrill klangen, aber die Lebenskraft und -freude, die aus diesem kleinen Vogel heraus schallte, die war beeindruckend. Während wir nun also dort saßen und gerade eine Weile nicht sprachen, um der Amsel zu lauschen, da formte sich ein Gedanke in mir.
Mein Vater war, von seiner Kindheit an, den ganzen langen Weg, den er gegangen war, scheinbar zielstrebig auf einen Punkt zu gegangen, an dem eben dieser Weg, auf Grund der ihm inne wohnenden Mechanismen, es unmöglich machen würde, ihn weiter zu beschreiten. Klingt irgendwie paradox. Er hatte sich so etwas wie seine eigene Notbremse gebastelt, einen bei
drohender Selbstauflösung automatisch anspringenden Notfallknopf und hatte sich so höchst selbst ins Krankenhaus gebracht. Ins Krankenhaus, aber in kein beliebiges.
Es war genau das Krankenhaus, in dem er vor Jahren geboren worden war. Als habe das Leben seine Not erkannt und ihn, da er es offenbar allein nicht fertig brachte, für eine zweite Chance noch einmal den Umweg über genau dieses Gebäude nehmen lassen - für eine zweite Geburt, in ein zweites, neues Leben. Als habe ihm das Leben damals mit dem Beinbruch einen ersten Ball zugeworfen, den er aber zu jener Zeit noch nicht anzunehmen bereit gewesen war. So wurde dann dieses Krankenhaus für ihn zu einer Art persönlicher Zauberzone. Die Zeit dort wurde
zu einer Phase, in der mein Vater für sein weiteres, sein zweites Leben eine völlig neue Philosophie entdeckte und auch annehmen konnte. Er war dort, fast wie auf einer einsamen Insel, gestrandet und hatte nicht flüchten können. Er hatte seinen Gedanken dieses eine Mal nicht ausweichen können. Das musste wohl sehr schmerzhaft, aber auch sehr ergiebig für ihn gewesen sein. Über uns sang noch immer dieser wundervolle schwarze Vogel sein Lied. An diesem Tag haben wir nicht mehr mit dem Bau des Schuppens begonnen. Wir wollten wohl beide diese wärmende, entspannte Nähe, die wir ja gerade erst für uns entdeckt hatten und so sehr genossen, nicht aus Versehen zerstören. Erst am folgenden Tag
machten wir uns dann auch noch an unser Bauvorhaben und es entstand ohne größere Zwischenfälle der von mir so sehnlichst gewünschte Schuppen, mit anschließender Voliere! Was dem Ganzen aber aus meiner Sicht das Sahnehäubchen aufsetzte, war die Tatsache, dass mein Vater mich, so weit ich mich erinnern konnte, zum ersten Mal in meinem Leben für eine von mir geleistete Arbeit lobte."Na, an dir ist ja wohl ein richtig guter Handwerker verloren gegangen! Hut ab!"
Es ist schon erstaunlich, wie viel das in mir, einer zu der Zeit immerhin schon über dreißig Jahre alten Frau, auslöste. Ich habe mir tatsächlich ein paar Tränen verdrückt, damit ich mir nicht vor tränenschwimmendem Blick
mit dem Hammer auf meine Finger klopfte.
Wenige Monate später verstarb mein Vater, was ich nur schwer annehmen konnte, da wir uns doch eben erst sozusagen gefunden und zu einander gefunden hatten. Ich fand das so ungerecht, so falsch. Aber als ich während der Beisetzung gefragt wurde, ob ich vielleicht ein paar Worte sprechen wolle, da fiel mir sofort ein, was ich an dieser Stelle sagen wollte: "Immer habe ich gewusst, das ich einen Vater hatte, der gut für mich und die ganze Familie gesorgt hat, aber ich bin unendlich froh, dass ich noch die Gelegenheit bekommen habe heraus zu finden, dass er nicht nur dieser Vater war, sondern das ich auch einen Papa
hatte, einfach einen lieben Papa !"