Romane & Erzählungen
Panchito aus Pahuatlán - mexikanischer Schutzpatron

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"Panchito aus Pahuatlán - mexikanischer Schutzpatron"
Veröffentlicht am 22. März 2014, 36 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
© Umschlag Bildmaterial: Petair - Fotolia.com
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Über den Autor:

Iaut Pass bin ich 76 Jahre alt. Ich denke aber, da hat sich jemand geirrt. Ich bin verheiratet, habe zwei Adoptivtöchter und vier Enkelkinder, die leider in Südmerika leben, wo wir viele Jahre zu Hause waren. Im Bayerischen Wald genießen wir jetzt eine geruhsame Zeit, die ich zum Schreiben nutze. Aus dem Hobby ist fast schon eine Sucht geworden. Bei myStorys hoffe ich auf Anregung und Gedankenaustausch..
Panchito aus Pahuatlán - mexikanischer Schutzpatron

Panchito aus Pahuatlán - mexikanischer Schutzpatron

Titel

Panchito

aus

Pahuatlán

Die mexikanische Heiligenfigur Panchito de Pahuatlán gibt es wirklich. Seit mehr als 30 Jahren steht sie in unserem Haus, von meinem Mann, Hans-Christoph als  Schutzheiliger geliebt und verehrt.

Ob Panchitos Geschichte wahr Ist? Er hat sie mir eingegeben. Und ich glaube an ihn.

Evadrossel.  

 




Fröstelnd ließ sich Pater Francisco auf der harten Bank des Beichtstuhls nieder und rieb sein schmerzendes Knie. Den anderen Fuß stemmte er auf den Boden, um so die wacklige Bank im Gleichgewicht zu halten. "Sie müßte dringend repariert werden," überlegte er, "und  ein wenig bequemer könnte sie auch sein."

Juana - die Haushälterin des Pfarrers - füllte indessen leuchtend gelbe Tzempachutli, die Totenblumen, in blank geputzte Blechdosen. Da  öffnete sich das Kirchenportal. Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen in den kargen Raum. Don Pedro, der Bürgermeister, betrat das Gotteshaus. Zielstrebig ging er auf den Altar zu.

"Nimm den Hut ab", grollte Pater Francisco.

Erschrocken griff Pedro nach dem Hut und schaute sich verlegen um.

"Pater Francisco", stieß er ärgerlich hervor und war nahe daran kehrt zu machen. Aber Pater Francisco stand bereits neben ihm.

"Willst du beichten, mein Sohn?" fragte er mit

unerwartet sanfter Stimme, wohl wissend, daß Don Pedro aus einem anderen Grund gekommen war.

"Nein, ich  hole mein Eigentum zurück," erwiderte er und näherte sich  der Nische, in der der heilige Christopherus mit dem Kind stand.

"Du weißt, daß es eine Bußgabe war", erinnerte ihn Pater Francisco.

Aber Pedro schüttelte energisch den Kopf. "Es geht nicht länger. Meine Frau Maria liegt mir seit Tagen in den Ohren, die Figur wieder herbeizuschaffen. Morgen - zum Fest der Toten - will sie den Christopherus im Hause haben. Du weißt, Pater Francisco, ich kann ihr den Grund für die Buße nicht nennen. Das mußt du verstehen."

Don Pedro schaute am Pater vorbei. Er hatte nicht vorgehabt, sich zu rechtfertigen.

"Dich verstehen?" Pater Francisco lachte leise auf. "Ich soll dich verstehen? Und du? Schau dir

die erbärmliche Ausstattung an, wie  einfach das Bauwerk ist, wie kahl die Wände und leer die Nischen sind. Der Christopherus ist ihr einziger Schmuck. Und den willst du uns nehmen?" Die Stimme des Paters wechselte von Güte zu Zorn.

Pedro drehte den Hut zwischen den Händen, verbeulte ihn und wartete darauf, daß der Pater schwieg. Dann griff er nach der Figur und verließ grußlos das Gotteshaus.

Juana hatte alles mit angehört. Mitleidig beobachtete sie ihren verehrten Pater. Es schmerzte sie zu sehen, wie er auf die Knie sank und inbrünstig zum Herrgott betete.

In Gedanken versunken ordnete Juana die Blumen. "Ich muß dem Pater helfen", murmelte sie. "Beten allein wird nicht helfen."

Pater Francisco ging aus der Kirche. Er überquerte den sonnigen Patio zwischen Kirche und Pfarrhaus und verschwand in seiner

Kammer.

Hastig beendete Juana ihre Arbeit, bekreuzigte sich und verließ das Gotteshaus. Im Vorhof traf sie Pablo, der eine zerbrochene Kirchenbank  reparierte.  Geschickt fügte er ein Holzstück zwischen  die Bruchstücke. Juana schaute ihm  aufmerksam zu. "Ich hab's",  murmelte sie, während sie die Hände an ihrem Schultertuch abtrocknete.

Pablo schaute auf. Juana gefiel ihm, besonders wenn ihre Augen vor Erregung funkelten.

"Unser Pfarrer ist untröstlich, er hat nicht einen Heiligen in der Kirche.  Nicht einmal an den Totenblumen kann er sich erfreuen", stieß sie hervor.

"Na und", brummte Pablo. Ihm war es gleich, ob die Kirche einen Heiligen beherbergte oder nicht. "Der Pater soll halt einen kaufen."

"Wovon denn?" brauste Juana auf. "Der Pater kann sich nicht einmal eine neue Soutane leisten. Schau ihn dir doch an. Zum Erbarmen

sieht er aus. So sehr ich schrubbe und bürste, die Flecken gehen nicht mehr raus. ‚Sein Gewand gleiche dem mit Sternen besprenkelten Himmel oder einer mit Blumen betupften Wiese, hat  der Pater neulich  erst halb im Ernst, halb lächelnd festgestellt.“

„Hör mal, Pablo", fuhr Juana schmeichelnd fort, "kannst du nicht eine Figur für die Kirche schnitzen? Geschickt wie ein Meister gehst du mit dem Messer um."

Pablo verbarg nicht, wie wohl ihm dieses Lob tat. Er legte das Schnitzmesser beiseite und trocknete sich mit einem Tuch das verschwitzte Gesicht. "Natürlich kann ich das. Wie soll diese Figur aussehen? Eine Vorlage gibt es ja nicht."

"Wäre unser Pater nicht Vorlage genug?"

"Eine Figur wie Pater Francisco?" Pablo murmelte etwas Unverständliches.

"Und was bekomme ich dafür?" verlangend betrachtete er Juanas  dralle Figur und ließ sich von ihren vergnügt funkelnden Augen zu einer

kühnen Forderung verführen. "Dich?"

"Mich? Heiraten, meinst du?" Zweifel klang in ihrer Stimme.

"Ja, richtig heiraten."

Abschätzend betrachtete Juan den Mann, der den Holzklotz verlegen in den Händen drehte.

"Wenn die Figur wirklich schön wird, zahle ich den Preis", entschied sie.

Kräftiger als sonst zog Pablo an diesem Totentag den Glockenstrang. In Gedanken weilte er bei seiner Schnitzarbeit, die er unverzüglich in Angriff nehmen wollte. Während der Messe saß er gegen seine sonstige Gewohnheit in der ersten Reihe. Aufmerksam beobachtete er den Pater, prägte sich jede Einzelheit der vertrauten Gestalt ein, seinen schmalen Kopf mit dem buschigen Haarkranz, die aufgeschlagene Bibel in der rechten Hand, die andere beredt vorgestreckt, die braune Soutane, deren Flecken sogar auf die Entfernung

sichtbar waren. Darunter zeichnete sich das leicht angewinkelte, schmerzende Knie ab.

Die Arbeit  ging Pablo nicht leicht von der Hand. Stunden um Stunden mühte er sich, dem Holz die richtige Form zu geben. Und ganz zum Schluß verdarb er sie  fast, als er die Soutane, ohne nachzudenken, blau bemalt. "Blau wie der Nachthimmel im Mondenschein", murmelte er entschuldigend und beschloß, sie so zu belassen und ihr noch bunte Blümchen darüber zu streuen. Hatte nicht der Pater selbst seine Soutane mit einer  blühenden Wiese verglichen?

Endlich war die Figur fertig. Voller Stolz betrachtete Pablo sein Werk und schob es heimlich in die Nische, in der bislang  der Christopherus gestanden hatte. Gespannt wartete er darauf, dass Pater Francisco sie entdeckte.

Ächzend verließ der Priester den Beichtstuhl.

Da war ihm, als schimmere ein Schatten in der bislang verwaisten Nische. Er humpelte näher. Wahrhaftig, auf einem roten Klotz erhob sich eine Figur in einer blauen Soutane. Pater Francisco lächelte. Es waren tatsächlich Blumen auf dem nachtblauen Gewand und nicht etwa Flecken. Der Pater war ergriffen. Mit den Fingerspitzen berührte er die Figur, als  fürchtete er, sie sei ein Phantasiegebilde. Sie fühlte sich kühl an, noch ein wenig feucht. Vorsichtig schob Pater Francisco sie ins Profil, dann ganz herum. Er trat einen Schritt zurück. Das Bild vor seinen Augen verschwand nicht. "Panchito," murmelt er, da ihm plötzlich einfiel, dass seine Mutter ihn in seinen Kindertagen so gerufen hatte.

Verstohlen beobachteten Juana und Pablo, wie  Pater  Francisco auf die Knie sank und betete. "Panchito! Gott Vater, du hast mein Gebet erhört...."

Seit diesem Tag, es war im Jahr 1885, stand die Figur - von allen liebevoll Panchito genannt - in der Nische nahe dem Altar in der Kirche von Pahuatlán. Panchito hörte die Klagen, die Bitten und Schwüre der Gläubigen. Er ließ sich ihre Verehrung gefallen und nahm ihre Versprechen entgegen. Er erhörte  Juanas inständige Bitte und sah sie in drei aufeinander folgenden Jahren mit einem neugeborenen Sohn vor ihn hintreten.

Und Pablo hob stets voller Stolz den Kopf, wenn er die Kirche betrat und seinem Werk wie einem guten Freund zunickte.

Das neue Jahrhundert war gerade ein Jahr alt, da starb  Pater Francisco. Pablo selbst holte die Figur aus der Nische und stellte sie einer Totenwache gleich neben den Sarg, bis der Leichnam auf den nahen Friedhof gebracht wurde und Panchito an seinen angestammten

Platz zurückkehrte.

Wenige Tage später kam der neue Pater. Jaime war jung, voller Elan und darauf bedacht, frischen Wind in die Gemeinde zu bringen. Mißbilligend betrachtete er die ärmliche Kirche. "Hier muß vieles anders werden", entschied er. "Du, Pablo hast die Betstühle repariert? Keine gute Arbeit", tadelte er und legte den Finger auf die grob geflickten Holzteile. Bedrückt schlich Pablo davon.

Auch Juana erging es nicht besser. "Eine Haushälterin brauche ich nicht," erklärte Jaime. "Tortillas und schwarze Bohnen werden mir die Frauen des Dorfes machen. So kann ich mir die Kosten für fünf hungrige Mäuler sparen."

Während Juana still vor sich hin weinte und ihre Habe zusammenpackte, schäumte Pablo  vor Wut. Er schlich in die Kirche.  Mit geballten Fäusten trat er vor seinen Panchito hin. "Was sagst du zu dieser Ungerechtigkeit?" zischte er mit zusammengebissenen Zähnen.

 "Wenn ich gehen muß, gehst du mit." Er reckte sich und langte nach der Figur.

"Laß mich stehen! Ich gehöre der Kirche", raunte ihm Panchito zu. Jedoch Pablo schenkte ihm kein Gehör und verbarg ihn unter seinem Poncho.  Fest drückte er die Figur an seinen Leib, als aus dem Gotteshaus schlich.

Bei Morgengrauen verließen Juana und Pablo mit ihren Söhnen das Dorf. In der Umgebung suchten sie hier und da Arbeit und Unterkunft. Sie führten ein karges Leben, denn  immer wieder mußte Pablo sich eine andere Arbeit suchen. Die Kinder wuchsen heran und gingen ihrer eigenen Wege. Juana und Pablo blieben alleine. Juana begann zu kränkeln. Das Heimweh hatte ihre fröhliche, zupackende Art aufgezehrt, daß Pablo fürchtete, sie würde darüber sterben.  

"Bring mich dahin zurück, wo ich hingehöre", hörte Pablo seine Figur leise mahnen.

Nachdenklich betrachtete er den Freund im blauen Gewand, der nun schon so lange in einem Lumpen versteckt gehalten wurde und versprach ihm:  "Ich trage dich zurück an den Platz, der dir und uns die Heimat war."

Gemeinsam mit Juana begab er sich auf den Weg nach Pahuatlan.  Als sie die vertraute Kirche betraten, sehnten sie  sich danach, die so lange vermisste Wärme und Geborgenheit zu spüren. Verstohlen schauten sie sich um, ihre Blicke wanderten zu der leer gebliebenen Nische. Feierlich stellten sie Panchito an seinen Platz, von wo er wie einst auf die Schar der Gläubigen hinabschauen konnte. Lange verharrten Juana und Pablo im Gebet. Dann warteten sie darauf, die Freude und Überraschung der Menschen zu erleben.

Aber die Kirche  war nicht länger Zufluchtsort für Trost und Liebe. Pater Jaime führte ein strenges Regime. Die Wände waren nicht mehr schimmelgrün, sondern weiß gestrichen, der

Fußboden sauber geputzt, die Bänke standen in Reih und Glied, aber die Gläubigen kamen nicht mehr wie früher mit ihren täglichen Anliegen und Sorgen. Wenn die Glocke zur Messe rief, näherten sie sich pflichtgemäß und hastig. Sie hoben kaum den Blick, so fiel ihnen nicht auf, daß neben der Vase mit den vertrockneten Blumen ihr alter Panchito lehnte.

Für kurze Zeit hatte Pablo Hoffnung geschöpft. Don Sergio, der Bürgermeister gab ihm hier und da Arbeit und stellte ihnen eine Hütte zur Verfügung. Juana erholte sich ein wenig. Sie beklagte sich nicht mehr, aber ihre Lebendigkeit, ihre einstige Tatkraft, die Pablo so an ihr bewundert hatte, blieben verschwunden.

"Auch Panchito hat uns nicht geholfen", gestand sich Pablo ein, "uns ist  kaum das Nötigste geblieben."  

"Schimpf nicht, Mann", mahnte Juana.

Ärgerlich verließ Pablo die Hütte, um einen reparierten Stuhl zu Don Sergio zu bringen. Wortlos drückte Sergio ihm einen Peso in die Hand. Das Geldstück brannte Pablo in der Hand, ohne weiter nachzudenken, betrat er  die Schänke. Der Peso war rasch vertrunken. Auf dem Weg nach Hause, steigerte sich Ärger in heftigen Zorn. Pablo änderte seinen Weg und betrat  die Kirche.

"Panchito, du hast mich im Stich gelassen", schimpfte er. "Ich habe dich auf deinen Platz zurückgestellt, aber du hast nicht gehalten, was du versprochen hast. Du kannst mich wohl nicht mehr beschützen?" Pablos Stimme grollte wie Donner und seine Antwort kam als Echo. "Wenn du nicht mehr an mich glaubst, kann ich dich nicht beschützen. Allmächtig bin ich nicht. Ich bin nur ein einfacher Bauer unter Bauern."

"Was sagst du? Einfach? Soll das heißen, ich habe nicht ein Kunstwerk geschaffen? Eine wahre Zierde für diese Kirche?" Panchito gab

keine Antwort. Die Stille entfachte die gekränkte Eitelkeit in Pablo. Er reckte sich,  griff nach der Figur und machte Anstalten, sie gegen die Kirchenmauer zu schleudern.

"Pablo, untersteht dich!" Gebieterisch dröhnte es und ließ Pablo gerade noch rechtzeitig innehalten. Noch immer wütend schob er die Figur an ihren Platz.

"Nie wieder kehre ich hierher zurück", drohte Pablo mit geballter Faust und schwankte davon.

Fortan machte er einen Bogen um die Kirche. Juana erzählte er nichts von seinem Streit.

Die Revolution rollte über das Land Mexiko hinweg. Zunächst jubilierten die Menschen. Viel änderte sich nicht, vor allem nicht für die Menschen auf dem Land. Aber die Welle der Bewegung verschlug Juana und Pablo aus Pahuatlan in die Berge der Sierra.  

Auch Pater Jaime verließ bei Nacht und Nebel

Pahuatlan. Einen Nachfolger gab es für ihn nicht. Der Bürgermeister war der Meinung, der Kirche gebühre kein Zierrat mehr. Er entfernte die Figur von ihrem Platz in der Nische und stellte  sie in seinem Büro in eine Ecke, von wo sie eines Tages unbemerkt verschwand.

Allein in Juanas Gedächtnis lebte Panchito weiter. Er war ihr fast so lieb geworden wie ihre drei Söhne, die geradeso wie er aus ihrem Leben verschwunden waren.

Als sich die Trockenzeit  dem Ende entgegen neigte, zehrten sich Juanas letzte Kräfte auf.

"Ich werde den ersten Regen dieses Jahres nicht mehr erleben", flüsterte sie und flehte ihren Mann an: "Erfüll mir noch eine Bitte, suche Panchito!"

Es schmerzte Pablo, in das abgezehrte Gesicht der Frau zu blicken. So machte er sich auf den beschwerlichen Weg in das Städtchen Pahuatlan.  Mit schlechtem Gewissen  betrat er die Kirche, die er so lange gemieden hatte. Beklemmend

wirkte die dumpfe Luft des unbenutzten Gebäudes. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, sie suchten die Nische. Sie war leer. Keine Figur, keine Vase standen dort. Nirgends eine  Spur von Panchito, keine tröstenden Worte, die aus der Dunkelheit zu Pablo drangen. Er fühlte sich elend und verlassen, schwankte zwischen Zorn und schlechtem Gewissen.  All die Jahre hatte er keinen Gedanken an Panchito verschwendet. Und jetzt - da er ihn  nötig brauchte - war er wie vom Erdboden verschluckt. Pablo verließ die Kirche. Wie ein Fremder schlich er durch die stillen Gassen von Pahuatlan und grübelte darüber, wer etwas über Panchitos Verbleib wüsste. Einen Pater, den er fragen könnte, gab es nicht mehr. Und was sollte er Juana sagen? Ihm fiel nichts ein. Niedergeschlagen kehrte er nach Hause zurück. Er brauchte keine Ausrede, keinen Trost mehr zu suchen, Juana war tot.

Pablo kehrte nach Pahuatlan zurück und lebte dort wie ein Einsiedler. Selten mischte er sich unter die Menschen und begnügte sich mit dem, was ihm mitleidige Nachbarn zusteckten. Seinen Panchito hatte er seit der vergeblichen Suchen aus dem Gedächtnis verbannt.

Als das Jahr 1929 anbrach, war Pablo ein alter Mann. Don Sergio hatte sich zur Ruhe gesetzt. Der neue Bürgermeister hieß Don Emanuel und teilte Pablo hin und wieder eine kleine Arbeit zu. So beauftragte er ihn eines Tages, seinen Lagerraum aufzuräumen.

"Wirf alles fort, was nichts mehr taugt und zünde es an", befahl er. Pablo machte sich an die Arbeit, schweigend wie es seine Art war. Auf dem Boden hockend räumte er Akten beiseite, glättete Zeitungen, stapelte leere Dosen und Flaschen. Zwischen dem Gerümpel leuchtete ihm ein rot bemalter Holzklotz entgegen. Er zog ihn hervor und hielt seinen Panchito in den Händen.

"Panchito, ist es möglich", stammelte Pablo und betrachtete die Figur, die ihm einst einen so wertvollen Preis eingebracht hatte, und die er später selber vernichten wollte. Sie erschien ihm wie ein Stück seiner seit langem vergangenen Jugend. Pablo traute seinen Ohren nicht, als er die vertraute Stimme vernahm: "Bring mich weg von diesem Ort! Bring mich in eine Kirche, wo es noch Gläubige gibt!"

"Du sprichst wieder zu mir!" Pablo drückte seinen Panchito an sich, als wäre er ein Kind.

Don Emanuel hörte Pablo reden. Voller Mißtrauen schaute er in den Lagerraum: "Mit wem sprichst du?"

"Mit Panchito!" Pablos alte Augen glänzten, als er die Figur dem Bürgermeister entgegen hielt.

"Trunkenbold, mit einer Figur kann man nicht reden!"

"Ich kann es. Ich habe sie geschaffen."

"Wenn du nicht Augenblicklich still bist, werfe ich dich hinaus", grollte Don Emanuel.

Mühsam erhob sich Pablo aus seiner hockenden Stellung, er straffte sich und nahm all seine Kraft zusammen. "Don Emanuel, ich bitte euch, gebt mir als einzigen Lohn diese Figur."

Einen Moment dachte Don Emanuel  nach. Der Alte mit dem verwirrten Geist tat ihm leid.

"Verschwinde!" sagte er und deutete zur Tür.

Erstaunlich behände lief Pablo davon, seinen Panchito fest unter den Arm geklemmt. Er kannte die ausgetretenen Pfade durch die subtropische Vegetation zum Fluß hinab und auf der anderen Seite wieder hinauf. Vorbei an dem Dorf San Pablito und weiter bis hin nach San Nicolas. Eingebettet liegt das Dörfchen im dichten Wald. Wenige Holzhütten, ein Lädchen, ein primitives Gasthaus gruppieren sich um die Kirche. An San Nicolas und seine Bewohner war die Revolution spurlos vorübergegangen. Für sie gab es nichts als den Wandel der Jahreszeiten, die tägliche Arbeit, den regelmäßigen Besuch der heiligen Messe und den

Schwatz im Gasthaus.

'Das ist die geeignete Kirche für Panchito', entschied Pablo. Er war fast am Ende seiner Kraft, als er das Dorf auf dem Bergrücken in 1700 m Höhe erreichte. Er schleppte sich zur Kirche, schaute sich um, suchte nach einem würdigen Standort für Panchito. In diesem Kirchlein, das so dürftig war, daß es kaum den Namen Gotteshaus verdiente,  gab es keine Nische, keinen Mauervorsprung von dem Panchito auf die Gläubigen hinab schauen konnte.  Allein ein Altar, ein einfacher Holztisch, bedeckt mit einer aus Papier zu Ornamenten geschnittenen Decke, stand unter dem einzigen Fenster des Heiligtums.

"Das muß dir genügen", entschuldigte sich Pablo. Ihm war, als lächelte Panchito ihm zu, und er hörte ihn sagen:  "Hier wirst du in Frieden leben, solange ich an diesem Platz stehen kann."

Zufrieden verließ Pablo die Kirche. Dann suchte

er die Hütte, in der sein ältester Sohn mit seiner Familie lebte. "Ich bleibe bei Euch", verkündete er, verkroch sich in eine Ecke und schlief drei Tage und drei Nächte, bis er mit frischen Kräften erwachte.


Täglich ging Pablo in die kleine Kirche. Liebevoll betrachtete er sein Werk, strich mit den Fingerspitzen über den blauen Umhang und hielt Zwiesprache. Voller Stolz erzählte er seinen Enkelkindern wieder und wieder, wie er dazu gekommen war, diese Figur zu schnitzen, und daß sie so oft zu ihm gesprochen habe.

"Sie hat magische Kräfte", erklärte er mit geheimnisvoller Miene vor allem seinem ältesten Enkel Rafael. "Merke dir, Panchito beschützt nur den, der an ihn  glaubt. Ich habe es am eigenen Leibe erfahren," setzte er etwas leiser hinzu. "Versprich mir, diese Figur in Ehren zu halten, wenn ich mal nicht mehr bin."

Die Jahre kamen und gingen. Pablo war mit seinem Leben versöhnt. Er machte sich um nichts Sorge und hatte aufgehört, seine Jahre zu zählen. Täglich pflegte er Zwiesprache mit Panchito. Immer öfter fragte er: "Hat der da droben mich vergessen?" Und er fügte stets die gleiche Bitte an: "Gib acht Panchito, daß ich einst schmerzlos erlöst werde." Dabei zwinkerte er seinem Freund vertraulich zu.

Die Regenzeit war gerade vorüber. Die Sonne trocknete die Erde. Die Wärme tat Pablos alten Knochen gut. Es begann zu dämmern, da erhob er sich, um wie  gewohnt zur Kirche zu gehen. Leise öffnet er die Kirchentür, wartet, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Tastend suchen seine Füße den wohlbekannten Weg. Er spürt, daß er nicht alleine ist. Wie ein Schatten bewegt sich eine Gestalte auf ihn zu. Es war sein Enkel.

"Raphael", entfuhr es ihm. In der erhobenen Hand hielt der Junge die Figur.

"Heiliger Francisco", stieß  Pablo hervor. Bevor der Junge seinen Schlag ausführen konnte, stürzt der Alte zu Boden.

Einen Augenblick lang verharrte Rafael reglos, er starrte auf den Großvater, auf seine erloschenen Augen. Dann wandte er sich ab, warf die Tür hinter sich ins Schloß und floh den Berg hinab.

Keiner verfolgte den Mörder. Dennoch rastete er nicht, bis er  Pahuatlan hinter sich gelassen hatte und atmete erst auf, als er nach  Tulancingo kam.

"Heiliger Francisco", der Schrei dröhnte unablässig in seinem Kopf.

"Heiliger Francisco", fluchte er, "hör auf mich zu martern. Du  bist mein Zeuge, daß ich es nicht wirklich war, der ihn getötet hat."  

Rafael mußte die Figur eiligst loswerden. Entschlossen betrat er den Antiquitäten-laden von Senor Fijero. Allerhand Trödelkram häufte

sich in den Regalen. Senor Fijero selbst  wirkte wie eine exotische Puppe inmitten all dieser nutzlosen Dinge.

"Ich möchte die Figur verkaufen", sagte Rafael. Der Alte musterte ihn prüfend, bis Rafael seinem Blick auswich.

"Ich habe sie von meinem Großvater  auf dem Totenbett bekommen.“

Bei dieser Lüge zuckte er zusammen und fuhr dann fort. "Er hat sie selbst geschnitzt und mir oft erzählt, sie habe magische Kräfte. Großvater hat die Figur Panchito genannt. Sie beschützt den, der an sie glaubt."

Schmunzelnd wiegte der Alte Panchito in den Hände. "Deine Geschichte ist fast so originell wie die Figur selbst", sagte er, holte einen Holzkasten hervor und entnahm ihm ein 50 Pesostück.

"Hundert wollte ich mindestens dafür haben", begehrte Rafael auf.

"Gut, dann nicht", erwiderte der Alte und

reichte die Figur zurück.

Rafael jedoch griff nach dem Geld und floh aus dem Laden.

Versonnen betrachtete Senor Fijero den seltsamen Heiligen. "Sie beschützt den, der an ihn glaubt", flüsterte er. Früher hatte er über dergleichen  gelacht. Aber gerade in diesen, mit groben Fingern gefertigten Figuren, steckte oft ein besonderer Zauber. Senor Fijero schrieb: 'Panchito beschützt den, der an ihn glaubt', auf ein Papier und klebte es unter den roten Sockel. Dann stellte er den wunderlichen Heiligen neben eine Porzellantänzerin, die mit hochmütig erhobenem Kopf den neuen Nachbarn beäugte.

Wäre Panchito nicht aus hartem Holz geschnitzt, er hätte traurig die Schultern hängen lassen und den Kopf gesenkt. Er war betrübt darüber, daß er hier in einem staubigen Laden einfältigen Käufer ausgesetzt war, die ihn mit groben Fingern ungeniert betasteten und deren

Geldbeutel darüber entschied, ob sie ihn erwerben konnten oder nicht. Tränen konnte Panchito nicht weinen, dennoch rieselte das Leben langsam aus ihm heraus.

"Es wäre schade, wenn der Holzwurm sein Werk vollendete", sagte Senor Fijero und trug Panchito in seine Werkstatt. Mit sachkundigen und liebevollen Fingern rieb er eine heilende Tinktur in das Holz und gewöhnte sich so daran,  den Pater im blauen Gewand neben sich zu haben, daß er ihn nicht in den Laden zurücktrug. Und Panchito gefiel der neue Platz zwischen Lackdosen und Pinselbehältern, weichen Tüchern, Leimtöpfen und Schnitzgeräten. Er liebte es, den feinen Fingern des Meisters  zuzuschauen und seinen Selbstgesprächen zu lauschen, in denen er von früher erzählte. Früher war, als seine Frau noch lebte, als seine Kinder heranwuchsen, und als später hin und wieder einer seiner Enkel in den Laden kam.

Panchito war zufrieden mit seinem Schicksal. Ob in einer Kirche oder einer Werkstatt, die Hauptsache war ihm, er wurde geliebt. Und so gewöhnte er sich an dieses Leben zwischen alten Möbelstücken, Bilderrahmen, Haustüren und Ackergerät, die nach und nach unter den Fingern des alten Mannes ein neues Aussehen bekamen und aufpoliert einen Käufer erwarteten.

"Du beschützt mich tatsächlich", bemerkte  Senor Fijero eines Tages voller Hochachtung. "Seit du mir bei der Arbeit zusiehst, geht sie mir leichter als je zuvor von der Hand." Liebevoll rieb er mit einem weichen Lappen die blaue Kutte. "Kein Pater der Welt hat ein solches Gewand", sinnierte er, "der, der dich bemalt hat, muß verliebt gewesen sein."

    

Jedoch die Tage als Werkstattheiliger währten nicht lange. Senor Fijero starb, die  Werkstatt blieb verschlossen und dunkel. Der

Staubschleier bedeckte Begonnenes und Vollendetes, daß Panchito schon fürchtete, die Welt da draußen habe Fijeros Schätze vergessen.

Dann enlich wurde gründlich gelüftet, aufgeräumt und ausgemistet. Brauchbares kam auf einen Wagen, alles andere, wer weiß....

Panchito landete auf dem Wagen. Eingezwängt zwischen Stühlen, Tischen, Regalen und anderen Figuren fuhr er lange Stunden einem ungewissen Ziel entgegen. Dann stand er wieder in einem Laden zum Verkauf. Diesmal aber nicht lange. Eine alte Frau entdeckte das Zettelchen unter seinem Sockel. "Panchito beschützt den, der an ihn glaubt.“ Sie kaufte ihn. Dona Elisa gab Panchito einen Ehrenplatz. "Ich glaube an dich, Panchito, beschütze meinen Sohn", flüsterte sie ihm jeden Morgen zu. Sie sprach zu ihm, als wäre er ihr Francisco. Sie fragte Panchito um Rat und weinte bei ihm, wenn sie traurig war.

Gerne hätte auch Panchito zu ihr gesprochen, wie er es einst mit Pablo getan hatte. Aber er blieb stumm, warnen und raten konnte  er nur dem, der ihn geschaffen hatte.

Dona Elisa machte sich oft Sorge um ihren Sohn Pancho, der nun schon so lange in der Fremde weilte, dort wo der Krieg wütete.

Aber oh Wunder, er kam heim, um seine Mutter zu umarmen und dann erneut fortzugehen.

Wieder war Panchito ihr einziger Trost. Leider erlebte Elisa die Rückkehr ihres Sohnes nicht mehr. Und Panchito wurde Eigentum einer jungen Freundin von Elisa, der sie oft von den Wundern der Figur erzählt hatte. Sie erbat sich, daß es nicht regnen möge, daß sie die Schönste eines Festes sein oder ein junger Mann sie umwerben möge. Panchito war hierfür nicht der richtige Fürbitter.   Aus Enttäuschung schenkte sie ihn einer Kollegin, für die sie gerade in Geschenk suchte. "Er soll Wunder wirken", versprach sie. Aber Panchito wirkte auch bei ihr

keine Wunder. So diente er erneut als Verlegenheitsgeschenk, diesmal für einen älteren Herren, der  sich zwar höflich bedankte, die Figur jedoch in die hintere Ecke eines Schrankes schob. Auf diese Weise wanderte Panchito  höchst lieblos von einem Besitzer zum anderen. Er hatte sich abgewöhnt nach dem Warum und Wohin zu fragen, denn ihm blieb die Hoffnung, daß er eines wunderschönen Tages einem Menschen begegnen würde, der seine grobe Form liebgewinnen und seine stille Gegenwart zu schätzen wüßte.  

Aber zuvor mußte Panchito noch einmal in einem Laden darauf warten, gekauft zu werden. Diesmal stand er  zwischen einer Papstfigur, einem pompös bemalten Engel und einer Heiligenfigur ohne Arme. Er kam sich recht bescheiden vor inmitten der heiligen Gestalten und war nahe daran, den Mut zu verlieren.

Bis zu dem Tag, als Hans-Christoph den Laden betrat. Er beachtete weder die Papstfigur, noch

den pompösen Engel. Er  sah nur Panchito und wußte: "Der gehört zu mir." Er kaufte ihn und gab ihm  den schönsten Platz im Haus,  auf einem Schränkchen, das einst einer Nonne namens Maria gehört hatte.

Seither sind  Hans-Christoph und Panchito unzertrennlich. Er hört ihn lachen, erzählen und auch schweigen. Gütig schaut er auf ihn herab. Mit Blicken gibt er ihm zu verstehen: Du glaubst an mich, ich beschütze dich.

     

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Über den Autor

Evadrossel
Iaut Pass bin ich 76 Jahre alt. Ich denke aber, da hat sich jemand geirrt. Ich bin verheiratet, habe zwei Adoptivtöchter und vier Enkelkinder, die leider in Südmerika leben, wo wir viele Jahre zu Hause waren.
Im Bayerischen Wald genießen wir jetzt eine geruhsame Zeit, die ich zum Schreiben nutze. Aus dem Hobby ist fast schon eine Sucht geworden. Bei myStorys hoffe ich auf Anregung und Gedankenaustausch..

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MerleSchreiber Der Panchito hat ja wahrlich eine Odyssee hinter sich, liebe Eva. Man merkt , da schreibt jemand, der sich mit Land und Leuten und vor allem mit den dortigen Gepflogenheiten auskennt. Fast fühlte ich mich mittendrin durch die wiederholten Besitzerwechsel von den vielen fremdländischen Namen überfordert. Doch der rote Faden der Geschichte - Panchitos Beschützerkraft - ließ mich dranbleiben bis zu letzten Seite. Das war gut so, denn es war auch für mich als Leserin dann irgendwie befreiend, dass die Statue nun ihr dauerhaftes Plätzchen gefunden hat. Und ihr Besitzer einen Beschützer!!!
Klasse Einstand, liebe Eva!
Ganz liebe Grüße zu Dir
Merle
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW Nachtrag: Halt, wir sind schon vier aus Bayern!
Liebe Grüße
Gertraud




Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW Herzlich willkommen bei uns - wenn ich das so sagen darf, denn ich bin auch erst seit kurzer Zeit hier dabei. Aber ich bin sehr, sehr liebevoll aufgenommen worden. Es wird Dir sicher hier gefallen. Jetzt sind wir schon drei aus Bayern, zumindest die ich kenne.
Deine Geschichte ist wunderschön und einfühlsam geschrieben - hat mir sehr gefallen.
Jetzt hoffe ich, dass Du Dich hier wohlfühlst und wir noch viel voneinander hören
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
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