Die Schwüle drückte unbarmherzig, ich hätte das Fenster wohl doch nicht öffnen sollen. Statt abendlicher Kühle hatte ich nun heiße Luft im Zimmer, die mir die Zunge am Gaumen kleben und die Kehle austrocknen ließ. Genau wie damals im Sommer 76, der eben zu Ende gegangene Film wühlte mich auf und weckte Erinnerungen, die ich längst abgespeichert glaubte. Ich knipste den Fernseher aus. Ja, damals, das war auch so ein schwüler Sommer, als ich sie zum ersten Mal traf.
Ich, damals mittlerweile Urgestein im 3. Studienjahr, hatte mich bereiterklärt, die Neuen im Vorpraktikum zu betreuen. Der Job war einfach. Tagsüber faulenzen,
während die Küken die Produktion beschnupperten, nachmittags Post verteilen, Lebensmittel fürs Abendbrot im nahen Dorf besorgen, abends am Lagerfeuer für Unterhaltung sorgen, Fragen beantworten.
Peter und Nele leisteten mir Gesellschaft, zu dritt schafften wir den „Hühnerhaufen“ schon.
Uns umgab nur die gesunde Mecklenburger Landluft, PC und Handy war noch nicht und Fernseher gab es dort keinen. Dafür besaßen zwei Jungen Gitarren, jeden Abend wurde gesungen, dazu Unmengen an Witzen erzählt, ich konnte mir die nie merken.
Tina fiel mir wegen ihrer großen rehbraunen Augen auf, das markanteste an ihr. Ansonsten war sie ein Mädchen von 18 Jahren wie die meisten anderen auch, die gerade ihr Abitur bestanden hatte und im Harz zu Hause war. Sie war still und zurückhaltend, doch mir fiel auf, dass sie mich oft beobachtete, deshalb sprach ich sie an. Wir gerieten in ein lockeres Gespräch.
Eine Woche später, ich klapperte gerade fröhlich mit meiner Rundstricknadel, Pulloverstricken war damals absolut angesagt, kam sie zu mir und bat mich schüchtern, etwas fragen zu dürfen.
„Alles, was du willst, dazu bin ich ja hier.“
„Kann man auch Kinder mitbringen?“
Ich klapperte ohne aufzusehen weiter. Studentinnen mit Kind waren zur damaligen Zeit das normalste auf der Welt. In unserem Wohnheim war die unterste Etage extra als moderne Mütteretage eingerichtet worden, wo die jungen Muttis mit ihren Babies alles vorfanden, was sie benötigten, um Studium und Kind unter einen Hut zu bekommen. Die Lehrpläne wurden speziell für sie abgestimmt. Ich berichtete Tina ausführlich von der Mütteretage.
„Du musst nur ganz schnell einen Antrag für den Krippenplatz stellen, sonst wird es damit kompliziert. Es warten ja immer
sehr viele darauf. Aber die Uni hat ein Extrakontingent.“
Sie druckste herum. „Nein, ich benötige einen Kindergartenplatz, mein Sohn ist 5.“, stammelte sie schließlich kleinlaut. Jetzt ließ ich mein Strickzeug sinken und sah dem jungen Mädchen ins Gesicht, das daraufhin errötete. „Es ist nicht, wie du vielleicht denkst.“, schob sie hastig nach.
Ich war viel zu sprachlos, um irgendetwas zu denken geschweige denn zu sagen.
Und so erzählte Tina mir an diesem schwülen Augustnachmittag ihr halbes Leben.
Aufgewachsen war sie, wie schon gesagt, mit ihrer etwas jüngeren Schwester im östlichen Teil des Harzes. Das ist zweifelsohne ein herrliches Fleckchen Erde und eigentlich hätte alles gut sein können. Die Familie besaß ein kleines Häuschen, Mutter und Vater verdienten gut. Da kam der Vater auf die Idee, doch einmal nachzuschauen, wie die Wälder auf der anderen Seite des Harzes so beschaffen sind. Was er sah, ließ ihn vergessen, dass eine junge Frau mit zwei kleinen Töchtern auf ihn wartete.
Einige Jahre später fand die Mutter einen neuen Wegbegleiter, der ihren Töchtern ein väterlicher Freund wurde. Endlich
war die Familie wieder komplett. Zur größten Freude wurde das neue Glück durch die Geburt eines kleinen Bruders gekrönt. Tina und ihre Schwester liebten ihren kleinen Bruder; der neue Vater ebenfalls. Er liebte auch seine Frau sehr, doch im Laufe der Jahre fiel ihm auf, dass die dunkeläugige Tina sich durchaus zu einer hübschen jungen Dame mauserte, und somit stand seine Wahl nun fest.
Die Mutter bemerkte nichts und das Kind schwieg. Bis zu dem Tage, als selbst der Mutter klar wurde, dass ihre Tochter unmöglich durch die Ernährung so zugenommen haben konnte.
Das 13 jährige Mädchen hatte zu diesem
Zeitpunkt selbst noch nicht einmal richtig realisiert, was mit ihr geschehen war. So brachte sie ihren Sohn Pasqual zur Welt, ein inzwischen lustig plappernder 5 jähriger, der die gleichen dunklen Augen hatte wie seine Mutter.
In ununterbrochener Folge erzählte er mir von seinen zwei Müttern, der Mama und der Mama Tina. Ich habe mich, so oft ich durfte, mit dem kleinen Wirbelwind beschäftigt und Tina so gut es mir möglich war unterstützt. Begreifen, wie so etwas geschehen konnte, das gelang mir nicht.
Ich traf sie nach Jahren wieder und lernte ihren Mann und ihren zweiten Sohn kennen.
„Wir sind glücklich.“, sagte sie zu mir.
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