CHRONIKEN EINER GEGENWART, DIE NIE SEIN WÜRDE... DAS ERWACHEN
Wie ein ewiger Fels in der Brandung, so stand die Königin in ihrer kristallinen Vollrüstung an der Klippe.
Ihre ganze Haltung drückte tödliche Entschlossenheit aus, während in ihrem atemberaubend schönen Antlitz unendlicher Kummer zu erkennen war. Unbewegt verharrte sie dort, spiegelte sich das Licht der aufgehenden Sonne in
ihrem einzigartigen Helm aus Tiefquarz und den undurchdringlichen Nebelschwaden unbarmherziger Schlachtfelder. Schweigend blickte sie zurück. Am Fuße der kargen Anhöhe, auf der sie stand, sahen tausendmal tausend Krieger erwartungsvoll zu ihr hoch. Imposante Greife zogen ihre Kreise, Einhörner und Zentauren traten unruhig von einem Huf auf den anderen, während unzählige Riesen gemächlich vor sich hin zu dösen schienen und von prächtigen, geflügelten Pferden umflogen wurden. Ebenso harrten Dryaden und Faune sowie finster dreinblickende Satyrn und Kobolde in
ihren glänzenden Rüstungen in diesem Meer gleichgesinnter Feen aus. Alle waren gerüstet und bewaffnet und bestätigten jetzt ihrer geachteten Anführerin mit einem kurzen, aber bestimmten Neigen des Kopfes ihre bedingungslose Gefolgschaft. Denn sie alle hatten sich hier versammelt, um für ihre Königin zu kämpfen und wohl auch für sie zu sterben. Es war ihre Bestimmung und ihr Schicksal. Eine Fee aus reinem Licht, gekleidet in einen Kürass aus dem blendenden und belebenden Hauch der Morgenröte, schloss zu ihr auf. Gleichzeitig begann die Luft vor ihnen zu
flirren; daraus bildeten sich die Umrisse einer Gestalt. Als sie einen Schritt nach vorne tat, verfestigten sich die herumwirbelnden Winde zu einer wunderschönen Maid von anmutiger Gestalt und sehr langem, fließendem Haar. Sie ging vor ihrer Herrscherin tief in die Knie. „Ich bringe furchtbare Nachrichten, meine Herrin… ihr Entschluss ist endgültig!“ Für die Dauer eines Herzschlages schloss die Königin mit schmerzverzerrter Miene die Augen, als auch der allerletzte Funke Hoffnung endgültig erlosch. „Sie lässt uns also im Stich!“, murmelte
sie, die Stimme voll tiefster Enttäuschung. Die grazile, ätherische Fee aus Licht blieb neben ihr stehen. „Was hattet Ihr wohl anderes von Eurer Schwester erwartet?“ Die Königin seufzte schwer. „Dass sie im Angesicht der Endgültigkeit unserer Lage endlich einmal von ihrem hohen Ross herunterkäme… auf ihre verzwickten Spielchen verzichten würde… denn gegen dieses absolute Nichts, das alles verschlingt und unser aller Auslöschung will, hätten wir nur gemeinsam eine Chance gehabt.“ „Sie ist nun einmal Euer dunkles
Spiegelbild!“ Ein trauriges Nicken war die Antwort. „Was tun wir nun, Mylady?“, fragte die Fee sanft. „Was wir tun müssen. Was unsere Pflicht und unser Schicksal ist… wir kämpfen bis zum bitteren Ende.“ „Wenn man zu seiner Überzeugung steht, ist das Ende nicht bitter!“ „Nur der Abschied…“, murmelte die noch kniende Maid leise für sich. Die Königin wollte gerade etwas erwidern, als die Fee aus Licht bestürzt nach vorne zeigte. „Seht, Mylady, der Feind naht!“ Eine undurchdringliche, alles verschlingende Schwärze war am
Horizont erschienen und zog wie eine gewaltige Sturmfront heran. Unbeeindruckt stieß die Königin die Faust in die Höhe, und hinter ihr rüstete sich unüberhörbar ihre Armee für den Endkampf. Mit entschlossener Miene erhob sich auch die Maid vor ihnen und erschuf sich aus Frost und Wind eine Klinge, als sie schützend vor ihre Herrin trat. In ihrer Stimme schwang die Bitterkeit des Abschiedes mit. „Auf dass uns das Schicksal eine zweite Chance gönnen möge…“ Mit ohrenbetäubender Stille brandete nun die Schwärze heran, als die Königin ihr Schwert Frostflamme aus der Scheide
befreite und sich zum endgültigen Kampf stellte. „Gemeinsam!“, waren ihre letzten Worte. Dann war die Finsternis heran, löschte ohne jeglichen Widerstand die anmutige Maid aus und traf die Königin mit der Endgültigkeit eines unentrinnbaren Todes. Zwar versuchte diese noch zu schreien - aber kein einziger Ton oder Laut entrang sich ihr mehr, und sie erstarrte im Todeskampf, heldenhaft gegen das unabwendbare Ende gestemmt. Sie konnte noch spüren, wie die Schwärze Frostflamme zerstörte, ihr einfach die Rüstung vom Körper riss und wie ein erbarmungsloser Sturm ihr die
Haut und Muskeln von den Knochen schliff. Sie durchlebte einen Moment der Ewigkeit, während der ihr Sterben schrecklich und qualvoll war. Und während der letzten Herzschläge, in denen sie noch tapfer den entsetzlichen Schmerzen trotzte, hallte über allem ein abscheuliches, bösartiges Lachen.
Endlich gelang es ihr zu schreien, mit einem ultimativen Befreiungsschlag setzte sie sich letzten Endes erfolgreich gegen die Qualen und die Finsternis zur Wehr. Noch während sie gegen die schrecklichen Schmerzen ankämpfte,
schoss sie hoch und versuchte sich schützend die Hände vor das Gesicht zu halten. Dabei verfing sie sich im Stoff, der unerwarteterweise ihren Körper bedeckte. Irritiert versuchte sie sich zwar davon zu befreien, verwickelte sich aber umso mehr darin. Mit der Bettdecke ringend stürzte Tabitha vom Bett. Den Aufschlag auf dem Fußboden erlebte sie irgendwie deutlicher, realer als das Verbrennen ihrer Haut und Muskeln. Keuchend und mit rasendem Herzen kroch sie unter der Decke hervor. Dabei riss sie sich ihr bordeauxrotes Nachthemd vom Leib, und tastete verängstigt ihren
schweißgebadeten Körper nach gesunden Stellen ab. Erstaunlicherweise schmerzte es nicht so wie erwartet, schien es wirklich, als wäre sie unverletzt. Auch die unmenschlichen Qualen waren plötzlich nur noch eine vage, verblassende Erinnerung. Welches Wunder hatte sich ereignet, wie hatte sie das alles überhaupt überleben können? Es schien aber auch, als wäre sie nicht mehr auf dem Schlachtfeld... Und sie war alleine. Sie konnte all die Sinneseindrücke, die ihr Körper ihr jetzt übermittelte, nicht richtig
einordnen. Wie war sie hierher gekommen, und was war mit ihrem Volk, ihrer Streitmacht, passiert? Hatte sie als einzige überlebt? Trauer erfüllte ihr Herz. Oder hatte man sie bereits aufgebahrt, auch wenn ihr Leib doch in ihrer Erinnerung von dem Nichts verschlungen worden war? Hatte es vielleicht etwas mit diesem scheußlichen Lachen zu tun, das ihr jetzt noch höhnisch in den Ohren nachhallte? Obwohl… der Boden unter ihren Füßen weckte vertraute, angenehme Empfindungen. Sie krallte sich mit ihren
Zehen fest hinein. Es war alles so chaotisch... Wenigstens war da immer noch schwach der belebende und euphorisierende Duft nach Frühling, der charakteristisch für ihr Feenreich war. Nicht alles schien verloren. Das Brennen des Schweißes, der irgendwann ihre Augen erreichte, vertrieb die restlichen Schmerzempfindungen komplett, und sie wagte sich nun schwankend auf die Füße. Ermutigt stellte sie fest, dass auch die Beine in Ordnung zu sein schienen. Aber dennoch vermisste sie die vertraute Geborgenheit ihrer Rüstung. Auf dem Weg zum Wandspiegel ihres
Zimmers hielt sie einen Augenblick lang verunsichert inne. Woher wusste sie überhaupt, dass es hier einen Spiegel gab? Wieso schien es, als kenne sie sich an diesem fremden Ort aus, während das Wissen über ihre königlichen Gemächer immer mehr verblasste? Doch diese Frage beschäftigte sie nur kurz, denn im Augenblick überwog die verzweifelte Hoffnung, dass der aus unerklärlichen Gründen überlebte Angriff wenige oder überhaupt keine Spuren hinterlassen haben mochte - wie sah wohl ihr Gesicht aus? Sie suchte nach einer Lichtquelle und fand endlich einen Schalter gleich neben
einer Türe. Als das Licht im Schlafzimmer anging, vertrieb die Helligkeit schlagartig die Benommenheit, die sowohl ihre Gliedmaßen als auch ihren Verstand fesselte. Tabitha Shania Llewellyn atmete erleichtert auf und tastete überglücklich ihr gerötetes Gesicht ab, fuhr sich prüfend über ihre feinen Augenbrauen. „I-ich hab… hab's nur… geträumt“, stotterte sie ungläubig. „Nur ein Traum! Das war bloß ein versch...“ Seltsamerweise musste sie in diesem Moment an ihre Mutter denken und verkniff sich rasch den
Fluch. „Ein ver... verflixter Alptraum!“ Aber er war so verdammt echt gewesen. Sie fixierte ihre zitternden Hände. Als hätte sie es wirklich durchlebt... Sie drehte sich einmal im Kreis, während sie sich mit sichtlicher Erleichterung musterte. So wie ihre Haare jetzt aussahen, würde sie sicherlich mindestens eine Stunde benötigen, um diese wilde Löwenmähne zu bändigen. Zusätzlich sah sie blässer als sonst und komplett übermüdet aus, als hätte sie diese Nacht überhaupt nicht geschlafen. Nun ja, sie fühlte sich auch so... Und sie war komplett durchgeschwitzt.
Zumindest war es sicher, dass sie dringend eine Dusche brauchte. Aber ansonsten… Sie war wirklich noch gesund und lebendig. Glücklich lächelte sie, doch dann brachte sie etwas dazu, sich verunsichert umzudrehen. Obwohl… Das war nicht ihr Schlafzimmer - weder der Geruch noch die Geräusche stimmten. Sie war nicht zu Hause… Ihre Nackenhaare sträubten sich. Jetzt war auch klar, weshalb nach ihrem Schrei ihre Eltern nicht schon das Zimmer gestürmt hatten. Hoffentlich ging es ihnen gut, wo immer sie auch
waren. Wenn sie noch... Sie verdrängte den Gedanken sofort. Aber wo zum Teufel war sie nun? Träumte sie vielleicht weiter? Ein Traum in einem Traum... Wo würde sie dann aus diesem Traum erwachen? Entgeistert sah sie sich um. Dann entdeckte sie die ADP-Marke, die sie von Moses Falk gestern Abend ausgehändigt bekommen hatte und die auf der gesicherten Glock im Sicherheitsholster auf dem Nachttischchen ruhte. Sun City! Schlagartig fiel ihr alles wieder ein, und
sie stolperte hektisch zum Fenster der Mietwohnung, die sie von der Stadtverwaltung Sun Citys zur Verfügung gestellt bekommen hatten. Hoffentlich war dies die Realität und nicht noch ein hyperrealistischer Alptraum... Vorsichtig schob sie den Vorhang beiseite. Irgendwie fühlte sie sich zwar erleichtert, aber auch ein wenig ernüchtert, als sie auf den trostlosen Innenhof hinunter sah. Schwach war der Verkehr auf den Straßen zu hören, konnte man kurz Sirenengeheul vernehmen, und am Nachthimmel glitzerten die Sterne. Die Stadt lag noch
in kompletter Finsternis. Es war wohl noch mitten in der Nacht. Hoffentlich hatte sie mit ihrem Schrei keinen der Nachbarn geweckt… Sie verschränkte fröstelnd die Arme. Etwas derart Furchtbares hatte sie wirklich nie zuvor geträumt. Das musste sie unbedingt Mutter erzählen. Nachdenklich wandte sie sich ab und war gerade mit der Frage beschäftigt, ob sie wirklich jemals in der Lage gewesen wäre, eine ganze Rasse gegen einen unbesiegbaren Gegner in die Schlacht, in den sicheren Tod zu führen, als ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinab
lief. Bestürzt starrte Tabitha ihren Wecker in Form eines Jedi-Trainingsballs auf dem Nachttischchen an. Die Ziffern standen auf 07:55. Es war schon fast acht Uhr? Entsetzt blickte sie nach draußen und zurück zum Wecker. Das konnte doch niemals… Besorgt überprüfte sie die Uhrzeit noch auf ihrer weißen Baby-G Armbanduhr mit klassischem Zifferblatt. Aber das einzige, was diese ihr verriet, war... dass ihr Wecker um fünf Minuten nachging. Sie hätte doch heute um halb Acht bei der ADP antreten sollen. Man erwartete
sie pünktlich zur Einschulung und Vorstellung ihrer Kollegen... Jetzt war sie hellwach. Bisher hatte sie sich doch stets rühmen können, noch niemals verschlafen zu haben. Was war schief gelaufen? Erst jetzt vernahm sie das energische Klopfen an ihrer Zimmertür. „Alles in Ordnung? Hab deinen Schrei ge…“ Sofort war Tabitha am Eingang und riss die Tür auf. „Wir sind zu spät!“ Mirax, zwar schon angezogen, aber mit ziemlich schläfriger Miene fuhr sie sich müde mit den Fingern durch die Haare, während für ihre Kollegin jeglicher noch
übrig gebliebene Zweifel, ob sie schlief oder wach war, augenblicklich dahingerafft wurde, als sie frisch aufgebrühten Kaffee roch. „Ja, ich weiß…“, war Mirax` trockener Kommentar. Auch ihr hing ganz schwach dieser Duft von Frühling an. Bittend starrte Tabitha Mirax` Tasse an. „Wir müssen unbedingt… was?“ „Keine Panik Tabi", beschwichtigte diese, "Moses hat unsere zukünftigen Kollegen schon darüber informiert, dass wir gestern einen schwierigen Start hatten. Sie erwarten uns praktisch nicht vor neun Uhr.“ Sie zuckte entschuldigend mit den
Schultern. „Dachte, nachdem ich eine ziemlich üble Nacht hatte, dass wenigstens du schlafen solltest.“ Mirax zwinkerte ihr zu. „Michel Aardvark - übler Name, angenehme Stimme - hat sich selbstlos für uns geopfert und angeboten, dass er uns von zu Hause abholen wird. Er sollte in knapp 20 Minuten hier sein und fährt uns dann direkt zum Wartower.“ Sie musterte ihre schwer atmende, nackte Kollegin von Oben bis Unten und schüttelte schließlich mit einem entwaffnenden Lächeln den Kopf. „Wenn ich's nicht besser wüsste, wäre ich neidisch auf deinen
Liebhaber!" Mirax nahm einen großen Schluck Kaffee, wobei Tabitha dabei auffiel, dass ihre Kameradin leicht zitterte, was für diese eigentlich nicht üblich war. Aber zumindest ihre Stimme klang normal, und sie grinste Tabitha breit an. "Weißt du eigentlich, dass du momentan Animal von der Band Dr. Teeth and The Electric Mayhem Konkurrenz machen könntest? Jetzt beruhige dich erst einmal und versuch davon, was immer auch passiert ist, runter zu kommen. Dusch mal ausgiebig, zähme dein Gestrüpp da oben und zieh dich in aller Ruhe an, ich mach dir auch eine!“ Dabei hielt sie ihre Tasse
hoch. „Danke! Du bist wirklich meine Rettung!“, murmelte Tabitha tapfer. Mirax nickte freundschaftlich und ging langsam hinaus, die Türklinke in der Hand. Doch dann blieb sie unschlüssig stehen und blickte über die Schulter zurück. Sie klang erstmals wirklich ernst, und auch auf ihrem Gesicht zeigte sich eine Spur von Sorge. Das Zittern ihrer Hand verstärkte sich. „Scusami, ma...“ Tabitha schaute sie fragend an. „Io… du... hattest doch offensichtlich einen fürchterlichen Alptraum, nicht... was hast du geträumt? So was... wie wenn du als allmächtige Herrscherin über
ein riesiges Reich, dich in deiner Festung verschanzt hattest, aber es hat nichts genützt? Der Feind - eine undurchdringliche Schwärze - ist problemlos bis zu dir vorgedrungen und hat dir bei lebendigem Leib die Haut und Muskeln von den Knochen gebrannt?" Sie schluckte schwer. "Und über allem war dieses abscheuliche, bösartige Lachen?"
Im Hintergrund erfüllte die Musik eines lokalen Radiosenders die Essnische, während der Duft von frisch geröstetem Toastbrot noch in der Luft hing. Wie eine Ertrinkende klammerte sich die
frisch geduschte und angezogene Tabitha an ihre Kaffeetasse. Kurz genoss sie noch das belebende Aroma, dann nahm sie einen kräftigen Schluck. Mit einem Grinsen sah sie auf. „He… den kenne ich sogar! Das ist Lavazza!“ Sie genehmigte sich noch einen Schluck. „War ja zu erwarten, dass du ohne deinen geliebten Kaffee nirgendwo hin gehst.“ Ihre Kollegin legte in der angrenzenden Kochnische einen Frühstücksteller in das Spülbecken und stellte eine bunte Henkeltasse mit klassischen Feenmotiven auf die Spüle. Dann griff sie zum offenen Oberschrank und zog etwas daraus hervor. „Glaubst du
wirklich, dass Ich's mit dem Zeug versuche, das sie dir hier andrehen wollen? Das steht schon Gott weiß wie lang hier…“ Sie hielt ihrer Zimmergenossin eine unscheinbare, braune Dose entgegen. „Würdest du etwas probieren, das sie hier an der Westküste French Roast Coffee nennen?“ Der Rotschopf schüttelte sich. „Ich schätze, das kannst du auch dann nicht trinken, wenn du es in Milch ertränkst!“ „Dito!“ Die schwarze Schönheit pfefferte die Dose in den Abfalleimer, kehrte zum Tisch zurück und räumte noch den Rest ihres hastigen Frühstücks
weg. Gleichzeitig betrachtete Tabitha nachdenklich ihre zitternde Hand. Einerseits um zu überprüfen, ob mit ihren Reflexen noch alles in Ordnung war, anderseits aus langjähriger Gewohnheit, klaute sie sich von Mirax das Fruchtmesser und begann damit herumzuspielen, ließ es geschickt zwischen den Fingern hindurch gleiten. Langsam kehrte die Zuversicht zurück. „Ich glaube, ich hab mein Nachthemd kaputt gemacht...“ „Du willst meines nicht sehen!“ Tabitha nippte an ihrer Tasse. „Das hat sicherlich mit Gestern was zu tun… ich habe bisher noch niemals einen Alptraum
gehabt… vor allem nicht einen derart realen!“ Ihre Kollegin hielt kurz inne. Ihr entwich ein schwerer Seufzer. „Ich bin so etwas schon gewohnt... allerdings nicht ganz so bunt...“ „M, was zum Teufel war das gestern überhaupt?“ Mirax lehnte sich mit dem Rücken gegen die Spüle und nahm einen Schluck aus ihrer Henkeltasse, dann verschränkte sie nachdenklich die Arme. „Erinnerst du dich noch daran, was du mir gestern als Erklärung angeboten hast? Nun, ich glaube, da liegst du nicht einmal so falsch. Kurz bevor ich mich auf den Weg hierher machte, warnte mich einer meiner
Brüder noch davor, dass dieser Chemiegigant mit dem dämlichen Logo…“ „Neo Genetics?“ „Ja, genau die! Also... obwohl die sich bisher noch jedes Mal reinwaschen konnten, geht das Gerücht um, dass sie nicht nur mit hochpotenten Psychopharmaka herumexperimentieren, sondern dass diese auch verschiedene Male außerhalb ihrer ultra-geheimen Labors zum Einsatz gekommen sind. Alessandro hat sogar angedeutet, dass sie ganz Sun City als Feldversuch betrachten…“ Tabitha vollführte ein kleines Kunststück mit dem Messer - dann sah
sie unschlüssig hoch. „Also doch psychoaktive Substanzen! Das wäre wiederum eine passende Erklärung für den gemeinsamen Alptraum…“ „Sehr wahrscheinlich… offiziell hat sich bisher noch niemand die Mühe gemacht, die Konzentration solcher Stoffe da draußen zu messen…“ Mirax stellte ihre leere Henkeltasse an den Rand der Spüle. „Gut möglich, dass es genau deswegen die ADP gibt… wäre eine ziemlich gute Erklärung für die hiesigen ‘paranormalen Ereignisse‘, um die sie sich kümmern müssen!“ "Papperlapapp!", meinte Tabitha und wandte sich wieder ihrem Kaffee zu. Mirax schielte kurz zu ihr hinüber, um zu
sehen, ob ihre Zimmergenossin noch zuschaute, dann drehte sie mit einem Schmunzeln kurz den Kopf zur Seite, und die eine Handbreite entfernte Tür des offenen Oberschranks fiel wie durch Geisterhand zu. Tabitha schnippte währenddessen das Fruchtmesser in die Höhe, dann musterte sie ihre Kollegin ausgiebig. Diese war in rote, modische Kniebundhosen mit vertikalen, silbernen Streifen und einen dazu passenden Blazer gekleidet; darunter trug sie ein klassisches Military-Trainingsshirt ohne sichtbare Prägung. Abgerundet wurde das Ganze durch ein Paar eleganter Damenstiefel. „Du hast dich ja richtig herausgeputzt“,
bemerkte sie. „Ist ja der erste Tag, da will man ja auch einen guten Eindruck machen.“ „Cooles T-Shirt!“ „Nicht wahr...“ Mirax blickte zufrieden an sich hinunter. „Ich hab nur die alten Jeans und mein Glückshemd.“ Tabithas Zimmergenossin drehte sich einmal im Kreis herum, um ihr Ensemble zu präsentieren, während ihre Stimme eine Spur weit neidisch klang. „Tabi, ragazza… du könntest doch bloß in Lumpen gehüllt kommen und sie würden sich immer noch zuerst nach dir umdrehen! Ich glaube kaum, dass es in dieser Stadt jemanden gibt, der dir im
Aussehen das Wasser reichen könn..." Sie wischte mit ihrem Ärmel die Henkeltasse von der Spüle. "Merda!" Mirax griff ins Leere. Tabitha reagierte instinktiv - die Bewegung kam aus dem Handgelenk und war blitzschnell. Die Tasse erreichte nie den Boden. „Wie machst du das nur?“, fragte Mirax bewundernd, als sie vorsichtig ihre Tasse vom Griff des Fruchtmessers hob, das durch den Henkel hindurch in der Tür des Unterschrankes steckte. „Weiß nicht... hab’s wohl im Blut!“, meinte Tabitha bloß. „Das war doch deine Lieblingstasse, nicht?“ „Ja, seit meiner Kindheit. Der Tag hatte
immer etwas Magisches, wenn ich am Morgen aus ihr trinken konnte. War ein Geschenk von Mamma. Danke!” Der Rotschopf nickte nur schmunzelnd, während ihre Kollegin die Tasse vorsichtig in das Spülbecken stellte. „Setzt dich doch zu mir. Dein Erdferkel sollte doch jeden Augenblick hier sein.“ meinte Tabitha grinsend. Mirax musste lachen, als sie zum Tisch ging. „Manche Familiennamen sind wohl in allen Kulturen Glückssache!“ Gerade als Tabitha etwas antworten wollte, hielt sie inne, um dem Küchenradio zu lauschen. Das Stück, das gerade lief, verursachte ihr eine
Gänsehaut. “I've been sleeping a thousand years, it seems. Got to open my eyes to everything”, schmetterte gerade eine weibliche Stimme mit dunklem Timbre. “Without a thought, without a voice, without a soul. Don't let me die here. There must be something more…”, sang kurz ein Sänger, dann wechselte das Stück erneut zu der glasklaren Stimme der Frau. „Bring me to life!” „Wer ist das?“ „Amy Lee!“, meinte Mirax nonchalant, schnappte sich einen Küchenstuhl und setzte sich hin. „Wer?“ “Die Gruppe heißt Evanescence und das
Stück Bring Me to Life.” „Würde perfekt als 'Main theme' für Sun City passen, nicht?“ Mirax nickte, und streckte sich ausgiebig. „Na ja, es passt zu der allgemeinen Stimmung… und das mit dem Aufwecken kann ich nur unterstreichen. Ich glaube, ich brauch bald wieder ‘nen Kaffee.“ Gähnend schnappte sie sich ihr Runbo X6 Smartphone, das noch auf dem Tisch lag, und fuhr sachte über das Display des massiven, orange-schwarzen Mobiltelefons. Während sie ihren Facebook-Account überprüfte, sah sie auf. „Wusstest du eigentlich, dass es nur für Sun City sogar eine separate,
kostenlose Wetter-App gibt? Die haben hier ein eigenes meteorologisches Zentrum, das dafür zuständig ist!“ „Nein… woher hast du das denn?“, fragte Tabitha, als sie ihr HTC One hervorkramte und es aktivierte. Freundlich lächelte sie es zuerst an, dann wischte sie zum Entsperren des Bildschirms auf dem Display nach rechts. „Hab eine Werbe-SMS von ihnen bekommen, in der sie ihre Dienste anboten.“ „Ich nicht.“ Noch während Tabitha den Morgengruß ihrer Mutter las, erklang angenehmes Vogelgezwitscher aus ihrem
Smartphone. „Jetzt schon!“, grinste Mirax sie daraufhin an. Während sich ihre Zimmergenossin daran machte, die App zu installieren, sah sie fragend auf. „Steht da auch drin, weshalb heute die Sonne so spät aufgegangen ist?“ „Ja! War echt überrascht… scheint irgend so ein meteorologisches Dauerphänomen zu sein. Aber frag mich bloß nicht danach. Hat was mit speziellen atmosphärischen Druckverhältnissen und Spiegelungen zu tun… habe aber nach dem dritten Fachausdruck den Faden verloren - und das schon im ersten Satz. Das ist
Fachchinesisch in Reinkultur!“ Tabitha nickte zustimmend. „Klingt interessant. Werde es mir in dem Fall sicherlich antun. Wenn es die Wissenschaft herausgefunden hat, wird‘s wohl schon so sein.“ Die Türglocke erwachte mit einem melodiösen Musikstück zum Leben. Verunsichert sahen sich die beiden Frauen an. „Haben wir unten nicht einen Portier, der uns zuerst Bescheid sagen sollte, wenn Besuch da ist?“ „Ich denke, wenn es jemand von der ADP ist, werden sie ihn sicherlich durch lassen. Denen gehört ja praktisch die
Wohnung!“ „Ok…“ Rasch erhoben sie sich. Während Mirax noch schnell den Sitz ihrer Kleidung überprüfte, steckte ihre Zimmergenossin ihr HTC One weg. In der Tasche begegnete ihrer Hand etwas anderes, und sie zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Da bist du ja!“ Tabitha zog ein Balisong heraus und wog es kurz in der Hand. Dann begann sie, mit dem Butterflymesser herumzuspielen. „So müde bin ich vielleicht doch nicht...“, murmelte sie dabei. Mirax schaute sie an. „Du willst mich sicherlich warnen, ich
könnte mich verletzen.“ „Das traue ich mich schon lange nicht mehr... ich wette, deine Mutter hat schon Tricks mit Messern aufgeführt, als du noch im Mutterleib stecktest.“ “Keine Ahnung...“ Ein zweites Klingeln ertönte. "Aber was ich dir sage, ist, dass es vielleicht besser wäre, wenn du das Teil wieder einsteckst. Ich weiß nicht, ob das für den ersten Eindruck bei einem der ADP förderlich wäre..." Tabitha nickte, klappte mit einer knappen Handbewegung das Balisong wieder zu und ließ es gleichzeitig in ihrer Gesäßtasche verschwinden. Mirax war währenddessen zur Haustür
gegangen und spähte durch den Türspion. Sie klang angenehm überrascht. "Sieht nicht mal übel aus!" "Lass mal sehen!" "Lassen wir ihn nicht noch länger warten. Du kannst ihn gleich live genießen." Tabitha nickte, und ihre Zimmergenossin öffnete die Sicherheitsschlösser. Dabei raunte sie noch: "Blond hätte ihm allerdings besser gestanden." Draußen im Gang stand ein braungebrannter, braunhaariger Mann unbestimmten Alters, der eine seltsame Gelassenheit ausstrahlte. So unscheinbar seine Frisur auch sein mochte, so faszinierend und lebendig waren dagegen
seine azurblauen Augen, mit denen er jetzt die zwei Frauen freundlich anstrahlte. Während die beiden ein wenig verlegen grüßten, entrann ihm ein „Oh... wow... Jackpot!“ „Wollen Sie nicht reinkommen, Deputy…?“ Mirax fand als erste ihre Stimme wieder. Sofort kam der Mann der Aufforderung nach und betrat die Wohnung. Er trug einfache Jeans, eine schlichte, braune Jacke und gut sichtbar einen mattgrauen Ankh-Anhänger aus Titan um den Hals; dieser fiel vor allem Tabitha auf. Er grüßte knapp. „Deputy Marschall der Advanced Defense Police Michel
Aardvark, zu Ihren Diensten.” Dabei schnitt er Grimasse. „Nein, und ich habe leider keinen anderen, rettenden Nachnamen. Meine Eltern waren wohl zu arm dafür oder sie dachten sich, dass es bei dem Namen auch nicht mehr drauf ankommt… aber nennt mich doch bitte Miguel.“ „Miguel?“ „Einer unserer Kollegen wird es sich sicher nicht verklemmen können, euch zu erklären, wie es dazu kam…“, er räusperte sich und setzte ein umwerfendes Lächeln auf, „aber es scheint, als hätte ich vor so atemberaubender Schönheit glatt meine Manieren
vergessen…“ In seinen Augen erwachte ein lebhaftes Leuchten. „Meine Damen… mit wem hat meine Wenigkeit hier und jetzt das Vergnügen?“ Als sich nun ihrerseits die zwei Frauen vorstellten, mussten sie mit Verwunderung erleben, wie Michel bei jeder jeweils einen Handkuss andeutete und sich sogar kurz verneigte. Während er Mirax sofort sympathisch war, reagierte Tabitha ein wenig reserviert auf den athletischen Mann. Zwar schien es, als sitze ihm der Schalk im Nacken, doch instinktiv spürte sie, dass ihn ein dunkles Geheimnis verfolgte - was wohl auch die
unbestimmte Traurigkeit erklärte, die manchmal in seinem Blick durchschimmerte. Seltsamerweise war sie sich trotzdem sicher, dass sie ihm blind vertrauen konnte... Dennoch beschloss sie, lieber etwas Abstand zu halten; für sie roch er verdächtig nach Herbst und Vergänglichkeit. Michel warf einen Blick auf die Wanduhr im Gang. „Nun, meine Damen… wollen wir, oder gibt es noch Dinge, die Sie noch unbedingt erledigen müssen?“ Mirax und Tabitha wechselten einen Blick und beide schüttelten unisono den
Kopf. „Na dann, bitte!“ Als sie ihre Wohnung verließen und in den Gang hinaustraten, fiel Mirax der Futternapf neben dem Eingang der Nachbarin gegenüber auf. Gestern Abend war sie zu müde gewesen, um auf solche Details zu achten. Teilweise wunderte sie sich noch immer, wie problemlos die Wohnungsabnahme geklappt hatte. Als wäre es von langer Hand geplant gewesen und nicht so kurzfristig, wie es anfänglich den Anschein gehabt hatte. Der Napf gehörte wohl einer Katze, obwohl er seltsam sauber und
ungebraucht wirkte... wurde er überhaupt benutzt? „Eine Landsfrau von dir?“, meinte Tabitha und riss sie aus ihren Überlegungen. „Was?“ „Belinda Mastrocola“, las ihre Kollegin das Namensschild der Nachbarin vor. „Möglich, aber der Name sagt mir nichts…“ „Aber ich habe ihn schon mal gehört...“, schaltete Michel sich ein, zuckte aber dann mit den Schultern, als ihn beide Frauen neugierig ansahen. „Ich weiß aber nicht mehr, in welchem Zusammenhang.“ Kurz herrschte verlegene
Stille. „Laufen wir?“ fragte Tabitha schließlich. Während sie nun den Gang entlang zum Treppenhaus gingen, wandte sich Michel neugierig an seine Begleiterinnen. „Und, meine Damen, wie waren Ihre ersten Eindrücke von unserer Stadt?“ Einige Zeit nachdem die drei Personen gegangen waren, öffnete sich vorsichtig die Tür der Nachbarin einen Spalt weit. Eine einsame Person blickte schweigend den leeren Gang hinunter, durch den Mirax, Tabitha und Michel verschwunden waren. Dann fiel ihr Blick auf den Futternapf. Schlagartig wurde die Tür wieder geschlossen.
Dahinter hörte man jemanden bitterlich weinen.
Gillegan Puh, ich bin leider schon auf Seite 4 ausgestiegen. Ich spüre viel Fantasie und grundsätzlich eine tolle Art zu schreiben, aber du bombardierst den Leser vom ersten Satz an Informationen. Gib dem Leser Zeit in deine Welt einzutauchen. Beschreibe vielleicht jedes Element etwas eingehender. Es fühlt sich beim Lesen an, wie ein Video im Vorspulmodus zu sehen. Das ist echt schade, weil ich glaube, dass du da eine interessante Geschichte am Aufbauen bist. Hoffe du kannst mit dem Feedback etwas anfangen. LG Gillegan |
Lobezno Herzlichen Dank für den Kommentar! Ich gebe dir zwar absolut Recht. Aber genau in diesem Fall ist es eigentlich Absicht... Es sollte dieser Effekt entstehen. Denn es handelt sich dabei um einen Traum, bei dem vieles nicht klar definiert ist und vieles für die Hauptfigur (und somit auch den Leser) ungeklärt und verschwommen bliebt. Dabei geht es mir um den Kontrast, denn erst später in der Erzählung, als die Hauptfigur Wach ist, läuft die 'Handlung' wieder normal ab und schildere ich die Begebenheiten auch ausführlicher . Ich hoffe, ich habe dich damit nicht abgeschreckt... würde mir unendlich leid tun! Hast du dich noch an anderem von mir versucht? In diesem spezifischen Fall, bin ich leider nicht dazu gekommen, weiter an dieser Geschichte zu arbeiten, aber sie fängt eigentlich im 'Dossier alpha (Intro)' an und geht dann im 'Dossier alpha (Prolog)' weiter. Das hier ist eigetnlich ein Teil zwischendurch... Wirf doch mal einen Blick ins INTRO rein. Und auch Fantasy klingt bei mir normalerweise anders. Dass wäre dann 'NUR EIN MÄDCHEN'. LG Cris und nochmals vielen Dank für den Kommentar |