Vollmondnächte
Ich renne, ich laufe so schnell ich kann, meine Lungen brennen, aber ich darf nicht nachlassen. Etwas oder Jemand ist hinter mir her. Ich höre seinen Atem, spüre seine Gegenwart. Ich bin im Wald, ganz alleine. Wie kam ich nur auf diese dumme Idee, nach der Arbeit noch einen Vollmondspaziergang zu machen? Ich blicke mich panisch um. Ich kann nichts sehen. Die Blätter der Bäume sind zu dicht, aber ich höre das schwere Atmen meines Verfolgers. Ein Knurren und Heulen. Ich spüre etwas Heißes an meinen Waden. Spüre Zähne, die mein Fleisch nur ganz knapp verfehlen. Es ist
ein Tier. Aber oh mein Gott, so ein Tier habe ich noch nie gesehen. Es hat die Umrisse eines Hundes oder eines Wolfes, nur viel größer. Rote Augen verfolgen jeden meiner Schritte. Ich sehe wieder nach vorne, laufe fast gegen einen Baum. Ich kann gerade noch ausweichen. Meinem Verfolger gelingt dies nicht. Ich höre ein Krachen. Ich atme aus, Hoffnung keimt in mir auf, als ich ein furchteinflößendes Heulen höre. Meine Nackenhaare stellen sich auf. So ein Geräusch ist nicht von dieser Welt. Ich blicke mich um. Es liegt etwas auf dem Boden. Soll ich nachschauen gehen?! Meine Angst kämpft mit meinen inneren Drang zu helfen. Ich zögere. Dann eine
Regung der Gestalt. Mist, zu lang gezögert. Das Tier erhebt sich, knurrt. Meine Sinne sind sofort wieder auf Flucht eingestellt, aber ich habe zu lange gewartet. Das Tier erholt sich schnell. Ich renne was meine müden Beine noch hergeben. Ich habe Seitenstiche, meine Lungen scheinen platzen zu wollen und meine Beine stehen in Flammen. Ich stolpere, fange mich mit den Händen ab. Ich ratsche mir die Handflächen an den Baumwurzeln auf und Erde kommt in die Wunde. Es brennt. Ich renne weiter, falle, rappele mich wieder auf. Das Tier ist mir dicht auf den Fersen. Ich sehe seine roten Augen und, als ein bisschen Mondlicht durch das Blätterdach fällt,
seine grausame Fratze. Es ist wolfähnlich, Geifer tropft aus der Schnauze mit den großen Zähnen, die das Mondlicht reflektieren. Ich stürze in einen Graben. Das Tier springt über mich hinweg und landet fast lautlos auf seinen Pfoten. Es schaut mich an, umkreist mich. Ich kann mich nicht bewegen. Mein Bein steht in einem ungesunden Winkel ab und tut höllisch weh. Das Tier kommt weiter auf mich zu. Knurrt, heult und schnuppert. Ich versuche zurückzuweichen, aber hinter mir ist der Vorsprung von dem ich gestürzt bin. Ich sitze in der Falle. Ich schreie, schreie so laut ich kann, auch wenn ich weiß, dass zu dieser Zeit und
so weit draußen keiner meine Schreie hören wird. Es grinst mich an, oh mein Gott, ich glaube ich verliere den Verstand, aber es grinst mich nicht nur an. Es lacht mich vielmehr aus. Es leckt sich eins der Hinterläufe und ich sehe etwas im Mondlicht schimmern. Jetzt wo ich nicht mehr durch die Gegend renne, fällt mir auf, dass ich auf einer Lichtung sitze. Im fahlen Mondschein kann ich die Gestalt genauer betrachten. Sie ist wolfähnlich. Eine Mischung aus Wolf und Mensch und aus den großen, leuchtend roten Augen blickt mich etwas Vertrautes an. Das Wesen mustert mich. Schnuppert. Leckt sich die Lefzen und knurrt. Zu spät bemerke ich, wie sich
die Muskeln in den Hinterbeinen des Tieres anspannen. Mit einem Satz ist es bei mir und stößt seine scharfen Zähne in mein verletztes Bein. Ich schreie auf. Schlage auf die Schnauze des Tieres ein aber es lässt nicht los. Es reißt an meinem Fleisch. Die Schmerzen sind unerträglich. Warum ich nicht das Bewusstsein verliere ist mir selbst ein Rätsel. Mir wird flau im Magen. Ich schaue weg. Ich spüre wie mir Tränen über die Wangen laufen. Ich denke an meinen Mann, daran dass wir uns erst vor kurzem noch gestritten haben und ich ihm nicht gesagt habe, dass ich die Schicht getauscht habe. Ich wollte ihn doch überraschen. Er wird sich Sorgen
machen. Während ich meinen Gedanken nachhänge und versuche die Geräusche auszublenden, tobt sich mein Angreifer erst so richtig aus. Ich spüre wie das Blut aus meinen Körper fließt. Spüre das Knabbern und Schlecken. Es begnügt sich nicht nur an meinem Bein. Immer mehr Stellen meines Körpers werden attackiert. Ich habe keine Kraft mehr mich zu wehren. Meine Arme hängen nutzlos an meinen Seiten herab. Nur der Schmerz sagt mir, dass ich noch am Leben und bei Bewusstsein bin. Aber ich merke auch wie mir dieses anfängt zu schwinden. Das Tier zerkratzt mir mit seinen Klauen mein Gesicht. Ich kann kaum noch etwas sehen, aber durch
meine zugeschwollenen Augen erblicke ich die Morgendämmerung. Vielleicht findet mich doch noch Jemand. Das Tier lässt von mir ab. Heult auf und blickt zum Himmel. Ich beobachte mit letzter Kraft wie es sich zurückzieht. Ein Ruck geht durch den Körper des Tieres. Es läuft so weit weg, dass ich es kaum noch erkennen kann. Das Fell wird weniger und die Gestalt wird menschlicher. Es ist jetzt auf einer Anhöhe und blickt in meine Richtung. Ich glaube nicht, dass es mich wahrnehmen kann, denn es schaut gequält und entfernt sich immer mehr. Langsam nimmt das Gesicht menschliche Züge an und mein letzter Gedanke ist:
Nein, bitte nicht. Dann Schwärze.
Der nervtötende Piepton des Weckers reißt mich aus einem kurzen, unruhigen Schlaf. Die ganze Nacht habe ich mich von einer Seite auf die Andere gewälzt und kaum ein Auge zugemacht. Und so geht das jetzt schon seit Monaten. Kein Wunder, dass meine Frau freiwillig das Schlafzimmer geräumt hat und es vorzieht in solchen Nächten lieber Sonderschichten zu machen oder sich ins Wohnzimmer zurückzieht.
Ich blicke auf die Uhr: schon sieben. Ich strecke und recke mich. Ich fahre
mir mit den Fingern durch die Haare. Nun aus der Wärme des Bettes gequält und rein in die Pantoffeln.
Nach dem ersten Gang ins Badezimmer wünsche ich mir nichts sehnlicher, als eine schöne Tasse starken, heißen Kaffee. Während der Kaffee durchläuft, streife ich durch die Wohnung, vor der angelehnten Wohnzimmertür bleibe ich stehen und luge hinein. Alles ist ruhig; man hört nur das leise Schnarchen unseres Katers. Meine Frau ist nicht zu hören, aber das wundert mich nicht, denn sie schläft immer sehr leise. Einmal mehr bewundere ich sie für ihren ruhigen, tiefen Schlaf.
Am Anfang unserer Beziehung fand ich dies beängstigend, weil ich immer mal wieder nachts wach geworden bin, zu ihr rüber geblickt habe und in Panik verfallen bin, weil ich kaum ein Atemgeräusch hören konnte. Ich ging sogar soweit, dass ich einmal, als ich auch kaum Bewegungen ihres Brustkorbes gesehen habe, ins Badezimmer gegangen bin, um einen kleinen Handspiegel zu holen (ich hatte mal irgendwo gelesen, dass man früher so geprüft hat, ob jemand noch lebt) und tatsächlich ihren Atem kontrolliert habe.
Zum Glück hat sie dies nicht mitbekommen. Ich vermute sie hätte mich trotz aller Liebe einweisen lassen.
Aber man gewöhnt sich ja an vieles und nach der langen Zeit, die wir nun schon zusammen leben, lernt man die Macken des Anderen kennen und lieben.
Dass ich sie so sehr liebe, macht auch die Nächte ohne sie echt schlimm für mich. Auch wenn ich sonst an ihrer Seite liegen kann, vermisse ich sie schon sehr, wenn sie nicht da ist. Das gilt besonders für die Nächte in denen sie Nachtschicht hat. Ich mache mir dann zusätzlich Sorgen, dass ihr nichts passiert aber emotional sind die Nächte schlimmer, die sie freiwillig nicht in unserem Bett verbringt, weil ich sie sonst aus dem Schlaf reiße. Anfangs hatte ich
angeboten, dass ich ja im Wohnzimmer schlafen kann, aber sie die Hoffnung hat, dass wenn ich in einem warmen gemütlichen Bett liege, ich nicht mitten in der Nacht das Bett oder schlimmstenfalls sogar das Haus verlasse.
Ja ich bin Schlafwandler. Nicht, dass ein unruhiger Schlaf schon Strafe genug wäre. Nein, durch mein unnormales Schlafverhalten, musste ich meine Schlafgewohnheiten ändern. Man glaubt gar nicht wie komisch man morgens angesehen wird, nachdem man nackt in einer Gefängniszelle aufwacht, weil man entblößt durch die Nacht gelaufen ist, an
einer Bushaltestelle auf den Bus gewartet hat, vom Busfahrer an die Polizei übergeben und dann morgens von seiner übermüdeten Ehefrau (natürlich konnte dies nicht an einem Tag passieren, an dem meine Frau frei hatte) mit einem Bademantel unter dem Arm, abgeholt werden muss. Wir haben zwar nicht so viele unmittelbare Nachbarn, aber man kann sich ja vorstellen, dass gerade solche Dinge sich schnell rumsprechen. In meinem Fall kommt noch erschwerend hinzu, dass ich bei der Kripo arbeite und daher quasi von seinen Kollegen eingesammelt wurde.
Mittlerweile ist der Kaffee
durchgelaufen. Ich gieße mir eine Tasse ein und schütte den Rest in die Thermoskanne. Dann setze ich eine neue Kanne auf und schiebe ein paar Brötchen in den Backofen.
Die Zeit nutze ich für eine ausgiebige Dusche. Nach so unruhigen Nächten fühle ich mich immer dreckig und unwohl in meiner Haut. Ich lasse das heiße Wasser genüsslich über meinen Körper laufen und vergesse fast die Zeit. Nur mühsam quäle ich mich aus der Dusche und gehe zurück ins Schlafzimmer um mir etwas anzuziehen. Ich schlackere die Bettdecke aus, da ich nicht möchte, dass meine Frau sich
wieder aufregt. Auf der Bettdecke entdecke ich Dreckspuren. Das wird Ärger geben, aber naja, ich musste mich ja durchsetzen, dass unser Kater nachts raus darf. Schließlich habe ich mich ja in diese Freinatur verliebt. Aber so muss ich auch dafür gerade stehen, wenn mal wieder Erde im Bett verteilt ist. Mein kleiner Herr hat wohl mal wieder in nasser Erde gewühlt.
Der Geruch nach Brötchen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich renne in die Küche, reiße die Backofentür auf und ziehe das Blech heraus. Als ich mich am heißen Blech verbrenne, fluche ich lauthals vor mich hin. Scheiße, schon
wieder eine Brandblase. Ich bin so ein Schussel und habe schon wieder nicht an die Topflappen gedacht. Aber immerhin konnte ich die Brötchen gerade noch retten. Ich hole den Brotkorb aus dem Schrank, lege die Brötchen hinein und stelle sie auf den Tisch. Noch schnell den Tisch gedeckt und meine Liebste geweckt.
Ich schleiche mich mit einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer und umrunde die Couch, die ich zu meiner Überraschung allerdings verwaist vorfinde. Hatte sie heute Nachtschicht? Ich bin mir da nicht so sicher, aber wie sollte es auch anders sein. Wer weiß, vielleicht schiebt sie mal
wieder eine Doppelschicht oder hat mit einer Kollegin getauscht. Naja bleiben mehr Brötchen für mich.
Ich gehe wieder in die Küche und im Flur bleibt mein Blick am Schlüsselbrett hängen. Warum ist denn ihr Autoschlüssel da? Wollte sie eine Fahrgemeinschaft bilden? Ich sollte vielleicht anfangen besser zuzuhören. Trotz meines Berufs, fällt es mir leider gerade ausgerechnet bei meiner Frau schwer ihr genau zuzuhören und vor allen Dingen auch alles zu behalten.
Ich kann gar nicht sagen, wie oft wir uns schon deswegen gestritten haben. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass
das letzte Mal gar nicht so lange her ist und ich auch die Schuld auf mich nehmen muss. Ich hätte halt einfach nicht den Geburtstag ihrer Mutter vergessen dürfen. Kann sein, dass sie mir gerade aus Trotz nicht gesagt hat, dass sie die Schichten getauscht hat. Ich glaube da ist mal wieder ein Blumenstrauß, ein leckeres Essen und eine dicke Entschuldigung fällig.
In der Küche hole ich eine Dose Katzenfutter aus dem Schrank und vom Geräusch angelockt, schleicht unser Katerchen um meine Füße. Ich tätschele ihm den Rücken und fange mir auch gleich einen Hieb von seiner Pfote ein.
Sein Nackenfell stellt sich auf und er faucht mich an. „Na, das macht man doch nicht.“ Ich werfe ihm einen bösen Blick zu und schmiere mir Brötchen für die Arbeit, als mein Handy klingelt. Ich melde mich mit einem kurzen „Ja?“„Morgen, Tom. Weibliche Leiche im Stadtwald von einem Spaziergänger gefunden.“ Ohne lange nachzudenken kommt auch schon meine kurze Antwort: „Bin unterwegs.“
Ohne mich noch einmal umzusehen schnappe ich mir meine Tasche und verlasse das Haus. Vor der Tür steige ich in meinen Wagen und brause los. Solche Anrufe sind schon fast nichts
Neues mehr für mich, einen erfahrenen Polizisten der Mordkommission. Allerdings finde ich es immer wieder erstaunlich, dass diejenigen, die die Leichen finden, immer Jogger, Spaziergänger mit ihren Hunden oder Liebespaare auf der Suche nach einem Abenteuer sind.
Ich meine, ich kann mir hundert Dinge am frühen Morgen vorstellen, die ich lieber machen würde, als durch den dunklen Wald zu streifen.
Da der Stadtpark keine 10 Fahrminuten von unserem Haus entfernt ist, bin ich auch innerhalb kürzester Zeit da. Auch zu Fuß wäre ich schnell da gewesen,
aber man weiß ja nie, wohin es einen nach so einem Fund noch verschlägt. Am Waldrand angekommen erblicke ich auch schon die anderen Mitglieder meines Teams. Auch die Streifenpolizisten sind noch da. Frei nach dem Motto, wer´s findet darf´s behalten.
Es ist immer wieder eine Tortur die übereifrigen Beamten wieder auf die Straße zu schicken und uns Profis ihre Arbeit machen zu lassen. Eines muss man ihnen allerdings lassen: Tatorte absperren können sie.
Ich bücke mich unter der Absperrung hindurch und lasse mich von meinen Kollegen instruieren. „Wer war zuerst am
Fundort?“ „Ich“. Einer von diesen jungen Streifenpolizisten, die gerade die Akademie verlassen haben, tritt auf mich zu und streckt mir seine Hand entgegen. Ich schüttele sie kurz und möchte nur noch den Moment des ersten Blicks auf die Leiche hinter mich bringen. Denn auch so viele Jahre und auch die Leichen die ich schon gesehen habe, machen den Anblick eines neuen Opfers nicht leichter.
Es ist auch nicht nur der Anblick der Leiche an sich, was mich schaudern lässt, sondern das Gesamtbild.
Die Angehörigen müssen in der Leichenhalle ja immer „nur“ den
gewaschenen Leichnam identifizieren, aber wir sehen den Ort des Geschehens, die Kampfspuren, den Dreck und das Blut. Wir sehen die Brutalität und den Einschnitt ins Idyll. Denn jeder Tatort, der durch die Tat „entweiht“ wird, stört den Einklang der Natur. Die Harmonie des Universums.
„Die Leiche ist kein schöner Anblick, kann ich Ihnen sagen. Dass es sich bei der Toten um eine Frau handelt, konnte nur anhand ihrer Kleidung bestimmt werden. Das Gesicht ist total zerfetzt und der Körper weist erhebliche Abwehrverletzungen auf. Überall Krallenspuren. Es sieht aus, als ob ein
wildes Tier über sie hergefallen ist. Leider konnten wir bislang noch keine Tasche oder einen Ausweis finden, um das Opfer zu identifizieren. Ihre Angehörigen zu informieren könnte ein ganzes Stück Arbeit werden.“ „Junger Mann“, erwidere ich. „Dies ist nicht mein erster Fall in diese Richtung. Glauben Sie mir, ich habe schon Dinge gesehen, die Sie sich in Ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können und jetzt treten Sie bitte mal bei Seite.“
Er wirft mir einen bösen Seitenblick zu, den ich gekonnt ignoriere. Sowas kennt man schon zu genüge. Ich gehe an ihm vorbei und knie mich neben den
Leichensack. Der Gerichtsmediziner zieht den Reißverschluss ein Stück weit auf und ich kann die Kleidung der Frau erkennen. Sie trägt die Kleidung einer Krankenschwester.
Als der Leichensack ganz geöffnet ist, trifft mich ein Schlag. Ich brauche das Gesicht des Opfers nicht zu erkennen um zu wissen, wer die Tote ist. Dort, in diesem schwarzen, grässlichen Sack, kalt, entstellt und einsam, liegt meine Frau. Tot. Aus dem Leben gerissen. Um ihren Hals trägt sie die Kette die ich ihr zum letzten Jahrestag geschenkt habe.
Meine Bewegungen sind wie erstarrt.
Aus weiter Ferne dringen Stimmen an mein Ohr. Meinen Geist erreichen sie allerdings nicht. Meine Gedanken kreisen um die Frage, warum sie mitten in der Nacht im Wald unterwegs war. Warum hatte sie das Auto zu Hause gelassen und gibt es in diesem Wald überhaupt Tiere, die zu so einer Tat fähig wären? Klar gibt es im angrenzenden Wald auch den einen oder anderen Wolf, aber einen davon zu Gesicht zu bekommen ist schon ein Kunststück. Die Menschen aus der Stadt haben von fern mal einen gesehen, aber sie sind so scheu, dass man sich schon auf die Lauer legen muss um Glück zu haben. Von Tollwutfällen ist mir auch nichts bekannt. Vielleicht hätte
ich meinen Job besser machen müssen, vielleicht hätte ich mich mehr erkundigen müssen, als wir her gezogen sind. Aber jetzt ist alles egal. Das Einzige, was mir jemals wirklich etwas bedeutet hat, wurde mir genommen. Ich weiss nicht wie ich das verarbeiten und wieder zur Normalität finden soll.
Ich stehe einfach nur da, blicke auf die Frau zu meinen Füßen. Zu meiner Frau. Sie sieht kleiner aus. So zerbrechlich, trotz des ganzen Blutes das an ihrer Haut klebt. Ihr Gesicht ist kaum noch zu erkennen. Ihre Augen sind zugeschwollen. Ihre Kleidung ist an vielen Stellen aufgerissen. Ihr rechtes
Bein ist gebrochen.
Ich spüre etwas Schweres auf meiner Schulter, kann aber den Blick nicht vom Leichensack wenden. So starre ich minutenlang vor mich hin, bis mein Blick ins Leere geht. Ich kann nicht sagen, ob mir schwarz vor Augen geworden ist oder ob einer meiner Kollegen den Leichensack geschlossen hat. Wobei mir selbst mit meinem verklärten Hirn Letzteres wahrscheinlicher vorkommt.
„Wir brauchen nicht mehr nach der Identität des Opfers suchen. Ich weiß, wer sie ist“. Meine Stimme hört sich fremd an und ich habe nicht das Gefühl
zu sprechen. Die Worte verlassen meinen Mund, aber so wirklich wahrnehmen kann ich das nicht. Meine Stimme ist nicht mehr als ein Krächzen und meine Atmung ist viel zu schnell. Meine Kollegen schauen mich ungläubig an, scheinen dann aber eins und eins zusammen zu zählen.
Nach und nach höre ich geschocktes Einatmen und das ein oder andere geflüsterte „Es ist seine Frau“.
Mittlerweile rattert in meinem Kopf nur noch ein Gedanke: Ich werde dieses Tier finden, jagen, erledigen und als Trophäe über die Couch hängen. Und ich werde keine Gnade zeigen.
„Irgendwelche Spuren?“ Meine Kollegen schauen mich verwirrt an und auch ich staune über die plötzliche Kraft in meiner Stimme. Alles kommt mir schwammig vor, wie in einem Traum . Aber ich weiß, dass wenn ich dieses Tier jagen will, ich alle meine Sinne beisammen haben muss. Mein Fokus liegt jetzt allein auf Finden und Erlegen. Zu meinem Glück erkennen auch meine Kollegen, dass mich mein Jagdinstinkt gepackt hat und Nichts und Niemand mich von meinem Vorhaben abbringen kann. Es würde auch keiner meiner Kollegen einen Gedanken daran verschwenden mich von dem Fall abzuziehen, denn sie wissen: wenn mich einmal das Jagdfieber
gepackt hat, steht man mir lieber nicht im Weg, wenn man weiß was für einen gut ist.
Nachdem die Spuren am Tatort aufgenommen sind und das Opfer ins Leichenschauhaus gebracht wurde, sitze ich in meinem Büro und warte auf den Obduktionsbericht.
Ich habe meine Gefühle inzwischen so weit unter Kontrolle, dass ich die Sache weitestgehend nüchtern und professionell betrachten kann. Jedenfalls so lange, bis ich mit meinen Dämonen alleine bin. Aber ich werde versuchen, es so lange wie möglich vor mich her zu schieben. Ich habe etwas Wichtigeres zu tun und
muss meinen Kollegen ein Anführer sein. Sie verlassen sich auf mich und meinen Instinkt. Denn ich weiß genau, dass wenn ich jetzt den Kopf verliere, der Tod meiner Frau nicht gerächt werden kann.
Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie nämlich hinter mir stehen und mir gehörig in den Arsch treten, wenn sie das Gefühl hätte, ich würde den Kopf in den Sand stecken wollen.
Zwei Stunden später habe ich den Bericht auf meinem Tisch. Tod durch hohen Blutverlust aufgrund zahlreicher Kratz- und Bisswunden. Abwehrverletzungen an Armen und
Beinen. Das Gebiss passt zu dem eines Wolfes, ist jedoch größer als der gemeine Wolf in der Regel wird.
Ich schicke ein paar Streifenpolizisten los. Wir haben absolute Kooperation ausgemacht und ich bin ganz froh darüber. Zwar ist unser Park nicht all zu groß, aber um den angrenzenden Wald durchkämmen zu können, brauch es schon mehr als fünf Leute. Man sollte doch meinen, dass, wenn so ein „Monster“ von Wolf gesehen worden wäre, es sich schon in der Stadt herumgesprochen hätte.
Die Spuren die im Wald gefunden
wurden, helfen uns leider auch nicht viel weiter. Es finden sich Spuren meiner Frau, die quer durch den halben Wald gehen. Es sieht so aus, als wollte sie nur einen kurzen Spaziergang durch den Wald machen, als dieses Tier sie vom Weg abgetrieben und in den Wald gejagt hat. An einem Baum haben wir Blutspuren gefunden, konnten aber keine Übereinstimmung finden. Es hat sich zu sehr mit der Rinde verbunden, so dass eine klare Identifizierung nicht möglich ist.
Die Pathologen meinen, etwas Fremdartiges sei im Blut, sie können aber nicht ausmachen, ob es eine Spore vom Baum ist oder ob mit dem Blut des
Tieres an sich etwas nicht stimmt. Vielleicht doch ein neuer Tollwuterreger. Etwas weiter hat man auch noch Fußspuren von nackten Menschenfüßen gefunden, die aber ziemlich verwischt waren, als ob jemand Schwierigkeiten zu Laufen hatte und sich eher durch den Wald geschliffen hat.
Ich kenne zwar genug Leute, die Barfuß durch den Wald laufen, immerhin ist es ein schöner Park und Wald und gerade im Sommer lädt der weiche Moosboden dazu ein, aber jetzt ist es doch ein bisschen kalt denke ich. Immerhin ist es gerade mal April.
Nachdem ich alles soweit durchgesehen und koordiniert habe, ziehe ich mich in die Weiten des World Wide Web zurück und recherchiere etwas über Wölfe und ihre Angewohnheiten.
Drei Stunden später klopft es an meine Tür. Ich schrecke hoch. Mein Kopf lag auf der Tastatur, nachdem ich über etlichen Artikeln über das Wesen der Wölfe weggeknickt bin. Leider ergab die Suche nichts Neues.
Wölfe sind im gemeinen eher scheu und greifen keine Menschen an. Sie verstecken sich lieber. Sind nicht so aggressiv, dass sie von alleine den Konflikt suchen und treten immer im
Rudel auf. Gerade bei der Jagd. Aber die Gebissspuren stammen alle von ein und demselben Tier.
Leider haben meine Kollegen auch keine guten Neuigkeiten. Die haben den ganzen Wald abgesucht. Ein Rudel Wölfe haben sie auch gefunden, allerdings handelte es sich um einen ausgewachsenen Alphawolf, zwei Weibchen und vier bis fünf Junge. Keines der Tiere wirke aggressiv. Sie versteckten sich eher in einer kleinen Höhle und selbst als die Polizisten anfingen die Tiere einzufangen wurden sie zwar angeknurrt, jedoch richtig attackiert oder verletzt wurde keiner.
Nachdem Abdrücke der Gebisse genommen wurden und kein Abdruck ansatzweise gepasst hat, wurden die Tiere auch wieder freigelassen.
Es ist zum Verrücktwerden. Es scheint dieses Tier überhaupt nicht zu geben.
Ich sitze hier jetzt schon seit Stunden und langsam muss ich mal nach Hause. Ich darf gar nicht daran denken, in das verlassene Haus zurückzukehren aber ich muss mich um unseren Kater kümmern.
Nein meinen Kater. Uns gibt es nicht mehr. Ich muss ein Schluchzen unterdrücken. Ich muss stark sein. Noch bis zu Hause, dann ihre Eltern anrufen
und dann kann ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen.
Zuhause angekommen wähle ich zuerst die Nummer meiner Schwiegereltern aber es nimmt niemand ab. Ich atme schwer aus und stelle fest, dass ich während des Freizeichentons die Luft angehalten hatte. Ich bekomme anscheinend noch eine Gnadenfrist.
Kaum sitze ich auf der Couch als der ganze Schrecken auch schon über mich hereinbricht. Meine Frau ist weg. Einfach fort. Und ich konnte mich nicht mal richtig bei ihr verabschieden.
Im Gegenteil: die Dinge, die ich im Eifer
des Streits an den Kopf geworfen habe, waren alles andere als nett. Wenn ich wenigstens die Gewissheit hätte, dass sie trotz allem wusste, dass ich sie liebe und ich ihren Tod rächen werde, würde ich mir weniger Schuldgefühle mache. Aber das ist leider nicht der Fall. Sie muss gedacht haben, dass ich sie hasse. Immerhin habe ich sie die letzten Tage mehr ignoriert als mit ihr gesprochen.
Ich hänge die halbe Nacht diesen Gedanken nach. Doch die Erschöpfung übermannt mich und ich trete in das Albtraumland ein.
Ich sehe meine Frau, wie sie durch den
Wald läuft. Der Mondschein beleuchtet ihre weiße Haut und sie scheint von innen heraus zu leuchten. Sie lächelt mich an, aber etwas stimmt nicht mit ihren Augen. Sie wirken leblos, kalt. Sie scheint auch gar nicht mich anzusehen, sondern eher an mir vorbei. Ich blicke mich um. Hinter mir steht ein großes, wolfsähnliches Wesen mit roten Augen.
Es knurrt und springt. Ich ducke mich, drehe mich zu meiner Frau und will sie warnen. Meine Frau reagiert nicht auf mich. Das Wesen springt einfach durch mich hindurch. Ich kann es nicht packen. Meine Frau reißt die Augen auf, dreht sich um und rennt. Ich laufe hinterher. Ich spüre Nässe an meinen
Füßen. Ich blicke herab und überall ist Blut. Der ganze Waldboden ist voll davon. Ich laufe weiter hinter ihr her. Es fängt an zu regnen. Mir ist kalt aber ich laufe immer weiter, aber meine Frau und ihr Verfolger entfernen sich immer mehr von mir.
Egal wie schnell ich laufe, ich komme einfach nicht näher heran. Plötzlich fällt meine Frau in eine Grube. Das Tier setzt ihr nach und attackiert sie. Ich muss zuschauen, wie es sie zerreißt. Sie schreit, sie wehrt sich. Ich kann mich nicht rühren.
Die Morgendämmerung kommt und das Tier lässt von ihr ab. Es weicht von ihr zurück. Quält sich in den Schatten.
Etwas verändert sich, ich kann von meinem Standpunkt aus nicht sehen, was da passiert, aber etwas kommt mir bekannt vor. Ich habe das Gefühl so etwas schon einmal gesehen zu haben. Ich schaue zu meiner Frau. Sie blickt mich an. Durch zugeschwollene Augen, scheint sie mir direkt in die Seele blicken zu können. Ich höre ihre Stimme mehr im Kopf, als dass ich sie höre: „Liebling ist schon ok, ich liebe dich, aber du musst jetzt aufwachen. Ich habe dich erkannt, aber bitte lebe weiter“.
Als ich die Augen aufschlage, brauche ich ein paar Minuten um mich zu orientieren. Ich bin nicht auf unserer
Couch. Ich bin nicht mal in unserem Haus. Ich liege an einem Baum gelehnt mitten im Wald. Ich bin klatschnass und habe Schürfwunden an den Beinen. Meine Füße sind nackt und dreckig. Ich blicke hinter mich, schaue auf meine Fußspuren und erstarre. Aus meiner Kehle dringt ein unmenschliches Heulen und ich sacke auf die Knie.
>