Ein kleiner Schubs von hinten und ich musste ein paar Schritte nach vorn gehen, um nicht zu stolpern. Mittlerweile wandte ich mich der Frau zu, die mir die Waffe an den Kopf gehalten hatte.
„Sie?“ fragte ich verwundert.
Ich war baff, weil ich noch vor wenigen Stunden mit ihr im Revier saß. Vor uns stand Emma Klingsley, die Anwältin, die von Dexter geschickt wurde. Ich wusste, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Allein die Tatsache, dass sie in dem Raum plötzlich so nervös wirkte und meine Frage nicht beantworten konnte, hinterließen bei mir Zweifel. Dexter schien sie zu bedrohen. Aber aus welchem
Grund?
Emmas Augen waren rot, vermutlich hatte sie geweint.
„Was machst du denn hier?“ fragte Nathan. Seine Stimme klang besorgt.
„Komm keinen Schritt näher, Nathan!“
„Du kennst sie?“ flüsterte ich ihm zu und natürlich verstand Emma jedes Wort klar und deutlich.
„Natürlich kennt er mich! Immerhin arbeitet er mit meiner Schwester zusammen. Oder sollte ich lieber sagen, dass das der Vergangenheit angehört?“
Man sah ihr an, dass sie sich zusammen reißen wollte, aber die ersten Tränen kamen schon. Schnell wischte sie mit der Hand über ihre Wangen und atmete tief
durch. Im ersten Augenblick dachte ich wirklich, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte, aber ich täuschte mich.
„Wenn du sie nicht allein mit diesem Typen gelassen hättest, wäre das überhaupt nicht passiert!“ schrie sie Nathan an, die Waffe immer noch auf uns gerichtet.
„Was? Aber...“
Zum ersten Mal erlebte ich Nathan sprachlos. Ich stellte mir allerdings auch die Frage, wie sie darauf kam. War sie vielleicht anwesend gewesen?
„Ich war dort! Ich hab gesehen, wer sie erschossen hat! Und jetzt reicht es mir, okay? Das halt ich einfach nicht mehr
aus.“
„Sie reden von Sarah!?“ warf ich ein.
„Natürlich rede ich von Sarah. Sie hat mir eine Mail geschrieben. Wir wollten uns an der Schule treffen. Ich bin gerade ausgestiegen, als ich Dexter vor eurem Dienstwagen stehen sah. Ohne mit der Wimper zu zucken hat er Sarah erschossen. Und Leeman hat er aus dem Auto gezerrt. Es ging alles so schnell. Ich hab mich versteckt und kurze Zeit später kam Nathan auch schon. Ich war froh darüber, wirklich, denn ich hatte die Chance den beiden zu folgen. Ich hab mir gemerkt, in welche Richtung sie liefen. Aber erst nachdem ich gesehen habe, dass es für Sarah keine Chance mehr gab, bin
ich in meinen Wagen gestiegen und hab die Spur aufgenommen.“
Mein Hirn lief auch Hochtouren. Blitzschnell zählte ich eins und eins zusammen.
Ich dachte an Tyler, der nicht mehr in diesem Haus war und vermutlich an einen anderen Ort verschleppt wurde. Die Erkenntnis traf mich schmerzhaft, doch ich durfte einfach nicht aufgeben.
„Sie sind ihnen hierher gefolgt, nicht wahr?“
Emma nickte.
„Sie haben mich erwischt. Und mir gedroht, dass sie den Jungen umbringen, wenn ich nicht mindestens zwölf Stunden hier bleibe. Ich hatte meine Waffe dabei,
doch meine Angst hinderte mich, irgendetwas zu unternehmen. Und nicht nur das. Ich wollte nicht, dass diesem Jungen etwas passiert!“
Ich appellierte an Emmas Mitgefühl, von dem sie anscheinend mehr als genug besaß.
„Mrs. Kingsley“, begann ich. „Ich weiß, dass der Verlust ihrer Schwester schlimm ist. Und ich verstehe auch Ihre Wut, aber entweder helfen Sie uns, die beiden Männer zu finden oder Sie erschießen uns. Wir haben keine Zeit für weitere Diskussionen. Dieser Junge ist mein Sohn und wir hatten die Hoffnung, dass er hier ist.“
Ich studierte Emmas Gesicht und
tatsächlich wirkte sie überrascht. Ich spürte, dass sie nicht mehr sicher war, was sie als nächstes tun sollte.
„Ich habe Sie im Revier gefragt, ob Sie von Dexter bedroht werden. Sie haben nicht geantwortet. Also ist es so, nicht wahr?“
Das war der entscheidende Punkt. Emma nahm die Waffe runter.
„Er hat mich angerufen. Dexter. Er stellte mich vor die Wahl. Entweder ich erledige einen Auftrag für ihn oder er vergreift sich an meiner Familie. Ich hab mir nichts dabei gedacht. Bis ich erfahren habe, dass ich einen Detective aus der Untersuchungshaft holen sollte. Und das waren Sie. Ich hatte kein gutes Gefühl,
als ich das Revier betreten habe. Und nun bin ich hier. Mein Gefühl hat mich nicht im Stich gelassen und ich habe meine Schwester verloren.“
Sie machte eine kurze Pause, dann redete sie weiter.
„Nachdem ich erfuhr, dass Sie aus der Haft entlassen wurden, dachte ich eigentlich, dass alles vorbei wäre. Es ist nicht so einfach, zu wissen, wem man trauen kann.
Es tut mir nur unendlich leid, dass Ihr Sohn immer noch in Gefahr ist. Ich war nur so wütend und wollte Antworten.“
Emma einzuschätzen war am Anfang schwierig für mich, aber jetzt glaubte ich ihren Worten. Der Tod von Sarah
schockierte sie und ließ Handlungen zu, die sie sich vermutlich nie im Leben getraut hätte. Wut führte zu einer Unberechenbarkeit, die ich nur zu gut kannte.
Nathan, der neben mir stand, verhielt sich ruhig. Ich musste zugeben, dass diese Situation alles andere als angenehm war, vor allem für ihn. Emma bestärkte seine Schuldgefühle. Eigentlich müsste es an ihm abprallen, denn er hatte gelernt damit umzugehen.
Nathan tat das einzig richtige und nahm Emma einfach in den Arm. Er murmelte eine Entschuldigung und Emma legte ihren Kopf an seine Brust. Es war schwer, mit ansehen zu müssen, dass es Nathan
fast das Herz zerriss, aber er überspielte es ziemlich gut.
„Wir müssen die anderen informieren!“ erklärte er, während er mit der einen Hand schon das Handy zückte.
Ich nickte ihm zu und nahm ihm das Handy ab. Ich war froh, dass Emma nun auf unserer Seite war. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn blinde Wut die Überhand gewonnen hätte.
Ich wählte Jonathans Nummer und wartete auf das Freizeichen. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine männliche Stimme, die ich erst nicht einordnen konnte.
„Das hier entwickelt sich langsam zu einem Katz und Maus-Spiel,
Jennings!“
Ich erkannte Dexter und fluchte innerlich. Wie um alles in der Welt hatte er die Hütte im Wald gefunden. Die einzig logische Erklärung wäre Leeman gewesen.
„Hören wir auf mit diesen Förmlichkeiten. Ich rate dir, gut zu überlegen, was als nächstes passieren wird. Ich will meinen Jungen zurück, Dexter.“
Dexter lachte herzhaft.
„Ich mach dir einen Vorschlag. Wir sitzen hier in einer netten Runde. Dem Polizeipräsidenten geht es allerdings nicht allzu gut. Er macht den schönen weißen Teppich schmutzig.
Wie wäre es, wenn du uns Gesellschaft
leistest. Nur du allein.“
„Und dann? Wirst du mich erschießen? Hältst du mich wirklich für so dumm?“
„Es geht um Tyler. Du würdest alles für ihn tun.“
Langsam wurde Dexter wütend, was mir nicht gefiel.
„Ich gebe dir zwei Stunden. Hörst du, Jennings? Zwei Stunden und keine Minute länger.“
Er legte einfach auf.
„Das war meine Bruder!“ stellte Nathan fest.
„Ich muss zurück!“ sagte ich, aber Nathan war damit nicht einverstanden.
„Nein! Wir lassen uns etwas einfallen. Du gehst dort auf keinen Fall allein hin. Er
wird dich umbringen.“
Aber das war mir im Moment egal. Ich dachte nur noch an Tyler.
Ich wollte das Haus verlassen, aber Nathan stellte sich mir in den Weg.
„Du lässt mir keine Wahl, Mason!“
„Wie bitte?“
„Du verrennst dich da in etwas, glaub mir. Ich kann das einfach nicht zulassen. Und wieder bin ich derjenige, der die Wahrheit auf die Nase bindet, aber diesmal gibst du besser Lina die Schuld.“
„Nathan, red endlich Klartext.“ Er verwirrte mich.
„Mason, Tyler ist nicht dein Sohn!“